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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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die Mitglieder mit staunenswerter Beharrlichkeit losgelassen werden, eigentlich
wie ein Geächteter vorkommen. Es wird ihm aber die Thatsache zum Troste
gereichen, daß noch nie von einem Vereine Bahnbrechendes für den Kulturfort¬
schritt der Menschheit geleistet wordeu ist, daß im Gegenteil großartige Um¬
gestaltungen und Förderungen des geistigen Lebens immer nur von einzelnen
Geistern hervorgegangen sind; denn alle Genossenschaften und Vereine zu¬
sammengenommen hätten weder zur Entdeckung Amerikas geführt, noch die
Reformation hervorgerufen, weder das deutsche Reich gegründet, noch die ge¬
waltigen Erfindungen der neuern Zeit ersonnen. Die meisten unsrer Vereine
-- und das wird die Vereinslosen noch mehr beruhigen -- haben ihre Wurzel
in dein Ehrgeiz von zwei oder drei mittelmäßigen Geistern, die sich in dem
Verein eine Stätte zur Selbstberäucherung und eine Folie für ihre unbedeu¬
tenden Persönlichkeiten zu schaffen suchen. Daher kommt es denn auch, daß
scheinbar lebenskräftige Vereine sich plötzlich im Sande verlaufen, sobald die
eine Person, die den Vereinsspvrt zu schüren wußte, aus dem Kreise ver¬
schwindet. .

Wir rechnen den Verein für Massenverbreitung guter Schriften nicht zu
dieser Gruppe, und doch möchten wir bezweifeln, daß die Grundsätze und die
Mittel, mit denen der Verein zu wirken gedenkt, zu dem gesteckten Ziele, d. h.
zur Hebung der Volksbildung, zur Veredlung des Gemüts und zur Besserung
der Sitten führen werden. Es ist unzweifelhaft ein edles Bestreben, die gro߬
artigen Schätze unsrer Litteratur durch massenhafte Verbreitung zum Gemeingut
des ganzen Volkes zu macheu; es fragt sich uur, welchen Umfang man hierbei
dem Begriffe "Volk" giebt. Rechnet man dazu alles, was schreiben und lesen
kann, wo bleiben dann die Angehörigen des Arbeiterkreises, die das nicht
können? -- und deren giebt es trotz unsrer Volksschulen noch eine große Zahl.
Rechnet man dazu uur die halbwegs Gebildeten oder die Angehörigen des
Kleinbürger- und Bauernstandes, weshalb dann solchen mächtigen Hochdrnck-
avparat in Bewegung setzen, weshalb dann solche übertriebene Furcht vor den
verderblichen Einflüssen der Kolpvrtagelitteratnr? Der Schaden, den die Hinter¬
treppenromane verursachen, wird von ängstlichen Gemütern in der That dnrch
ein Vergrößerungsglas angesehen. Unsittliche lind staatsgefährliche Schriften
werden bekanntlich von der Polizei mit Beschlag belegt; in den übrigen Mach¬
werken triumphiren immer Tugend und Edelmut über das phantastisch und
abschreckend ausgemalte Laster. Wer lediglich durch das Lesen eines Kriminal-
rvmcms zum Verbrecher wird, und hie und da führt das wohl einer als Ent-
schuldigungsgrund für seine Schandthaten an, der befand sich schon ans ver¬
brecherischen Wegen und wäre auch durch keine Klassiker zu retten gewesen; die
Gesellschaft verliert also an ihm nichts. Viel gefährlicher als solche Hirn¬
gespinste sind die öffentlichen Gerichtssitzungen und die ausführlichen Zeitungs¬
artikel darüber; denn hieraus, nicht aus Romanen, sammeln die Verbrecher


die Mitglieder mit staunenswerter Beharrlichkeit losgelassen werden, eigentlich
wie ein Geächteter vorkommen. Es wird ihm aber die Thatsache zum Troste
gereichen, daß noch nie von einem Vereine Bahnbrechendes für den Kulturfort¬
schritt der Menschheit geleistet wordeu ist, daß im Gegenteil großartige Um¬
gestaltungen und Förderungen des geistigen Lebens immer nur von einzelnen
Geistern hervorgegangen sind; denn alle Genossenschaften und Vereine zu¬
sammengenommen hätten weder zur Entdeckung Amerikas geführt, noch die
Reformation hervorgerufen, weder das deutsche Reich gegründet, noch die ge¬
waltigen Erfindungen der neuern Zeit ersonnen. Die meisten unsrer Vereine
— und das wird die Vereinslosen noch mehr beruhigen — haben ihre Wurzel
in dein Ehrgeiz von zwei oder drei mittelmäßigen Geistern, die sich in dem
Verein eine Stätte zur Selbstberäucherung und eine Folie für ihre unbedeu¬
tenden Persönlichkeiten zu schaffen suchen. Daher kommt es denn auch, daß
scheinbar lebenskräftige Vereine sich plötzlich im Sande verlaufen, sobald die
eine Person, die den Vereinsspvrt zu schüren wußte, aus dem Kreise ver¬
schwindet. .

Wir rechnen den Verein für Massenverbreitung guter Schriften nicht zu
dieser Gruppe, und doch möchten wir bezweifeln, daß die Grundsätze und die
Mittel, mit denen der Verein zu wirken gedenkt, zu dem gesteckten Ziele, d. h.
zur Hebung der Volksbildung, zur Veredlung des Gemüts und zur Besserung
der Sitten führen werden. Es ist unzweifelhaft ein edles Bestreben, die gro߬
artigen Schätze unsrer Litteratur durch massenhafte Verbreitung zum Gemeingut
des ganzen Volkes zu macheu; es fragt sich uur, welchen Umfang man hierbei
dem Begriffe „Volk" giebt. Rechnet man dazu alles, was schreiben und lesen
kann, wo bleiben dann die Angehörigen des Arbeiterkreises, die das nicht
können? — und deren giebt es trotz unsrer Volksschulen noch eine große Zahl.
Rechnet man dazu uur die halbwegs Gebildeten oder die Angehörigen des
Kleinbürger- und Bauernstandes, weshalb dann solchen mächtigen Hochdrnck-
avparat in Bewegung setzen, weshalb dann solche übertriebene Furcht vor den
verderblichen Einflüssen der Kolpvrtagelitteratnr? Der Schaden, den die Hinter¬
treppenromane verursachen, wird von ängstlichen Gemütern in der That dnrch
ein Vergrößerungsglas angesehen. Unsittliche lind staatsgefährliche Schriften
werden bekanntlich von der Polizei mit Beschlag belegt; in den übrigen Mach¬
werken triumphiren immer Tugend und Edelmut über das phantastisch und
abschreckend ausgemalte Laster. Wer lediglich durch das Lesen eines Kriminal-
rvmcms zum Verbrecher wird, und hie und da führt das wohl einer als Ent-
schuldigungsgrund für seine Schandthaten an, der befand sich schon ans ver¬
brecherischen Wegen und wäre auch durch keine Klassiker zu retten gewesen; die
Gesellschaft verliert also an ihm nichts. Viel gefährlicher als solche Hirn¬
gespinste sind die öffentlichen Gerichtssitzungen und die ausführlichen Zeitungs¬
artikel darüber; denn hieraus, nicht aus Romanen, sammeln die Verbrecher


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/212>, abgerufen am 13.05.2024.