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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Bildungsschwindel und volksbegluckimg

ihre praktischen Kenntnisse und ihre besondre Berufsbildung. Ist es wirklich
notwendig, das Lesebedürfnis in unserm Volke, die verwirrende Beschäftigung
mit Büchern durch Vereine für billige Schriften noch künstlich anzustacheln?
Wir Deutschen geraten immer mehr in eine ode Stubenhockerei hinein, die alle
gesunden Lebensüußerungen, alle Freude an dem Aufenthalt in der Natur und
an der Entfaltung körperlicher Vorzüge allmählich ganz zu ersticken droht.
Man schaffe dem Volke erst die äußern Bedingungen eines Daseins, das dem
Stnndpnnkte unsrer Kultur entspricht, d. h. gesunde Wohnungen und Arbeits¬
stätten, festes Familienleben und kräftige Nahrung, bevor man Vereine bildet,
um die litterarischen Bedürfnisse des Volkes zu befriedigen; wer ein Schiff
baut, soll uicht mit den Wimpeln anfangen; die Rippen und das, was daranf-
sitzt, ist notwendiger. Lesen, lesen, lesen -- als ob der Mensch auf die Erde
gesetzt sei, um sich eine papierne Welt zu bauen, als ob man kein andres Elixir
wüßte, als die Druckerschwärze, und keinen andern Freibrief auf das himmlische
und das irdische Glück, als das Buch und die Zeitung. Je mehr gelesen wird,
desto weniger wird gedacht; je mehr sich das Volk mit fremden Gedanken be¬
schäftigt, desto mehr verliert es die eignen. Die Lesewut raubt unserm Volke
den gesunden Menschenverstand und macht es zu unzufriedenen Träumern, zu
unpraktischen Nörglern, zu stumpfsinnigen Wiederkäuern. Man sollte diesen
Hang eher unterdrücken, als künstlich großziehen.

Die Kolportagelitteratur aus unsern Arbeiterkreisen beseitigen und dafür
die Werke eines Heinrich von Kleist, Zschokke, Hauff, Auerbach, Freytag u. f. w.
dem Proletariat in die Hände spielen, wie das Heinrich Fränkel in seiner
Broschüre "Ein neuer Weg zur geistigen und sittlichen Hebung des Volkes"
vorschlägt, würde ja wohl einer Zurückdämmung der Lesewut gleichkommen,
denn was dem Gebildeten in der Litteratur Honigbrot ist, das bleibt sür den
Mann aus dem Volke ungenießbarer Sauerteig; aber auf eine Einschränkung
des Lesebedürfnisfes geht der Verein gar nicht aus, er will dies nur in ein
klassisches Fahrwasser leiten und vergißt dabei, daß unsre hervorragenden Geister
gar nicht für die große Masse des Volkes gedacht und geschrieben haben. Es
werden immer nur einige Auserwählte sein, die ihnen auf die Höhen des
geistigen Lebens folgen können, und das ist gut. Je höher die große Masse
der unter lebenden Seetiere nach oben getrieben wird, desto unbehaglicher wirds
ihnen, bis der Gegendruck der Umgebung nicht mehr ausreicht, und die armen
Wesen platzen. Auch das Volk gerät außer Rand und Band, wenn man es
mit aller Gewalt in eine Sphäre hochtreiben will, wo es thatsächlich nicht
mehr atmen kann. Das Volk hat nun einmal, wie die Kinder, kein Verständnis
für eine edle Form, eine klassische Sprache, eine gedankentiefe Darstellung; wer
es nicht durch den abenteuerlichen Stoff, durch die Fülle der Begebenheiten,
durch den Zauber der Personen packen kann, der packt es überhaupt nicht.
Es wird daher nie und nimmer seine Lieblingsrvmane von der edeln Gräfin,


Bildungsschwindel und volksbegluckimg

ihre praktischen Kenntnisse und ihre besondre Berufsbildung. Ist es wirklich
notwendig, das Lesebedürfnis in unserm Volke, die verwirrende Beschäftigung
mit Büchern durch Vereine für billige Schriften noch künstlich anzustacheln?
Wir Deutschen geraten immer mehr in eine ode Stubenhockerei hinein, die alle
gesunden Lebensüußerungen, alle Freude an dem Aufenthalt in der Natur und
an der Entfaltung körperlicher Vorzüge allmählich ganz zu ersticken droht.
Man schaffe dem Volke erst die äußern Bedingungen eines Daseins, das dem
Stnndpnnkte unsrer Kultur entspricht, d. h. gesunde Wohnungen und Arbeits¬
stätten, festes Familienleben und kräftige Nahrung, bevor man Vereine bildet,
um die litterarischen Bedürfnisse des Volkes zu befriedigen; wer ein Schiff
baut, soll uicht mit den Wimpeln anfangen; die Rippen und das, was daranf-
sitzt, ist notwendiger. Lesen, lesen, lesen — als ob der Mensch auf die Erde
gesetzt sei, um sich eine papierne Welt zu bauen, als ob man kein andres Elixir
wüßte, als die Druckerschwärze, und keinen andern Freibrief auf das himmlische
und das irdische Glück, als das Buch und die Zeitung. Je mehr gelesen wird,
desto weniger wird gedacht; je mehr sich das Volk mit fremden Gedanken be¬
schäftigt, desto mehr verliert es die eignen. Die Lesewut raubt unserm Volke
den gesunden Menschenverstand und macht es zu unzufriedenen Träumern, zu
unpraktischen Nörglern, zu stumpfsinnigen Wiederkäuern. Man sollte diesen
Hang eher unterdrücken, als künstlich großziehen.

Die Kolportagelitteratur aus unsern Arbeiterkreisen beseitigen und dafür
die Werke eines Heinrich von Kleist, Zschokke, Hauff, Auerbach, Freytag u. f. w.
dem Proletariat in die Hände spielen, wie das Heinrich Fränkel in seiner
Broschüre „Ein neuer Weg zur geistigen und sittlichen Hebung des Volkes"
vorschlägt, würde ja wohl einer Zurückdämmung der Lesewut gleichkommen,
denn was dem Gebildeten in der Litteratur Honigbrot ist, das bleibt sür den
Mann aus dem Volke ungenießbarer Sauerteig; aber auf eine Einschränkung
des Lesebedürfnisfes geht der Verein gar nicht aus, er will dies nur in ein
klassisches Fahrwasser leiten und vergißt dabei, daß unsre hervorragenden Geister
gar nicht für die große Masse des Volkes gedacht und geschrieben haben. Es
werden immer nur einige Auserwählte sein, die ihnen auf die Höhen des
geistigen Lebens folgen können, und das ist gut. Je höher die große Masse
der unter lebenden Seetiere nach oben getrieben wird, desto unbehaglicher wirds
ihnen, bis der Gegendruck der Umgebung nicht mehr ausreicht, und die armen
Wesen platzen. Auch das Volk gerät außer Rand und Band, wenn man es
mit aller Gewalt in eine Sphäre hochtreiben will, wo es thatsächlich nicht
mehr atmen kann. Das Volk hat nun einmal, wie die Kinder, kein Verständnis
für eine edle Form, eine klassische Sprache, eine gedankentiefe Darstellung; wer
es nicht durch den abenteuerlichen Stoff, durch die Fülle der Begebenheiten,
durch den Zauber der Personen packen kann, der packt es überhaupt nicht.
Es wird daher nie und nimmer seine Lieblingsrvmane von der edeln Gräfin,


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[0213] Bildungsschwindel und volksbegluckimg ihre praktischen Kenntnisse und ihre besondre Berufsbildung. Ist es wirklich notwendig, das Lesebedürfnis in unserm Volke, die verwirrende Beschäftigung mit Büchern durch Vereine für billige Schriften noch künstlich anzustacheln? Wir Deutschen geraten immer mehr in eine ode Stubenhockerei hinein, die alle gesunden Lebensüußerungen, alle Freude an dem Aufenthalt in der Natur und an der Entfaltung körperlicher Vorzüge allmählich ganz zu ersticken droht. Man schaffe dem Volke erst die äußern Bedingungen eines Daseins, das dem Stnndpnnkte unsrer Kultur entspricht, d. h. gesunde Wohnungen und Arbeits¬ stätten, festes Familienleben und kräftige Nahrung, bevor man Vereine bildet, um die litterarischen Bedürfnisse des Volkes zu befriedigen; wer ein Schiff baut, soll uicht mit den Wimpeln anfangen; die Rippen und das, was daranf- sitzt, ist notwendiger. Lesen, lesen, lesen — als ob der Mensch auf die Erde gesetzt sei, um sich eine papierne Welt zu bauen, als ob man kein andres Elixir wüßte, als die Druckerschwärze, und keinen andern Freibrief auf das himmlische und das irdische Glück, als das Buch und die Zeitung. Je mehr gelesen wird, desto weniger wird gedacht; je mehr sich das Volk mit fremden Gedanken be¬ schäftigt, desto mehr verliert es die eignen. Die Lesewut raubt unserm Volke den gesunden Menschenverstand und macht es zu unzufriedenen Träumern, zu unpraktischen Nörglern, zu stumpfsinnigen Wiederkäuern. Man sollte diesen Hang eher unterdrücken, als künstlich großziehen. Die Kolportagelitteratur aus unsern Arbeiterkreisen beseitigen und dafür die Werke eines Heinrich von Kleist, Zschokke, Hauff, Auerbach, Freytag u. f. w. dem Proletariat in die Hände spielen, wie das Heinrich Fränkel in seiner Broschüre „Ein neuer Weg zur geistigen und sittlichen Hebung des Volkes" vorschlägt, würde ja wohl einer Zurückdämmung der Lesewut gleichkommen, denn was dem Gebildeten in der Litteratur Honigbrot ist, das bleibt sür den Mann aus dem Volke ungenießbarer Sauerteig; aber auf eine Einschränkung des Lesebedürfnisfes geht der Verein gar nicht aus, er will dies nur in ein klassisches Fahrwasser leiten und vergißt dabei, daß unsre hervorragenden Geister gar nicht für die große Masse des Volkes gedacht und geschrieben haben. Es werden immer nur einige Auserwählte sein, die ihnen auf die Höhen des geistigen Lebens folgen können, und das ist gut. Je höher die große Masse der unter lebenden Seetiere nach oben getrieben wird, desto unbehaglicher wirds ihnen, bis der Gegendruck der Umgebung nicht mehr ausreicht, und die armen Wesen platzen. Auch das Volk gerät außer Rand und Band, wenn man es mit aller Gewalt in eine Sphäre hochtreiben will, wo es thatsächlich nicht mehr atmen kann. Das Volk hat nun einmal, wie die Kinder, kein Verständnis für eine edle Form, eine klassische Sprache, eine gedankentiefe Darstellung; wer es nicht durch den abenteuerlichen Stoff, durch die Fülle der Begebenheiten, durch den Zauber der Personen packen kann, der packt es überhaupt nicht. Es wird daher nie und nimmer seine Lieblingsrvmane von der edeln Gräfin,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/213>, abgerufen am 06.06.2024.