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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Das Heidentum in der römischen Kirche

Ruf, die sich zum Glauben an den Mediumismus" bekennen. Daraus folgt
allerdings nicht, daß solche Wundergeschichten wahr sind, wohl aber, daß ihre
Auffassung in der protestantischen Gelehrtenwelt einen gründliche,! Umschwung
erfahren hat, dem Trete um des wissenschaftlichen Wertes seiner Arbeit willen
hätte Beachtung scheuten sollen.

Wir heben noch einen dritten Fall irriger Ableitung hervor. Trete be¬
spricht die künstlerische Darstellung der Engel, und bemerkt ganz richtig, daß
die gesetzten, wohlanständig bekleideten und in reiferem Alter stehenden Engel
der ältern christlichen Zeit seit der Blüte der Renaissance von einem losen
Volke nackter Bürschlein verdrängt worden seien. Er findet diese besonders in
süditalischen Kirchen häufige Erscheinung rätselhaft, und weiß keine andre Er¬
klärung dafür, als daß die Renaissance den Hofstaat der Aphrodite, die Amo-
rinen und Amoretten, wiederbelebt habe. Da sind wohl anch die Putten in
den Vignetten und Randverzierungen der Grenzboten rätselhaft, und nur durch
die Wiederbelebung des Aphrvditekultus in Klein-Paris zu erklären; denn was
hätte diese Zeitschrift für ernste Männer mit kleinen Knaben zu schaffe"? Wir
haben es auch hier mir mit einem allgemein menschlichen Bedürfnis, nicht mit
der römisch-griechischen Mythologie zu thun. Kleine nackte Kinder sind an¬
mutige und drollige Wesen, die jeder unverkünstelte Mensch mit Vergnügen
anschaut, und darum werden Putten als gefälliger Schmuck verwendet, wo
immer die Umstände es gestatten. Nur dort fehlt diese Art von Verzierung,
wo das religiöse Vorurteil oder die Volkssitte das Anschalten des nackten
Menschenleibes verbietet, oder wo die technische Fähigkeit sehlt. Beides war
bei den Orientalen und bei den Christen des frühern Mittelalters der Fall.
Nachdem aber die Renaissance diese beiden Hindernisse beseitigt hatte, trat
natürlicherweise dieses von den griechischen und römischen Künstlern mit Vor¬
liebe verwendete Ornament wieder in seine Rechte ein. Der religiöse Glaube
kommt dabei gar nicht ins Spiel; jene Maler, die die Wände der Hänser vo"
Pompeji mit reizenden Flügelknaben geschmückt haben, glaubten so wenig an
die leibhaftige Aphrodite, wie ihr Zeitgenosse, der Dichterphilvsvph Lukrez, de^
der Liebesgöttin sein Lehrgedicht widmete, und wie die Verleger der heutige"
Zeitschriften, auf deren Titelblättern es von Amoretten wimmelt. Wir haben
es hier also gar nicht mit einer mythologischen, sondern nur mit einer Schick-
lichkeitsfrage zu thun. Christen strengerer Richtung sind der Ansicht, daß
Purzelböckeschießende nackte Knaben weder in rmtnrg. noch als Wandschmuck ins
Gotteshaus gehören. Und selbst die römische Kirche gebot Halt, als die Sache
zu arg wurde und die Künstler nicht mehr bloß nackte Knaben, sondern auch
nackte Männer über den Altar malten. Paul IV. und seiue Nachfolger ließen
deu Figuren in Michel Angelvs jüngsten Gericht Schwimmhosen anmalen,
freilich erst, nachdem die Kurie durch Luther gezwungen worden war, wieder
etwas mehr auf Frömmigkeit und Anstand Bedacht zu nehme". Wenn die


Das Heidentum in der römischen Kirche

Ruf, die sich zum Glauben an den Mediumismus" bekennen. Daraus folgt
allerdings nicht, daß solche Wundergeschichten wahr sind, wohl aber, daß ihre
Auffassung in der protestantischen Gelehrtenwelt einen gründliche,! Umschwung
erfahren hat, dem Trete um des wissenschaftlichen Wertes seiner Arbeit willen
hätte Beachtung scheuten sollen.

Wir heben noch einen dritten Fall irriger Ableitung hervor. Trete be¬
spricht die künstlerische Darstellung der Engel, und bemerkt ganz richtig, daß
die gesetzten, wohlanständig bekleideten und in reiferem Alter stehenden Engel
der ältern christlichen Zeit seit der Blüte der Renaissance von einem losen
Volke nackter Bürschlein verdrängt worden seien. Er findet diese besonders in
süditalischen Kirchen häufige Erscheinung rätselhaft, und weiß keine andre Er¬
klärung dafür, als daß die Renaissance den Hofstaat der Aphrodite, die Amo-
rinen und Amoretten, wiederbelebt habe. Da sind wohl anch die Putten in
den Vignetten und Randverzierungen der Grenzboten rätselhaft, und nur durch
die Wiederbelebung des Aphrvditekultus in Klein-Paris zu erklären; denn was
hätte diese Zeitschrift für ernste Männer mit kleinen Knaben zu schaffe»? Wir
haben es auch hier mir mit einem allgemein menschlichen Bedürfnis, nicht mit
der römisch-griechischen Mythologie zu thun. Kleine nackte Kinder sind an¬
mutige und drollige Wesen, die jeder unverkünstelte Mensch mit Vergnügen
anschaut, und darum werden Putten als gefälliger Schmuck verwendet, wo
immer die Umstände es gestatten. Nur dort fehlt diese Art von Verzierung,
wo das religiöse Vorurteil oder die Volkssitte das Anschalten des nackten
Menschenleibes verbietet, oder wo die technische Fähigkeit sehlt. Beides war
bei den Orientalen und bei den Christen des frühern Mittelalters der Fall.
Nachdem aber die Renaissance diese beiden Hindernisse beseitigt hatte, trat
natürlicherweise dieses von den griechischen und römischen Künstlern mit Vor¬
liebe verwendete Ornament wieder in seine Rechte ein. Der religiöse Glaube
kommt dabei gar nicht ins Spiel; jene Maler, die die Wände der Hänser vo»
Pompeji mit reizenden Flügelknaben geschmückt haben, glaubten so wenig an
die leibhaftige Aphrodite, wie ihr Zeitgenosse, der Dichterphilvsvph Lukrez, de^
der Liebesgöttin sein Lehrgedicht widmete, und wie die Verleger der heutige»
Zeitschriften, auf deren Titelblättern es von Amoretten wimmelt. Wir haben
es hier also gar nicht mit einer mythologischen, sondern nur mit einer Schick-
lichkeitsfrage zu thun. Christen strengerer Richtung sind der Ansicht, daß
Purzelböckeschießende nackte Knaben weder in rmtnrg. noch als Wandschmuck ins
Gotteshaus gehören. Und selbst die römische Kirche gebot Halt, als die Sache
zu arg wurde und die Künstler nicht mehr bloß nackte Knaben, sondern auch
nackte Männer über den Altar malten. Paul IV. und seiue Nachfolger ließen
deu Figuren in Michel Angelvs jüngsten Gericht Schwimmhosen anmalen,
freilich erst, nachdem die Kurie durch Luther gezwungen worden war, wieder
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[0223] Das Heidentum in der römischen Kirche Ruf, die sich zum Glauben an den Mediumismus" bekennen. Daraus folgt allerdings nicht, daß solche Wundergeschichten wahr sind, wohl aber, daß ihre Auffassung in der protestantischen Gelehrtenwelt einen gründliche,! Umschwung erfahren hat, dem Trete um des wissenschaftlichen Wertes seiner Arbeit willen hätte Beachtung scheuten sollen. Wir heben noch einen dritten Fall irriger Ableitung hervor. Trete be¬ spricht die künstlerische Darstellung der Engel, und bemerkt ganz richtig, daß die gesetzten, wohlanständig bekleideten und in reiferem Alter stehenden Engel der ältern christlichen Zeit seit der Blüte der Renaissance von einem losen Volke nackter Bürschlein verdrängt worden seien. Er findet diese besonders in süditalischen Kirchen häufige Erscheinung rätselhaft, und weiß keine andre Er¬ klärung dafür, als daß die Renaissance den Hofstaat der Aphrodite, die Amo- rinen und Amoretten, wiederbelebt habe. Da sind wohl anch die Putten in den Vignetten und Randverzierungen der Grenzboten rätselhaft, und nur durch die Wiederbelebung des Aphrvditekultus in Klein-Paris zu erklären; denn was hätte diese Zeitschrift für ernste Männer mit kleinen Knaben zu schaffe»? Wir haben es auch hier mir mit einem allgemein menschlichen Bedürfnis, nicht mit der römisch-griechischen Mythologie zu thun. Kleine nackte Kinder sind an¬ mutige und drollige Wesen, die jeder unverkünstelte Mensch mit Vergnügen anschaut, und darum werden Putten als gefälliger Schmuck verwendet, wo immer die Umstände es gestatten. Nur dort fehlt diese Art von Verzierung, wo das religiöse Vorurteil oder die Volkssitte das Anschalten des nackten Menschenleibes verbietet, oder wo die technische Fähigkeit sehlt. Beides war bei den Orientalen und bei den Christen des frühern Mittelalters der Fall. Nachdem aber die Renaissance diese beiden Hindernisse beseitigt hatte, trat natürlicherweise dieses von den griechischen und römischen Künstlern mit Vor¬ liebe verwendete Ornament wieder in seine Rechte ein. Der religiöse Glaube kommt dabei gar nicht ins Spiel; jene Maler, die die Wände der Hänser vo» Pompeji mit reizenden Flügelknaben geschmückt haben, glaubten so wenig an die leibhaftige Aphrodite, wie ihr Zeitgenosse, der Dichterphilvsvph Lukrez, de^ der Liebesgöttin sein Lehrgedicht widmete, und wie die Verleger der heutige» Zeitschriften, auf deren Titelblättern es von Amoretten wimmelt. Wir haben es hier also gar nicht mit einer mythologischen, sondern nur mit einer Schick- lichkeitsfrage zu thun. Christen strengerer Richtung sind der Ansicht, daß Purzelböckeschießende nackte Knaben weder in rmtnrg. noch als Wandschmuck ins Gotteshaus gehören. Und selbst die römische Kirche gebot Halt, als die Sache zu arg wurde und die Künstler nicht mehr bloß nackte Knaben, sondern auch nackte Männer über den Altar malten. Paul IV. und seiue Nachfolger ließen deu Figuren in Michel Angelvs jüngsten Gericht Schwimmhosen anmalen, freilich erst, nachdem die Kurie durch Luther gezwungen worden war, wieder etwas mehr auf Frömmigkeit und Anstand Bedacht zu nehme». Wenn die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/223>, abgerufen am 28.05.2024.