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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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kunstgeschichtliche, sondern sozialwissenschastlichc Aufschlüsse, die den Wert des
unten genannten Buches") ausmachen, über das wir im folgenden berichten
wollen. Daß man im Mittelalter anders baute als heutzutage, daß man
sich Zeit nahm und den Bau liegen ließ, so oft das Geld ausging, wissen
wir zwar im allgemeinen längst. Aber noch nie ist eine solche Vaugeschichte
so im einzelnen dargestellt worden, wie es Beissel in seinem Buche gethan hat;
die Urkunden, Baurechnungen und sonstigen Aufzeichnungen des in dieser Be¬
ziehung einzig dastehenden Stiftsarchivs lieferten ihm das Material dazu. Im
Schlußknpitel des ersten Teiles faßt er den Verlauf folgendermaßen zusammen:
"Die alte Kirche genügte der Stiftsgeistlichkeit nicht mehr, und man entschloß
sich zum Neubau. Für diesen Neubau wurde ein allgemeiner Plan entworfen,
wodurch festgestellt wurde, wie lang nud breit die Kirche werden, wie viel
Schiffe sie erhalte" und wie hoch diese Schiffe sein sollten. Dann begann
man, ein neues Chor um die alte Apsis zu bauen, 1263 bis 1284. Erst
nachdem das Hauptchor mit zwei Seitenchören fertig war, brach mau die
romanische Apsis ab. Der Gottesdienst wurde durch deu Bau uicht unter¬
brochen, man bedürfte keiner Notkirche und keines neuen Banplatzes. Nun
wartete man, um die schulde" zu bezahlen und neue Bauinittel anzusammeln.
Als sie vorrätig waren, baute man bis 1372 an der östlichen Hälfte der
äußern Seitenschiffe >die Kirche ist fünfschiffig und richtig orientirt, d. h. von
Westen nach Osten gerichtet^. Der Teil der alten Kirche, in dem die Chor¬
stühle des Kapitels standen und in dem der Gottesdienst weiter gehalten wurde,
während rechts und links die jneuen^ Seitenschiffe emporstiegen, war noch uicht
berührt. Erst 1396 bis 1437 wurde er niedergelegt und an seiner Stelle das
Mittelschiff bis zum Lettner ausgebaut. So war 1437 die erste Hälfte der Arbeit
vollendet. Ostlich von: Lettner stand die neue gothische Hälfte der Kirche, westlich
das alte romanische Schiff. Von 1481 bis 1519 wurde auch das Schiff im
gothischen Stil umgebaut und zwar in drei Perioden, sodaß 1481 bis 1492
die nördlichen Seitenschiffe westlich vom Lettner, 1489 bis 1506 die südlichen
Seitenschiffe und dann bis 1519 das Mittelschiff zwischen ihnen errichtet
wurde." So wurde der ursprüngliche Plan zwar durch dritthalb Jahrhunderte
festgehalten und schließlich durchgeführt, aber jedes Geschlecht und jeder einzelne
Meister schuf frei nach seinem Geschmack in dem gegebenen Rahmen. Beissel
knüpft daran eine Kritik unsrer heutigen Baugewohnheiten. "Warum sollte
man heut ein ähnliches System nicht mehr befolgen köunen? Baumeister, die
möglichst viel Geld verdienen wollen, werden immer ganze Pläne liefern und
möglichst rasch bauen wollen. Viele werden erklären, die Gewölbe, besonders



*) Die Ballführung des Mittelalters. Studie über die Kirche des heiligen
Viktor zu Xanten. Von Stephan Beissel, 8. 1. -- Bau. -- Geldwert und Arbeits¬
lohn. -- Ausstattung. -- Mit Abbildungen. Zweite, vermehrte und verbesserte Ausgabe.
Freiburg i. Br., Herder, 183".

kunstgeschichtliche, sondern sozialwissenschastlichc Aufschlüsse, die den Wert des
unten genannten Buches") ausmachen, über das wir im folgenden berichten
wollen. Daß man im Mittelalter anders baute als heutzutage, daß man
sich Zeit nahm und den Bau liegen ließ, so oft das Geld ausging, wissen
wir zwar im allgemeinen längst. Aber noch nie ist eine solche Vaugeschichte
so im einzelnen dargestellt worden, wie es Beissel in seinem Buche gethan hat;
die Urkunden, Baurechnungen und sonstigen Aufzeichnungen des in dieser Be¬
ziehung einzig dastehenden Stiftsarchivs lieferten ihm das Material dazu. Im
Schlußknpitel des ersten Teiles faßt er den Verlauf folgendermaßen zusammen:
„Die alte Kirche genügte der Stiftsgeistlichkeit nicht mehr, und man entschloß
sich zum Neubau. Für diesen Neubau wurde ein allgemeiner Plan entworfen,
wodurch festgestellt wurde, wie lang nud breit die Kirche werden, wie viel
Schiffe sie erhalte» und wie hoch diese Schiffe sein sollten. Dann begann
man, ein neues Chor um die alte Apsis zu bauen, 1263 bis 1284. Erst
nachdem das Hauptchor mit zwei Seitenchören fertig war, brach mau die
romanische Apsis ab. Der Gottesdienst wurde durch deu Bau uicht unter¬
brochen, man bedürfte keiner Notkirche und keines neuen Banplatzes. Nun
wartete man, um die schulde» zu bezahlen und neue Bauinittel anzusammeln.
Als sie vorrätig waren, baute man bis 1372 an der östlichen Hälfte der
äußern Seitenschiffe >die Kirche ist fünfschiffig und richtig orientirt, d. h. von
Westen nach Osten gerichtet^. Der Teil der alten Kirche, in dem die Chor¬
stühle des Kapitels standen und in dem der Gottesdienst weiter gehalten wurde,
während rechts und links die jneuen^ Seitenschiffe emporstiegen, war noch uicht
berührt. Erst 1396 bis 1437 wurde er niedergelegt und an seiner Stelle das
Mittelschiff bis zum Lettner ausgebaut. So war 1437 die erste Hälfte der Arbeit
vollendet. Ostlich von: Lettner stand die neue gothische Hälfte der Kirche, westlich
das alte romanische Schiff. Von 1481 bis 1519 wurde auch das Schiff im
gothischen Stil umgebaut und zwar in drei Perioden, sodaß 1481 bis 1492
die nördlichen Seitenschiffe westlich vom Lettner, 1489 bis 1506 die südlichen
Seitenschiffe und dann bis 1519 das Mittelschiff zwischen ihnen errichtet
wurde." So wurde der ursprüngliche Plan zwar durch dritthalb Jahrhunderte
festgehalten und schließlich durchgeführt, aber jedes Geschlecht und jeder einzelne
Meister schuf frei nach seinem Geschmack in dem gegebenen Rahmen. Beissel
knüpft daran eine Kritik unsrer heutigen Baugewohnheiten. „Warum sollte
man heut ein ähnliches System nicht mehr befolgen köunen? Baumeister, die
möglichst viel Geld verdienen wollen, werden immer ganze Pläne liefern und
möglichst rasch bauen wollen. Viele werden erklären, die Gewölbe, besonders



*) Die Ballführung des Mittelalters. Studie über die Kirche des heiligen
Viktor zu Xanten. Von Stephan Beissel, 8. 1. — Bau. — Geldwert und Arbeits¬
lohn. — Ausstattung. — Mit Abbildungen. Zweite, vermehrte und verbesserte Ausgabe.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/28>, abgerufen am 12.05.2024.