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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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K^tans

Zu früher Morgenstunde erst brach ich auf. Ich fühlte mich in hohem
Grade von Blaus frischer und lebhafter Natur angezogen, gleich wie mich sein
Äußeres vom ersten Augenblick an gefangen genommen hatte; er war kräftig
gebant und doch geschmeidig, ich konnte ihn fast um feinen vollen blonden
Bart beneiden, und in seine braunen Augen trat, wenn er sprach, ein Glanz,
der ihn geradezu schön machte.

Es ist offenbar, daß wir zwei uns östers sehen müssen! sagte er beim
Abschied, und ich ging mit dem Gefühl nach Hause, als hätte ich meinen neuen
Freund schon lauge gelaunt.

In den nächsten Jahren kamen wir nun auch fast täglich zusammen. Die
Bekanntschaft wurde auf beiden Seiten zur wirklichen, innigen Freundschaft,
der ich eine Reihe der vergnügtesten Stunden meines Lebens verdanke, und
eins kann ich mit Sicherheit sagen, daß ich nie eine frischere, ursprünglichere
Natur gekannt habe als die Otus Blaus. Es war rein unmöglich, sich in
seiner Gesellschaft zu langweilen. Immer war er auf dem Damm, immer
bereit, im Ernst oder im Scherz irgend ein beliebiges Thema zu behandeln,
und ein ganz besondres Vergnügen hatte er daran, seine manchmal etwas
paradoxen Meinungen bis zum äußersten zu verteidigen. Die Natur liebte er,
die Natur verstand er im Großen und im Kleinen; er konnte über eine Fern¬
sicht von einer Anhöhe in Entzücken geraten oder über einen ungewöhnlichen
Sonnenuntergang, er konnte mit der gleichen Begeisterung eine seltene Pflanze
wie eine Schneeflocke unter der Lupe betrachten. Deshalb hatte er sich auch
nicht wenig Einsicht in das Gebiet der Naturkunde verschafft, aber nur immer
teilweise und dilettantenhaft; bald mikrostopirte, bald skelettirte er, dann stellte
er Untersuchungen über den Wuchs der Schling- und Kletterpflanzen an, und
versuchte, wenn anch ohne Erfolg, den Hopfen und die (iodav-i 8<;MiäöUL zu
zwingen, sich in der entgegengesetzten Richtung zu schlingen als in der, die die
Natur ihnen angewiesen hat, und dann konnte er wieder ganz in Betrachtungen
über den Flug der Vögel und die Wanderung der Fische aufgehen. Zum
Gelehrten war er nicht geschaffen, das merkte ich wohl, aber ich habe nie
jemand getroffen, der Naturgeschichte so gut "erzählen" konnte wie er; seine
eigne, im Augenblick ungelenke Begeisterung für den Stoff teilte sich unwill¬
kürlich allen mit, zu denen er sprach, und er verstand eine eigentümliche, oft
halb symbolische Romantik in das einfachste Naturphänomen zu legen. Auf
der andern Seite hatte er so gut wie kein Interesse sür Kunst und Poesie,
und es gehörte zu seinen Lieblingsbehauptungen, übrigens war es wohl auch
seine wirkliche Meinung, daß, da die Kunst doch nie so etwas Schönes hervor¬
bringen könne wie die Natur, sie auch höchstens ein Surrogat für die Armen
sein könne, die keine Gelegenheit hätten, im Freien zu verkehren, gleich wie die
Poesie nach seiner Auffassung nur für den Interesse haben könne, der nie im
wirklichen Leben gelebt habe; denn dieses hat doch wahrhaftig viel mehr Poesie


Grenzboten til 1890 36
K^tans

Zu früher Morgenstunde erst brach ich auf. Ich fühlte mich in hohem
Grade von Blaus frischer und lebhafter Natur angezogen, gleich wie mich sein
Äußeres vom ersten Augenblick an gefangen genommen hatte; er war kräftig
gebant und doch geschmeidig, ich konnte ihn fast um feinen vollen blonden
Bart beneiden, und in seine braunen Augen trat, wenn er sprach, ein Glanz,
der ihn geradezu schön machte.

Es ist offenbar, daß wir zwei uns östers sehen müssen! sagte er beim
Abschied, und ich ging mit dem Gefühl nach Hause, als hätte ich meinen neuen
Freund schon lauge gelaunt.

In den nächsten Jahren kamen wir nun auch fast täglich zusammen. Die
Bekanntschaft wurde auf beiden Seiten zur wirklichen, innigen Freundschaft,
der ich eine Reihe der vergnügtesten Stunden meines Lebens verdanke, und
eins kann ich mit Sicherheit sagen, daß ich nie eine frischere, ursprünglichere
Natur gekannt habe als die Otus Blaus. Es war rein unmöglich, sich in
seiner Gesellschaft zu langweilen. Immer war er auf dem Damm, immer
bereit, im Ernst oder im Scherz irgend ein beliebiges Thema zu behandeln,
und ein ganz besondres Vergnügen hatte er daran, seine manchmal etwas
paradoxen Meinungen bis zum äußersten zu verteidigen. Die Natur liebte er,
die Natur verstand er im Großen und im Kleinen; er konnte über eine Fern¬
sicht von einer Anhöhe in Entzücken geraten oder über einen ungewöhnlichen
Sonnenuntergang, er konnte mit der gleichen Begeisterung eine seltene Pflanze
wie eine Schneeflocke unter der Lupe betrachten. Deshalb hatte er sich auch
nicht wenig Einsicht in das Gebiet der Naturkunde verschafft, aber nur immer
teilweise und dilettantenhaft; bald mikrostopirte, bald skelettirte er, dann stellte
er Untersuchungen über den Wuchs der Schling- und Kletterpflanzen an, und
versuchte, wenn anch ohne Erfolg, den Hopfen und die (iodav-i 8<;MiäöUL zu
zwingen, sich in der entgegengesetzten Richtung zu schlingen als in der, die die
Natur ihnen angewiesen hat, und dann konnte er wieder ganz in Betrachtungen
über den Flug der Vögel und die Wanderung der Fische aufgehen. Zum
Gelehrten war er nicht geschaffen, das merkte ich wohl, aber ich habe nie
jemand getroffen, der Naturgeschichte so gut „erzählen" konnte wie er; seine
eigne, im Augenblick ungelenke Begeisterung für den Stoff teilte sich unwill¬
kürlich allen mit, zu denen er sprach, und er verstand eine eigentümliche, oft
halb symbolische Romantik in das einfachste Naturphänomen zu legen. Auf
der andern Seite hatte er so gut wie kein Interesse sür Kunst und Poesie,
und es gehörte zu seinen Lieblingsbehauptungen, übrigens war es wohl auch
seine wirkliche Meinung, daß, da die Kunst doch nie so etwas Schönes hervor¬
bringen könne wie die Natur, sie auch höchstens ein Surrogat für die Armen
sein könne, die keine Gelegenheit hätten, im Freien zu verkehren, gleich wie die
Poesie nach seiner Auffassung nur für den Interesse haben könne, der nie im
wirklichen Leben gelebt habe; denn dieses hat doch wahrhaftig viel mehr Poesie


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[0289] K^tans Zu früher Morgenstunde erst brach ich auf. Ich fühlte mich in hohem Grade von Blaus frischer und lebhafter Natur angezogen, gleich wie mich sein Äußeres vom ersten Augenblick an gefangen genommen hatte; er war kräftig gebant und doch geschmeidig, ich konnte ihn fast um feinen vollen blonden Bart beneiden, und in seine braunen Augen trat, wenn er sprach, ein Glanz, der ihn geradezu schön machte. Es ist offenbar, daß wir zwei uns östers sehen müssen! sagte er beim Abschied, und ich ging mit dem Gefühl nach Hause, als hätte ich meinen neuen Freund schon lauge gelaunt. In den nächsten Jahren kamen wir nun auch fast täglich zusammen. Die Bekanntschaft wurde auf beiden Seiten zur wirklichen, innigen Freundschaft, der ich eine Reihe der vergnügtesten Stunden meines Lebens verdanke, und eins kann ich mit Sicherheit sagen, daß ich nie eine frischere, ursprünglichere Natur gekannt habe als die Otus Blaus. Es war rein unmöglich, sich in seiner Gesellschaft zu langweilen. Immer war er auf dem Damm, immer bereit, im Ernst oder im Scherz irgend ein beliebiges Thema zu behandeln, und ein ganz besondres Vergnügen hatte er daran, seine manchmal etwas paradoxen Meinungen bis zum äußersten zu verteidigen. Die Natur liebte er, die Natur verstand er im Großen und im Kleinen; er konnte über eine Fern¬ sicht von einer Anhöhe in Entzücken geraten oder über einen ungewöhnlichen Sonnenuntergang, er konnte mit der gleichen Begeisterung eine seltene Pflanze wie eine Schneeflocke unter der Lupe betrachten. Deshalb hatte er sich auch nicht wenig Einsicht in das Gebiet der Naturkunde verschafft, aber nur immer teilweise und dilettantenhaft; bald mikrostopirte, bald skelettirte er, dann stellte er Untersuchungen über den Wuchs der Schling- und Kletterpflanzen an, und versuchte, wenn anch ohne Erfolg, den Hopfen und die (iodav-i 8<;MiäöUL zu zwingen, sich in der entgegengesetzten Richtung zu schlingen als in der, die die Natur ihnen angewiesen hat, und dann konnte er wieder ganz in Betrachtungen über den Flug der Vögel und die Wanderung der Fische aufgehen. Zum Gelehrten war er nicht geschaffen, das merkte ich wohl, aber ich habe nie jemand getroffen, der Naturgeschichte so gut „erzählen" konnte wie er; seine eigne, im Augenblick ungelenke Begeisterung für den Stoff teilte sich unwill¬ kürlich allen mit, zu denen er sprach, und er verstand eine eigentümliche, oft halb symbolische Romantik in das einfachste Naturphänomen zu legen. Auf der andern Seite hatte er so gut wie kein Interesse sür Kunst und Poesie, und es gehörte zu seinen Lieblingsbehauptungen, übrigens war es wohl auch seine wirkliche Meinung, daß, da die Kunst doch nie so etwas Schönes hervor¬ bringen könne wie die Natur, sie auch höchstens ein Surrogat für die Armen sein könne, die keine Gelegenheit hätten, im Freien zu verkehren, gleich wie die Poesie nach seiner Auffassung nur für den Interesse haben könne, der nie im wirklichen Leben gelebt habe; denn dieses hat doch wahrhaftig viel mehr Poesie Grenzboten til 1890 36

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/289>, abgerufen am 16.06.2024.