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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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licher Vollständigkeit festzustellen, mir erst nach Erledigung dieser Aufgabe mit
der Erforschung der physikalischen Gesetze zu beginnen; man würde das vor¬
gesteckte Ziel doch in absehbarer Zeit nicht erreichen und inzwischen so und so
viele Güter materieller und geistiger Art, deren Erzeugung auf der Kenntnis
gewisser physikalischer Gesetze beruht, entbehren. Ein ebensolcher Unsinn wäre
es, wenn, die Mehrzahl der denkenden Kopfe sich mit der Litteratur des Alter¬
tums beschäftigen wollte, während infolge der Unkenntnis der Bedingungen,
auf deuen das Bestehe" eiuer geordneten Gesellschaft beruht, inzwischen un¬
vorhergesehen und uuabgewendet ein gesellschaftlicher Umsturz hereinbräche, der
die Gesellschaft in die Barbarei zurückwerfen konnte. Die Notwendigkeit, mit
beschränkten Zeiträumen zu rechnen, und die Interesse" des thätigen Lebens
gebieten also eine Sammlung der geistige" Kräfte nach gewisse" Hauptrichtungen
hin, die vorwiegende Bearbeitung solcher Gebiete, von deuen aus jeweilig eine
Förderung des gesamten Kulturfortschrittes zu erwarten ist. Nur in diesem
verallgemeinerten Sinne mochten wir jedoch dem Positivistischen Grundsatze zu¬
stimmen, daß Fortgang und Richtung der wissenschaftlichen Arbeit durch das "soziale
Bedürfnis" bestimmt werden sollen. Denn so unsinnig einerseits die Anschauung
ist, daß die Erweiterung des Wissens unter allen Umständen an und für sich
schon einen Wert habe, so unhaltbar würde doch anderseits anch die Forderung
sein, daß der Forscher stets die praktische Anwendbarkeit der von ihm zu er¬
langenden wissenschaftlichen Ergebnisse im Auge habe. Es ist eine bekannte
Thatsache aus der Geschichte der Wissenschaften, daß die Ergebnisse von Unter¬
suchungen, die zunächst nur ein müßiges Spiel des Geistes zu sein schienen,
spater von Bedeutung für die Gestaltung des menschliche" Lebens wurden.
Und entspricht schließlich nicht auch die Befriedigung des Wissenstriebes schon
einem gewissen "sozialen Bedürfnis"? Dieser Trieb ist zweifellos im Menschen
so gut Vorhemden wie alle andern, und es ist gar nicht abzuleugnen, daß die
Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens bei den Griechen lediglich durch
diesen Trieb veranlaßt wurde.") Allerdings macht der Wissenstrieb sich im
allgemeinen erst auf der Grundlage eines gesicherten und behaglichen äußern
Lebens geltend; aber die heutigen Kulturvölker sind doch gewiß nicht so von
der Not des Lebens bedrängt, daß sie an die Pflege des rein theoretischen
Interesses gar nicht denken könnten und dürften. Es mag zwar auf deu ersten
Blick als eine Ungerechtigkeit erscheinen, daß, während die Mehrzahl der
Menschen für die Befriedigung der Lebensbedürfnisse arbeitet und arbeiten muß,
eine geringe Minderheit mit Hilfe der andern in den Stand gesetzt ist, den
verfeinerten geistigen Interessen zu dienen, aber wird nicht auch jenen Anteil



*) Anderseits verdankten freilich nach der gewöhnlichen Annahme die geomeirischen und
astronomischen Forschungen der Babylvmer und Ägypter gewissen Bedürfnissen des praktischen
Lebens ihren Ursprung.

licher Vollständigkeit festzustellen, mir erst nach Erledigung dieser Aufgabe mit
der Erforschung der physikalischen Gesetze zu beginnen; man würde das vor¬
gesteckte Ziel doch in absehbarer Zeit nicht erreichen und inzwischen so und so
viele Güter materieller und geistiger Art, deren Erzeugung auf der Kenntnis
gewisser physikalischer Gesetze beruht, entbehren. Ein ebensolcher Unsinn wäre
es, wenn, die Mehrzahl der denkenden Kopfe sich mit der Litteratur des Alter¬
tums beschäftigen wollte, während infolge der Unkenntnis der Bedingungen,
auf deuen das Bestehe» eiuer geordneten Gesellschaft beruht, inzwischen un¬
vorhergesehen und uuabgewendet ein gesellschaftlicher Umsturz hereinbräche, der
die Gesellschaft in die Barbarei zurückwerfen konnte. Die Notwendigkeit, mit
beschränkten Zeiträumen zu rechnen, und die Interesse» des thätigen Lebens
gebieten also eine Sammlung der geistige» Kräfte nach gewisse» Hauptrichtungen
hin, die vorwiegende Bearbeitung solcher Gebiete, von deuen aus jeweilig eine
Förderung des gesamten Kulturfortschrittes zu erwarten ist. Nur in diesem
verallgemeinerten Sinne mochten wir jedoch dem Positivistischen Grundsatze zu¬
stimmen, daß Fortgang und Richtung der wissenschaftlichen Arbeit durch das „soziale
Bedürfnis" bestimmt werden sollen. Denn so unsinnig einerseits die Anschauung
ist, daß die Erweiterung des Wissens unter allen Umständen an und für sich
schon einen Wert habe, so unhaltbar würde doch anderseits anch die Forderung
sein, daß der Forscher stets die praktische Anwendbarkeit der von ihm zu er¬
langenden wissenschaftlichen Ergebnisse im Auge habe. Es ist eine bekannte
Thatsache aus der Geschichte der Wissenschaften, daß die Ergebnisse von Unter¬
suchungen, die zunächst nur ein müßiges Spiel des Geistes zu sein schienen,
spater von Bedeutung für die Gestaltung des menschliche» Lebens wurden.
Und entspricht schließlich nicht auch die Befriedigung des Wissenstriebes schon
einem gewissen „sozialen Bedürfnis"? Dieser Trieb ist zweifellos im Menschen
so gut Vorhemden wie alle andern, und es ist gar nicht abzuleugnen, daß die
Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens bei den Griechen lediglich durch
diesen Trieb veranlaßt wurde.") Allerdings macht der Wissenstrieb sich im
allgemeinen erst auf der Grundlage eines gesicherten und behaglichen äußern
Lebens geltend; aber die heutigen Kulturvölker sind doch gewiß nicht so von
der Not des Lebens bedrängt, daß sie an die Pflege des rein theoretischen
Interesses gar nicht denken könnten und dürften. Es mag zwar auf deu ersten
Blick als eine Ungerechtigkeit erscheinen, daß, während die Mehrzahl der
Menschen für die Befriedigung der Lebensbedürfnisse arbeitet und arbeiten muß,
eine geringe Minderheit mit Hilfe der andern in den Stand gesetzt ist, den
verfeinerten geistigen Interessen zu dienen, aber wird nicht auch jenen Anteil



*) Anderseits verdankten freilich nach der gewöhnlichen Annahme die geomeirischen und
astronomischen Forschungen der Babylvmer und Ägypter gewissen Bedürfnissen des praktischen
Lebens ihren Ursprung.
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[0310] licher Vollständigkeit festzustellen, mir erst nach Erledigung dieser Aufgabe mit der Erforschung der physikalischen Gesetze zu beginnen; man würde das vor¬ gesteckte Ziel doch in absehbarer Zeit nicht erreichen und inzwischen so und so viele Güter materieller und geistiger Art, deren Erzeugung auf der Kenntnis gewisser physikalischer Gesetze beruht, entbehren. Ein ebensolcher Unsinn wäre es, wenn, die Mehrzahl der denkenden Kopfe sich mit der Litteratur des Alter¬ tums beschäftigen wollte, während infolge der Unkenntnis der Bedingungen, auf deuen das Bestehe» eiuer geordneten Gesellschaft beruht, inzwischen un¬ vorhergesehen und uuabgewendet ein gesellschaftlicher Umsturz hereinbräche, der die Gesellschaft in die Barbarei zurückwerfen konnte. Die Notwendigkeit, mit beschränkten Zeiträumen zu rechnen, und die Interesse» des thätigen Lebens gebieten also eine Sammlung der geistige» Kräfte nach gewisse» Hauptrichtungen hin, die vorwiegende Bearbeitung solcher Gebiete, von deuen aus jeweilig eine Förderung des gesamten Kulturfortschrittes zu erwarten ist. Nur in diesem verallgemeinerten Sinne mochten wir jedoch dem Positivistischen Grundsatze zu¬ stimmen, daß Fortgang und Richtung der wissenschaftlichen Arbeit durch das „soziale Bedürfnis" bestimmt werden sollen. Denn so unsinnig einerseits die Anschauung ist, daß die Erweiterung des Wissens unter allen Umständen an und für sich schon einen Wert habe, so unhaltbar würde doch anderseits anch die Forderung sein, daß der Forscher stets die praktische Anwendbarkeit der von ihm zu er¬ langenden wissenschaftlichen Ergebnisse im Auge habe. Es ist eine bekannte Thatsache aus der Geschichte der Wissenschaften, daß die Ergebnisse von Unter¬ suchungen, die zunächst nur ein müßiges Spiel des Geistes zu sein schienen, spater von Bedeutung für die Gestaltung des menschliche» Lebens wurden. Und entspricht schließlich nicht auch die Befriedigung des Wissenstriebes schon einem gewissen „sozialen Bedürfnis"? Dieser Trieb ist zweifellos im Menschen so gut Vorhemden wie alle andern, und es ist gar nicht abzuleugnen, daß die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens bei den Griechen lediglich durch diesen Trieb veranlaßt wurde.") Allerdings macht der Wissenstrieb sich im allgemeinen erst auf der Grundlage eines gesicherten und behaglichen äußern Lebens geltend; aber die heutigen Kulturvölker sind doch gewiß nicht so von der Not des Lebens bedrängt, daß sie an die Pflege des rein theoretischen Interesses gar nicht denken könnten und dürften. Es mag zwar auf deu ersten Blick als eine Ungerechtigkeit erscheinen, daß, während die Mehrzahl der Menschen für die Befriedigung der Lebensbedürfnisse arbeitet und arbeiten muß, eine geringe Minderheit mit Hilfe der andern in den Stand gesetzt ist, den verfeinerten geistigen Interessen zu dienen, aber wird nicht auch jenen Anteil *) Anderseits verdankten freilich nach der gewöhnlichen Annahme die geomeirischen und astronomischen Forschungen der Babylvmer und Ägypter gewissen Bedürfnissen des praktischen Lebens ihren Ursprung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/310>, abgerufen am 28.05.2024.