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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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an den geistigen Genüssen der Wissenschaft und Kunst? Durch tausend Kanäle
fließt heutzutage Belehrung über die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung
den weitesten Kreisen zu und verschafft ihnen geistigen Genuß, der doch sicher
auch zur Erhöhung des Wohlbefindens der Menschheit beiträgt. Aber dessen¬
ungeachtet ist die Forderung wohlberechtigt, daß der Gelehrte die Wissen¬
schaft niemals als ein rings abgeschlossenes Reich für sich betrachte, daß er
vielmehr immer die Aufgabe im Auge behalte, die die Wissenschaft innerhalb
des ganzen Kreises menschlicher Thätigkeit zu erfüllen hat, daß er mit der
gesamten Kulturentwicklung in Zusammenhang und in bewußter Weise mit
zur Förderung derselbe" beitrage.

Das Kulturleben verschiedner Zeiten weist aber auch der wissenschaftliche
Arbeit verschiedne Ziele an. Wenn beispielsweise im Mittelalter die Bor¬
herrschaft des religiösen Geistes die vorwiegende Pflege theologischer Studien
als wohlberechtigt erscheinen läßt, so ist ebenso wenig zu verkeimen, daß im Kultur¬
leben der Gegenwart die Frage der Neugestaltung der Gesellschaft den Mittelpunkt
bildet, von dem aus es am mächtigsten bewegt wird; und auch die Wissenschaft
wird deshalb, wenn sie ihrer Bestimmung uicht untreu sein Null, für die
Gegenwart ihr Problem in erster Linie in dieser Richtung suchen. Und so
kann man denn allerdings mit Recht sagen, daß heutzutage mehr als je der
Mensch und im besondern der Mensch als gesellschaftliches Wesen den wichtig¬
sten Gegenstand der Forschung darstellt. Die Sozialwissenschaft hat natur¬
gemäß für die nächste Zukunft die Führung über alle andern zu übernehmen,
diese haben sich jener mehr oder weniger anzugliedern. Sie braucht nämlich
sehr viele andre zur Mithilfe; Anthropologie im weitesten Sinne, Psychologie
als Jndividual- und als Völkerpsychologie, Geschichte, Philosophie und viel¬
leicht anch die allgemeine Biologie haben ihr die Grundlagen zu schaffen,
während die abstrakten Wissenschaften der Mathematik, der Astronomie und
der Physik, wie es scheint, in keinem nähern Verhältnis zu ihr stehen.

Wenn deshalb das positiv istische Programm in der Aufforderung gipfelt,
auf die bezeichneten Gebiete die geistigen Arbeitskräfte zu sammeln, so hat
das einen guten Sinn und verdient volle Beachtung, und wenn es auch ver¬
kehrt wäre, die andern Forschungsgebiete währenddem brach liegen zu lassen,
so würde doch der Forscher seine Aufgabe nicht verstehen, der ohne Sinn für
die großen Fragen der Zeit unbekümmert um die andern ein kleines Feld
bearbeiten wollte, als ob er für sich allem in der Welt dawäre; jeder Einzelne
muß sich in bewußter und klarer Weise der Ordnung des Ganzen anschließen
und darin seineu Platz auszufüllen suchen.

Wie ist nun aber dieses planmäßige Zusammenarbeiten zu erreichen? Es
kann nur als eine merkwürdige Verirrung Comtes und seiner französischen
Anhänger bezeichnet werde", daß sie, ähnlich wie die Sozialisten auf wirtschaft¬
lichem Gebiete, auch im wissenschaftlichen eine Art Zwangsordnung der


an den geistigen Genüssen der Wissenschaft und Kunst? Durch tausend Kanäle
fließt heutzutage Belehrung über die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung
den weitesten Kreisen zu und verschafft ihnen geistigen Genuß, der doch sicher
auch zur Erhöhung des Wohlbefindens der Menschheit beiträgt. Aber dessen¬
ungeachtet ist die Forderung wohlberechtigt, daß der Gelehrte die Wissen¬
schaft niemals als ein rings abgeschlossenes Reich für sich betrachte, daß er
vielmehr immer die Aufgabe im Auge behalte, die die Wissenschaft innerhalb
des ganzen Kreises menschlicher Thätigkeit zu erfüllen hat, daß er mit der
gesamten Kulturentwicklung in Zusammenhang und in bewußter Weise mit
zur Förderung derselbe» beitrage.

Das Kulturleben verschiedner Zeiten weist aber auch der wissenschaftliche
Arbeit verschiedne Ziele an. Wenn beispielsweise im Mittelalter die Bor¬
herrschaft des religiösen Geistes die vorwiegende Pflege theologischer Studien
als wohlberechtigt erscheinen läßt, so ist ebenso wenig zu verkeimen, daß im Kultur¬
leben der Gegenwart die Frage der Neugestaltung der Gesellschaft den Mittelpunkt
bildet, von dem aus es am mächtigsten bewegt wird; und auch die Wissenschaft
wird deshalb, wenn sie ihrer Bestimmung uicht untreu sein Null, für die
Gegenwart ihr Problem in erster Linie in dieser Richtung suchen. Und so
kann man denn allerdings mit Recht sagen, daß heutzutage mehr als je der
Mensch und im besondern der Mensch als gesellschaftliches Wesen den wichtig¬
sten Gegenstand der Forschung darstellt. Die Sozialwissenschaft hat natur¬
gemäß für die nächste Zukunft die Führung über alle andern zu übernehmen,
diese haben sich jener mehr oder weniger anzugliedern. Sie braucht nämlich
sehr viele andre zur Mithilfe; Anthropologie im weitesten Sinne, Psychologie
als Jndividual- und als Völkerpsychologie, Geschichte, Philosophie und viel¬
leicht anch die allgemeine Biologie haben ihr die Grundlagen zu schaffen,
während die abstrakten Wissenschaften der Mathematik, der Astronomie und
der Physik, wie es scheint, in keinem nähern Verhältnis zu ihr stehen.

Wenn deshalb das positiv istische Programm in der Aufforderung gipfelt,
auf die bezeichneten Gebiete die geistigen Arbeitskräfte zu sammeln, so hat
das einen guten Sinn und verdient volle Beachtung, und wenn es auch ver¬
kehrt wäre, die andern Forschungsgebiete währenddem brach liegen zu lassen,
so würde doch der Forscher seine Aufgabe nicht verstehen, der ohne Sinn für
die großen Fragen der Zeit unbekümmert um die andern ein kleines Feld
bearbeiten wollte, als ob er für sich allem in der Welt dawäre; jeder Einzelne
muß sich in bewußter und klarer Weise der Ordnung des Ganzen anschließen
und darin seineu Platz auszufüllen suchen.

Wie ist nun aber dieses planmäßige Zusammenarbeiten zu erreichen? Es
kann nur als eine merkwürdige Verirrung Comtes und seiner französischen
Anhänger bezeichnet werde», daß sie, ähnlich wie die Sozialisten auf wirtschaft¬
lichem Gebiete, auch im wissenschaftlichen eine Art Zwangsordnung der


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[0311] an den geistigen Genüssen der Wissenschaft und Kunst? Durch tausend Kanäle fließt heutzutage Belehrung über die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung den weitesten Kreisen zu und verschafft ihnen geistigen Genuß, der doch sicher auch zur Erhöhung des Wohlbefindens der Menschheit beiträgt. Aber dessen¬ ungeachtet ist die Forderung wohlberechtigt, daß der Gelehrte die Wissen¬ schaft niemals als ein rings abgeschlossenes Reich für sich betrachte, daß er vielmehr immer die Aufgabe im Auge behalte, die die Wissenschaft innerhalb des ganzen Kreises menschlicher Thätigkeit zu erfüllen hat, daß er mit der gesamten Kulturentwicklung in Zusammenhang und in bewußter Weise mit zur Förderung derselbe» beitrage. Das Kulturleben verschiedner Zeiten weist aber auch der wissenschaftliche Arbeit verschiedne Ziele an. Wenn beispielsweise im Mittelalter die Bor¬ herrschaft des religiösen Geistes die vorwiegende Pflege theologischer Studien als wohlberechtigt erscheinen läßt, so ist ebenso wenig zu verkeimen, daß im Kultur¬ leben der Gegenwart die Frage der Neugestaltung der Gesellschaft den Mittelpunkt bildet, von dem aus es am mächtigsten bewegt wird; und auch die Wissenschaft wird deshalb, wenn sie ihrer Bestimmung uicht untreu sein Null, für die Gegenwart ihr Problem in erster Linie in dieser Richtung suchen. Und so kann man denn allerdings mit Recht sagen, daß heutzutage mehr als je der Mensch und im besondern der Mensch als gesellschaftliches Wesen den wichtig¬ sten Gegenstand der Forschung darstellt. Die Sozialwissenschaft hat natur¬ gemäß für die nächste Zukunft die Führung über alle andern zu übernehmen, diese haben sich jener mehr oder weniger anzugliedern. Sie braucht nämlich sehr viele andre zur Mithilfe; Anthropologie im weitesten Sinne, Psychologie als Jndividual- und als Völkerpsychologie, Geschichte, Philosophie und viel¬ leicht anch die allgemeine Biologie haben ihr die Grundlagen zu schaffen, während die abstrakten Wissenschaften der Mathematik, der Astronomie und der Physik, wie es scheint, in keinem nähern Verhältnis zu ihr stehen. Wenn deshalb das positiv istische Programm in der Aufforderung gipfelt, auf die bezeichneten Gebiete die geistigen Arbeitskräfte zu sammeln, so hat das einen guten Sinn und verdient volle Beachtung, und wenn es auch ver¬ kehrt wäre, die andern Forschungsgebiete währenddem brach liegen zu lassen, so würde doch der Forscher seine Aufgabe nicht verstehen, der ohne Sinn für die großen Fragen der Zeit unbekümmert um die andern ein kleines Feld bearbeiten wollte, als ob er für sich allem in der Welt dawäre; jeder Einzelne muß sich in bewußter und klarer Weise der Ordnung des Ganzen anschließen und darin seineu Platz auszufüllen suchen. Wie ist nun aber dieses planmäßige Zusammenarbeiten zu erreichen? Es kann nur als eine merkwürdige Verirrung Comtes und seiner französischen Anhänger bezeichnet werde», daß sie, ähnlich wie die Sozialisten auf wirtschaft¬ lichem Gebiete, auch im wissenschaftlichen eine Art Zwangsordnung der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/311>, abgerufen am 13.05.2024.