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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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zusammenhängt, in die Kreise der akademischen Jugend eingedrungen ist und dort
immer mehr um sich greift. Man konnte diese Behauptung nicht mit statistischen
Angaben unterstützen, und deshalb wurden die, die uns das Schreckgespenst des
Nihilismus an die Wände der akademischen Hörsäle malten, als absichtliche
Schwarzfürber mißachtet. Jetzt fangen jene Behauptungen an, sich in Zahlen
umzusetzen, und andre Erscheinungen kommen hinzu, nur die Thatsache weiter
zu erhärten, daß ein Teil der akademischen Jugend -- wir wollen hoffen, nur
ein sehr kleiner -- wirklich Bestrebungen huldigt, die mit denen der Sozial¬
demokratie eins sind. So hat kürzlich, um nur ein Beispiel anzuführen, ein
Student bei einer Preisbewerbung an der Berliner Universität, für die die
Untersuchung des Begriffs der Heiligkeit im Neuen Testament gefordert war,
eine Arbeit eingeliefert, in der das Thema nach dem Ausspruche der
Preisrichter "lediglich zur Verhöhnung der christlichen Religion" benutzt
worden war.

Es liegt uns fern, hier die Frage zu erörtern, inwieweit die zwölfjährige
Herrschaft des Sozialistengesetzes, indem sie die große Mehrheit der geistigen
Kräfte der Sozialdemokratie niederhielt, dazu beigetragen hat, diese Kräfte zu
stählen und zu stärken. Aber es sind, wie schon ans dem oben gesagten
hervorgeht, Anzeichen genug vorhanden, die uns darauf vorbereiten, daß die
sozinldemokratische Beredsamkeit, wenn sie nach dem 1. Oktober wieder ihre
Stimme in den Volksversammlungen in voller, nur durch das gemeine Gesetz
beschränkter Freiheit erheben darf, Leute ins Feld schicken wird, die mit ganz
andern Waffen kämpfen werden, als sie den Volksrednern aus der Zeit von
1875 bis 1878 zu Gebote standen. An die Stelle der Handwerker, die eine
Planlos zusammengeraffte, halbverdaute Bücherweisheit des Abends den "Ge¬
nossen" zum Besten gaben, werden Männer von mehr oder minder gründlicher
akademischer Bildung treten, die mit allen Künsten der Dialektik, mit allen
Schlichen der Sophistik vertraut sind, und wenn es auch nicht an litterarischen
Stegreifrittern von der traurigsten Gestalt fehlen wird, so wird in Zukunft
doch auch schwerlich eine so groteske Figur wie Johann Most möglich sein,
der im Jahre 1876 die konfusesten Reden gegen Mommsens römische Geschichte
hielt. Auf dem Gebiete der Litteratur und Kunst, das die Sozialdemokratie
jetzt auch in den Vereich ihrer Eroberungspolitik zu ziehen strebt -- die Sozial¬
demokraten alten Schlages, die aus der Zeit vor 1878, wollten von solchen
Sentimentalitäten nichts wissen --, hat ihnen die sogenannte naturalistische oder
realistische Bewegung vorgearbeitet, und es ist durchaus natürlich und folge¬
richtig, daß sich die naturalistischen Schriftsteller mit Wonne in die weit ge¬
öffneten Arme der Sozialdemokraten stürzen, da sie sich bis jetzt vergeblich nach
einem andern Obdach umgesehen haben. Dabei hat diese Verbrüderung jetzt
das gefährliche oder auch nur politisch bedenkliche Ansehen verloren, das sie
noch vor Jahresfrist gehabt hätte. Die Berufung auf die kaiserliche Sozial-


zusammenhängt, in die Kreise der akademischen Jugend eingedrungen ist und dort
immer mehr um sich greift. Man konnte diese Behauptung nicht mit statistischen
Angaben unterstützen, und deshalb wurden die, die uns das Schreckgespenst des
Nihilismus an die Wände der akademischen Hörsäle malten, als absichtliche
Schwarzfürber mißachtet. Jetzt fangen jene Behauptungen an, sich in Zahlen
umzusetzen, und andre Erscheinungen kommen hinzu, nur die Thatsache weiter
zu erhärten, daß ein Teil der akademischen Jugend — wir wollen hoffen, nur
ein sehr kleiner — wirklich Bestrebungen huldigt, die mit denen der Sozial¬
demokratie eins sind. So hat kürzlich, um nur ein Beispiel anzuführen, ein
Student bei einer Preisbewerbung an der Berliner Universität, für die die
Untersuchung des Begriffs der Heiligkeit im Neuen Testament gefordert war,
eine Arbeit eingeliefert, in der das Thema nach dem Ausspruche der
Preisrichter „lediglich zur Verhöhnung der christlichen Religion" benutzt
worden war.

Es liegt uns fern, hier die Frage zu erörtern, inwieweit die zwölfjährige
Herrschaft des Sozialistengesetzes, indem sie die große Mehrheit der geistigen
Kräfte der Sozialdemokratie niederhielt, dazu beigetragen hat, diese Kräfte zu
stählen und zu stärken. Aber es sind, wie schon ans dem oben gesagten
hervorgeht, Anzeichen genug vorhanden, die uns darauf vorbereiten, daß die
sozinldemokratische Beredsamkeit, wenn sie nach dem 1. Oktober wieder ihre
Stimme in den Volksversammlungen in voller, nur durch das gemeine Gesetz
beschränkter Freiheit erheben darf, Leute ins Feld schicken wird, die mit ganz
andern Waffen kämpfen werden, als sie den Volksrednern aus der Zeit von
1875 bis 1878 zu Gebote standen. An die Stelle der Handwerker, die eine
Planlos zusammengeraffte, halbverdaute Bücherweisheit des Abends den „Ge¬
nossen" zum Besten gaben, werden Männer von mehr oder minder gründlicher
akademischer Bildung treten, die mit allen Künsten der Dialektik, mit allen
Schlichen der Sophistik vertraut sind, und wenn es auch nicht an litterarischen
Stegreifrittern von der traurigsten Gestalt fehlen wird, so wird in Zukunft
doch auch schwerlich eine so groteske Figur wie Johann Most möglich sein,
der im Jahre 1876 die konfusesten Reden gegen Mommsens römische Geschichte
hielt. Auf dem Gebiete der Litteratur und Kunst, das die Sozialdemokratie
jetzt auch in den Vereich ihrer Eroberungspolitik zu ziehen strebt — die Sozial¬
demokraten alten Schlages, die aus der Zeit vor 1878, wollten von solchen
Sentimentalitäten nichts wissen —, hat ihnen die sogenannte naturalistische oder
realistische Bewegung vorgearbeitet, und es ist durchaus natürlich und folge¬
richtig, daß sich die naturalistischen Schriftsteller mit Wonne in die weit ge¬
öffneten Arme der Sozialdemokraten stürzen, da sie sich bis jetzt vergeblich nach
einem andern Obdach umgesehen haben. Dabei hat diese Verbrüderung jetzt
das gefährliche oder auch nur politisch bedenkliche Ansehen verloren, das sie
noch vor Jahresfrist gehabt hätte. Die Berufung auf die kaiserliche Sozial-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/333>, abgerufen am 14.05.2024.