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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Hausindustrielle Zustände

noch 20 bis 25 Prozent bei Eltern und Verwandten, die übrigen 75 bis 80 Prozent
haben in den Vorstädten mit zwei bis vier Genossinnen eine Schlafstelle gegen
eine monatliche Miete von 2,50 bis 6 Mark inne. Nicht überall sind polizei¬
liche Vorschriften imstande, die Unsitte des Zusammenwohnens von Schlaf¬
stellenbesitzern verschiednen Geschlechts zu verhindern.

Eine dankbare Aufgabe wäre für die Vertrauensmänner des Vereins für
Sozialpolitik die Untersuchung der Dichtigkeit, sowie der Luftranmverhältnisse
der Wohnungen gewesen, denn dieser Teil der Arbeitsstatistik der Hausindustrie
ist uoch durchaus ungenügend. Von dem Hauptsitze der schlesischen Hausarbeit
ist als sicher anzunehmen, daß der Raum von 15 bis 20 Kubikmeter Luft,
den man herkömmlich als das erforderliche geringste Maß für die einzelne
Person ansieht, fast durchweg nicht erreicht wird, was umso bedenklicher ist,
als die Wohnungen im größtem Teile des Jahres aus Furcht, dem Raum
Wärme zu entziehen, nicht gelüftet werden.

In einem höchst bedenklichen Licht erscheint von neuem die übel berüchtigte
Kinderarbeit in der Hausindustrie. In der Glatzer Schnchtelfabrikativu müssen
Kinder von fünf Jahren früh um vier Uhr aus dem Bett, um vor der Schule
uoch ihr Schachtelpensum abzuarbeiten, nach der Schule, die ihnen als Er¬
holungspause erscheinen mag, dauert die Arbeit bis acht oder neun Uhr abends.
Über das Filetunhen der Kinder in Friedland, Zülz und Umgegend sagt eine
Zuschrift an den Oberschlesischen Anzeiger aus dem Jahre 1888, deren Wahr¬
heit eine amtlich angeordnete Untersuchung bestätigte: "Dem Filetnähen
huldigen uicht selten alle Glieder einer Familie, selbst Kinder von fünf bis
sechs Jahren. Die Arbeit beginnt früh bei Licht und endet nachts nach zwölf
Uhr. Kurzsichtigkeit, Brustleiden, Verkrümmung des Rückgrats sind die trau¬
rigen Folgen der übermäßigen Anstrengung. Die Lehrer berichten, daß die
Mädchen schief werden und die Knaben in der Schule nicht sitzen können.
Die häuslichen Arbeiten werden vernachlässigt, der Geist der Kinder wird
abgestumpft." Ein elenderes Los kann wohl ein Kind in den Jahren der
körperlichen und geistigen Entwicklung nicht treffen.

Trotzdem ist es unzweifelhaft, daß das Angebot jugendlicher Hilfskräfte
in der Hallsindustrie fortwährend steigt, und umso mehr, je mehr man die
Jugendarbeit in den Fabriken beschränkt, denn bei dem zunehmenden Kampfe
ums Dasein haben die Eltern und Vormünder immer mehr ein Interesse daran,
ihr Einkommen zu erhöhen und die Kinder, die sie selbst nicht ernähren können,
für sich selbst sorgen zu lassen. Wenn irgendwo, so erscheint es in diesem
Punkte angebracht, die Fabrikgesetzgebung auf die hausindustriellen Betriebe
auszudehnen, mögen auch in einzelnen Fällen die Kinder eine kaum entbehrliche
Hilfe für die Beschaffung des Unterhalts der Familie sein. Diese jeder gesetz¬
lichen Schranke entbehrenden Heranziehung der Kinder zu eintöniger Haus¬
arbeit ist entschieden el" sittliches Unrecht. Sie schädigt die Entwicklung des


Hausindustrielle Zustände

noch 20 bis 25 Prozent bei Eltern und Verwandten, die übrigen 75 bis 80 Prozent
haben in den Vorstädten mit zwei bis vier Genossinnen eine Schlafstelle gegen
eine monatliche Miete von 2,50 bis 6 Mark inne. Nicht überall sind polizei¬
liche Vorschriften imstande, die Unsitte des Zusammenwohnens von Schlaf¬
stellenbesitzern verschiednen Geschlechts zu verhindern.

Eine dankbare Aufgabe wäre für die Vertrauensmänner des Vereins für
Sozialpolitik die Untersuchung der Dichtigkeit, sowie der Luftranmverhältnisse
der Wohnungen gewesen, denn dieser Teil der Arbeitsstatistik der Hausindustrie
ist uoch durchaus ungenügend. Von dem Hauptsitze der schlesischen Hausarbeit
ist als sicher anzunehmen, daß der Raum von 15 bis 20 Kubikmeter Luft,
den man herkömmlich als das erforderliche geringste Maß für die einzelne
Person ansieht, fast durchweg nicht erreicht wird, was umso bedenklicher ist,
als die Wohnungen im größtem Teile des Jahres aus Furcht, dem Raum
Wärme zu entziehen, nicht gelüftet werden.

In einem höchst bedenklichen Licht erscheint von neuem die übel berüchtigte
Kinderarbeit in der Hausindustrie. In der Glatzer Schnchtelfabrikativu müssen
Kinder von fünf Jahren früh um vier Uhr aus dem Bett, um vor der Schule
uoch ihr Schachtelpensum abzuarbeiten, nach der Schule, die ihnen als Er¬
holungspause erscheinen mag, dauert die Arbeit bis acht oder neun Uhr abends.
Über das Filetunhen der Kinder in Friedland, Zülz und Umgegend sagt eine
Zuschrift an den Oberschlesischen Anzeiger aus dem Jahre 1888, deren Wahr¬
heit eine amtlich angeordnete Untersuchung bestätigte: „Dem Filetnähen
huldigen uicht selten alle Glieder einer Familie, selbst Kinder von fünf bis
sechs Jahren. Die Arbeit beginnt früh bei Licht und endet nachts nach zwölf
Uhr. Kurzsichtigkeit, Brustleiden, Verkrümmung des Rückgrats sind die trau¬
rigen Folgen der übermäßigen Anstrengung. Die Lehrer berichten, daß die
Mädchen schief werden und die Knaben in der Schule nicht sitzen können.
Die häuslichen Arbeiten werden vernachlässigt, der Geist der Kinder wird
abgestumpft." Ein elenderes Los kann wohl ein Kind in den Jahren der
körperlichen und geistigen Entwicklung nicht treffen.

Trotzdem ist es unzweifelhaft, daß das Angebot jugendlicher Hilfskräfte
in der Hallsindustrie fortwährend steigt, und umso mehr, je mehr man die
Jugendarbeit in den Fabriken beschränkt, denn bei dem zunehmenden Kampfe
ums Dasein haben die Eltern und Vormünder immer mehr ein Interesse daran,
ihr Einkommen zu erhöhen und die Kinder, die sie selbst nicht ernähren können,
für sich selbst sorgen zu lassen. Wenn irgendwo, so erscheint es in diesem
Punkte angebracht, die Fabrikgesetzgebung auf die hausindustriellen Betriebe
auszudehnen, mögen auch in einzelnen Fällen die Kinder eine kaum entbehrliche
Hilfe für die Beschaffung des Unterhalts der Familie sein. Diese jeder gesetz¬
lichen Schranke entbehrenden Heranziehung der Kinder zu eintöniger Haus¬
arbeit ist entschieden el» sittliches Unrecht. Sie schädigt die Entwicklung des


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[0368] Hausindustrielle Zustände noch 20 bis 25 Prozent bei Eltern und Verwandten, die übrigen 75 bis 80 Prozent haben in den Vorstädten mit zwei bis vier Genossinnen eine Schlafstelle gegen eine monatliche Miete von 2,50 bis 6 Mark inne. Nicht überall sind polizei¬ liche Vorschriften imstande, die Unsitte des Zusammenwohnens von Schlaf¬ stellenbesitzern verschiednen Geschlechts zu verhindern. Eine dankbare Aufgabe wäre für die Vertrauensmänner des Vereins für Sozialpolitik die Untersuchung der Dichtigkeit, sowie der Luftranmverhältnisse der Wohnungen gewesen, denn dieser Teil der Arbeitsstatistik der Hausindustrie ist uoch durchaus ungenügend. Von dem Hauptsitze der schlesischen Hausarbeit ist als sicher anzunehmen, daß der Raum von 15 bis 20 Kubikmeter Luft, den man herkömmlich als das erforderliche geringste Maß für die einzelne Person ansieht, fast durchweg nicht erreicht wird, was umso bedenklicher ist, als die Wohnungen im größtem Teile des Jahres aus Furcht, dem Raum Wärme zu entziehen, nicht gelüftet werden. In einem höchst bedenklichen Licht erscheint von neuem die übel berüchtigte Kinderarbeit in der Hausindustrie. In der Glatzer Schnchtelfabrikativu müssen Kinder von fünf Jahren früh um vier Uhr aus dem Bett, um vor der Schule uoch ihr Schachtelpensum abzuarbeiten, nach der Schule, die ihnen als Er¬ holungspause erscheinen mag, dauert die Arbeit bis acht oder neun Uhr abends. Über das Filetunhen der Kinder in Friedland, Zülz und Umgegend sagt eine Zuschrift an den Oberschlesischen Anzeiger aus dem Jahre 1888, deren Wahr¬ heit eine amtlich angeordnete Untersuchung bestätigte: „Dem Filetnähen huldigen uicht selten alle Glieder einer Familie, selbst Kinder von fünf bis sechs Jahren. Die Arbeit beginnt früh bei Licht und endet nachts nach zwölf Uhr. Kurzsichtigkeit, Brustleiden, Verkrümmung des Rückgrats sind die trau¬ rigen Folgen der übermäßigen Anstrengung. Die Lehrer berichten, daß die Mädchen schief werden und die Knaben in der Schule nicht sitzen können. Die häuslichen Arbeiten werden vernachlässigt, der Geist der Kinder wird abgestumpft." Ein elenderes Los kann wohl ein Kind in den Jahren der körperlichen und geistigen Entwicklung nicht treffen. Trotzdem ist es unzweifelhaft, daß das Angebot jugendlicher Hilfskräfte in der Hallsindustrie fortwährend steigt, und umso mehr, je mehr man die Jugendarbeit in den Fabriken beschränkt, denn bei dem zunehmenden Kampfe ums Dasein haben die Eltern und Vormünder immer mehr ein Interesse daran, ihr Einkommen zu erhöhen und die Kinder, die sie selbst nicht ernähren können, für sich selbst sorgen zu lassen. Wenn irgendwo, so erscheint es in diesem Punkte angebracht, die Fabrikgesetzgebung auf die hausindustriellen Betriebe auszudehnen, mögen auch in einzelnen Fällen die Kinder eine kaum entbehrliche Hilfe für die Beschaffung des Unterhalts der Familie sein. Diese jeder gesetz¬ lichen Schranke entbehrenden Heranziehung der Kinder zu eintöniger Haus¬ arbeit ist entschieden el» sittliches Unrecht. Sie schädigt die Entwicklung des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/368>, abgerufen am 16.06.2024.