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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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das umso mehr zu bedauern, als die Wohnungsfrage eine der Hauptfragen
für die materielle und die sittliche Hebung der Hausindustriellen ist, da für
sie die Wohnung zugleich die Stätte ihrer gewerblichen Thätigkeit ist. Das
Wvhuuugseleud der Fabrikarbeiter wird nicht in demselben Maße dauernd
empfunden und hat nicht dieselbe Nachhaltigkeit des schädlichen Einflusses ans
Körper und Gemüt.

Wer sich nur einigermaßen umgesehen hat in den Wohnungen der
schlesischen Hausarbeiter, der kennt ihren nach jeder Richtung hin jämmerlichen
Zustand. Eine Wirkung davon, daß seit Jahrzehnten die Hygiene das ge¬
sündeste und die Architektur das zweckmäßigste Arbeits- und Wohnhaus für
die arbeitenden Klassen ausgesonnen hat, ist hinsichtlich der Hallsindustrie hier
nicht zu verspüren. Für sie trifft unzweifelhaft noch vielfach zu, was Huber
1865 in seinem Bericht an die deutschen Volkswirte allgemein betont hat:
"Unsre Leser wissen, daß in den zivilisirtesteu Ländern der Christenheit
Hunderttausende von Familien ans Wohnungen angewiesen sind, worin ein
halbwegs gewissenhafter oder auch nur seinen Vorteil verstehender Volkswirt
sein Vieh nicht halten möchte, Wohnungen, worin die Pflege der ersten sitt¬
lichen und leibliche" Grundlagen würdiger, gesunder, wohlthuender, mensch¬
licher, geschweige denn christlicher Lebenshaltung kaum möglich sind ohne
Wunder des Heroismus oder der Heiligkeit." Nur in den gesegneten Gebirgs¬
thälern Schlesiens befinden sich die Hausarbeiter oft noch im Besitze eines
Familienhanses, das geräumig genug ist und bescheidnen gesundheitlichen
Nnforderungeu entspricht.

Zwei Punkte lassen die Berichte klar erkennen, die Wohnungsnot und
das Schlafstellenunwesen der Hnnsarbeiter. Der schlesische Bericht hebt hervor,
daß in den Hauptsitzen der Glasindustrie Schlesiens und wohl Deutschlands,
Schreibersau und Petersdorf, zugleich beliebten Sommerfrischen, die Haus¬
arbeiter thatsächlich vielfach gar keine Wohnung finden und sich verpflichten
müssen, die Wvhmmg während des Sommers zu räumen. Dabei zahlen sie
für eine Stube mit Kammer und Kochgelegenheit jährlich 75 bis 90 Mark.
Der andauernde Niedergang der Hansweberei in Schlesien wird vielfach geradezu
auf den Wohnungsmaugel oder auf die Unmöglichkeit, eine passende Wohnung
zu erhalten, zurückgeführt. Die Miethpreise betragen in den größer" Dörfern
45, 60, ja 72 Mark jährlich. Sie sind zu hoch sowohl im Verhältnis zu
dem Werte der Wohnung an sich, als zu dem kärglichen Einkommen der Hans-
industriellen, das ohnehin schon zur Befriedigung anderweiter dringender
Lebensbedürfnisse kaum ausreicht.

Es ist daher nicht zu verwundern, daß die Verbreitung des Schlafstellen¬
unwesens mit seinen Folgen für Familienleben, Häuslichkeit und Sittlichkeit
immer mehr zunimmt. Von den hausindustrielle" Schneiderinnen und
Näherinnen in Berlin, Breslau und den schlesischen Mittelstädten wohnen nur


das umso mehr zu bedauern, als die Wohnungsfrage eine der Hauptfragen
für die materielle und die sittliche Hebung der Hausindustriellen ist, da für
sie die Wohnung zugleich die Stätte ihrer gewerblichen Thätigkeit ist. Das
Wvhuuugseleud der Fabrikarbeiter wird nicht in demselben Maße dauernd
empfunden und hat nicht dieselbe Nachhaltigkeit des schädlichen Einflusses ans
Körper und Gemüt.

Wer sich nur einigermaßen umgesehen hat in den Wohnungen der
schlesischen Hausarbeiter, der kennt ihren nach jeder Richtung hin jämmerlichen
Zustand. Eine Wirkung davon, daß seit Jahrzehnten die Hygiene das ge¬
sündeste und die Architektur das zweckmäßigste Arbeits- und Wohnhaus für
die arbeitenden Klassen ausgesonnen hat, ist hinsichtlich der Hallsindustrie hier
nicht zu verspüren. Für sie trifft unzweifelhaft noch vielfach zu, was Huber
1865 in seinem Bericht an die deutschen Volkswirte allgemein betont hat:
„Unsre Leser wissen, daß in den zivilisirtesteu Ländern der Christenheit
Hunderttausende von Familien ans Wohnungen angewiesen sind, worin ein
halbwegs gewissenhafter oder auch nur seinen Vorteil verstehender Volkswirt
sein Vieh nicht halten möchte, Wohnungen, worin die Pflege der ersten sitt¬
lichen und leibliche» Grundlagen würdiger, gesunder, wohlthuender, mensch¬
licher, geschweige denn christlicher Lebenshaltung kaum möglich sind ohne
Wunder des Heroismus oder der Heiligkeit." Nur in den gesegneten Gebirgs¬
thälern Schlesiens befinden sich die Hausarbeiter oft noch im Besitze eines
Familienhanses, das geräumig genug ist und bescheidnen gesundheitlichen
Nnforderungeu entspricht.

Zwei Punkte lassen die Berichte klar erkennen, die Wohnungsnot und
das Schlafstellenunwesen der Hnnsarbeiter. Der schlesische Bericht hebt hervor,
daß in den Hauptsitzen der Glasindustrie Schlesiens und wohl Deutschlands,
Schreibersau und Petersdorf, zugleich beliebten Sommerfrischen, die Haus¬
arbeiter thatsächlich vielfach gar keine Wohnung finden und sich verpflichten
müssen, die Wvhmmg während des Sommers zu räumen. Dabei zahlen sie
für eine Stube mit Kammer und Kochgelegenheit jährlich 75 bis 90 Mark.
Der andauernde Niedergang der Hansweberei in Schlesien wird vielfach geradezu
auf den Wohnungsmaugel oder auf die Unmöglichkeit, eine passende Wohnung
zu erhalten, zurückgeführt. Die Miethpreise betragen in den größer« Dörfern
45, 60, ja 72 Mark jährlich. Sie sind zu hoch sowohl im Verhältnis zu
dem Werte der Wohnung an sich, als zu dem kärglichen Einkommen der Hans-
industriellen, das ohnehin schon zur Befriedigung anderweiter dringender
Lebensbedürfnisse kaum ausreicht.

Es ist daher nicht zu verwundern, daß die Verbreitung des Schlafstellen¬
unwesens mit seinen Folgen für Familienleben, Häuslichkeit und Sittlichkeit
immer mehr zunimmt. Von den hausindustrielle» Schneiderinnen und
Näherinnen in Berlin, Breslau und den schlesischen Mittelstädten wohnen nur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/367>, abgerufen am 23.05.2024.