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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Hegels Lehre über die Familie

zwar "der Hegel, dein Strauß und Feuerbach die Schleppe tragen." Das wird
nun sicher nicht geschehen. Hegels System, sein wissenschaftlicher Gedanken¬
aufbau ist nicht mehr für unser heutiges Deuten als grundlegend in der Weise
anzusehen, daß Hegel auch heute noch wie einst Begründer und Meister einer
die ganze Wissenschaft beherrschenden Schule zu sein verdiente; im Gegenteil,
diese ganze sogenannte spekulative Erkenntnisweise, d. h. die Weise philosophi¬
scher Betrachtung, bei der der Gedanke sich rein ans sich selbst heraus, nicht
ans der Erfahrung und aus den Dingen entwickelt, diese rein logische Kon¬
struktion, deren gewaltigster Meister eben Hegel mit seinem rein gedanklichen
Aufbau der Welt war, ist für immer dahin. Ehe man heutzutage überhaupt
an ein Aufbauen von Gedanken geht, beobachtet, wägt, mißt und zählt man
erst, und was man so durch exakte Forschung, also auf dein Wege des er-
fahrungsmäßigen Beobachteus, als Thatsache gefunden hat, das übergiebt die
Naturwissenschaft (das Wort im weitesten Sinne) der Geisteswissenschaft, der
Philosophie, zur weitern Verarbeitung des Gedankens. Also nicht, weil Hegel
noch nach allen Seiten hin der Philosoph unsrer Zeit sein könnte, ist er sür
uns von Bedeutung; die logisch-metaphysische Seite seines Systems, dnrch die
er sich als der größte moderne Gnostiker darstellt, ist für unser heutiges Deuten
eine überwundene Sache, und darum ist gerade seine religiöse Anschauung für
uns ebenfalls eine überwundene Sache. Aber etwas andres ist es mit den
Stücken seines Systems, wo auch sein Denken wirklich korrekt, d. h. dem Gebiete
der Erfahrung, sowohl der äußern als der innern Erfahrung, entnommen ist.
Das ist aber vorzugsweise auf dem Gebiete der Sittlichkeit der Fall. Da giebt
sich bei ihm ein außerordentlich tiefes und bedeutendes Erfassen der sittlichen
Idee in allen ihren Beziehungen kund, und daher kommt es auch, daß gerade
auf diesem Gebiete viele Hegelsche Ausdrücke so sehr Gemeingut der Wissen¬
schaft geworden sind, daß auch die heutige wissenschaftliche Sprache noch damit
arbeitet.

Wir wollen uns hier mit Hegels Auffassung der Familie beschäftigen,
besonders, wie er sie in seiner Rechtsphilosophie niedergelegt hat, demjenigen
Hegelschen Werke, von dem vorzugsweise das Wort von Ed. Gans gilt:
"Seine unterscheidende Kunstsprache wird sich verlieren, aber seine Tiefen werden
ein Gemeingut werden." Und zwar fragen wir näher darnach, wie Hegel den
Begriff, die Idee der Sittlichkeit in der Form der Familie faßt. Wir wollen
also, was wir ausdrücklich betonen, hier nicht etwa über die Sittlichkeit in der
Familie reden, sondern unsre Betrachtung soll darauf gehen, inwiefern sich die
Idee der Sittlichkeit eine Gestalt giebt in dem menschlichen Verhältnis, das
wir "Familie" nennen.

Um was es Hegel beim Aufbau seiner Rechtsphilosophie in letzter Absicht
zu thun war, das ist die Lehre vom Staate. Wenn aber irgendwo, so ist in
der Lehre vom Staate die Hegelsche Auffassung die der heutigen Welt geworden.


Hegels Lehre über die Familie

zwar „der Hegel, dein Strauß und Feuerbach die Schleppe tragen." Das wird
nun sicher nicht geschehen. Hegels System, sein wissenschaftlicher Gedanken¬
aufbau ist nicht mehr für unser heutiges Deuten als grundlegend in der Weise
anzusehen, daß Hegel auch heute noch wie einst Begründer und Meister einer
die ganze Wissenschaft beherrschenden Schule zu sein verdiente; im Gegenteil,
diese ganze sogenannte spekulative Erkenntnisweise, d. h. die Weise philosophi¬
scher Betrachtung, bei der der Gedanke sich rein ans sich selbst heraus, nicht
ans der Erfahrung und aus den Dingen entwickelt, diese rein logische Kon¬
struktion, deren gewaltigster Meister eben Hegel mit seinem rein gedanklichen
Aufbau der Welt war, ist für immer dahin. Ehe man heutzutage überhaupt
an ein Aufbauen von Gedanken geht, beobachtet, wägt, mißt und zählt man
erst, und was man so durch exakte Forschung, also auf dein Wege des er-
fahrungsmäßigen Beobachteus, als Thatsache gefunden hat, das übergiebt die
Naturwissenschaft (das Wort im weitesten Sinne) der Geisteswissenschaft, der
Philosophie, zur weitern Verarbeitung des Gedankens. Also nicht, weil Hegel
noch nach allen Seiten hin der Philosoph unsrer Zeit sein könnte, ist er sür
uns von Bedeutung; die logisch-metaphysische Seite seines Systems, dnrch die
er sich als der größte moderne Gnostiker darstellt, ist für unser heutiges Deuten
eine überwundene Sache, und darum ist gerade seine religiöse Anschauung für
uns ebenfalls eine überwundene Sache. Aber etwas andres ist es mit den
Stücken seines Systems, wo auch sein Denken wirklich korrekt, d. h. dem Gebiete
der Erfahrung, sowohl der äußern als der innern Erfahrung, entnommen ist.
Das ist aber vorzugsweise auf dem Gebiete der Sittlichkeit der Fall. Da giebt
sich bei ihm ein außerordentlich tiefes und bedeutendes Erfassen der sittlichen
Idee in allen ihren Beziehungen kund, und daher kommt es auch, daß gerade
auf diesem Gebiete viele Hegelsche Ausdrücke so sehr Gemeingut der Wissen¬
schaft geworden sind, daß auch die heutige wissenschaftliche Sprache noch damit
arbeitet.

Wir wollen uns hier mit Hegels Auffassung der Familie beschäftigen,
besonders, wie er sie in seiner Rechtsphilosophie niedergelegt hat, demjenigen
Hegelschen Werke, von dem vorzugsweise das Wort von Ed. Gans gilt:
„Seine unterscheidende Kunstsprache wird sich verlieren, aber seine Tiefen werden
ein Gemeingut werden." Und zwar fragen wir näher darnach, wie Hegel den
Begriff, die Idee der Sittlichkeit in der Form der Familie faßt. Wir wollen
also, was wir ausdrücklich betonen, hier nicht etwa über die Sittlichkeit in der
Familie reden, sondern unsre Betrachtung soll darauf gehen, inwiefern sich die
Idee der Sittlichkeit eine Gestalt giebt in dem menschlichen Verhältnis, das
wir „Familie" nennen.

Um was es Hegel beim Aufbau seiner Rechtsphilosophie in letzter Absicht
zu thun war, das ist die Lehre vom Staate. Wenn aber irgendwo, so ist in
der Lehre vom Staate die Hegelsche Auffassung die der heutigen Welt geworden.


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[0403] Hegels Lehre über die Familie zwar „der Hegel, dein Strauß und Feuerbach die Schleppe tragen." Das wird nun sicher nicht geschehen. Hegels System, sein wissenschaftlicher Gedanken¬ aufbau ist nicht mehr für unser heutiges Deuten als grundlegend in der Weise anzusehen, daß Hegel auch heute noch wie einst Begründer und Meister einer die ganze Wissenschaft beherrschenden Schule zu sein verdiente; im Gegenteil, diese ganze sogenannte spekulative Erkenntnisweise, d. h. die Weise philosophi¬ scher Betrachtung, bei der der Gedanke sich rein ans sich selbst heraus, nicht ans der Erfahrung und aus den Dingen entwickelt, diese rein logische Kon¬ struktion, deren gewaltigster Meister eben Hegel mit seinem rein gedanklichen Aufbau der Welt war, ist für immer dahin. Ehe man heutzutage überhaupt an ein Aufbauen von Gedanken geht, beobachtet, wägt, mißt und zählt man erst, und was man so durch exakte Forschung, also auf dein Wege des er- fahrungsmäßigen Beobachteus, als Thatsache gefunden hat, das übergiebt die Naturwissenschaft (das Wort im weitesten Sinne) der Geisteswissenschaft, der Philosophie, zur weitern Verarbeitung des Gedankens. Also nicht, weil Hegel noch nach allen Seiten hin der Philosoph unsrer Zeit sein könnte, ist er sür uns von Bedeutung; die logisch-metaphysische Seite seines Systems, dnrch die er sich als der größte moderne Gnostiker darstellt, ist für unser heutiges Deuten eine überwundene Sache, und darum ist gerade seine religiöse Anschauung für uns ebenfalls eine überwundene Sache. Aber etwas andres ist es mit den Stücken seines Systems, wo auch sein Denken wirklich korrekt, d. h. dem Gebiete der Erfahrung, sowohl der äußern als der innern Erfahrung, entnommen ist. Das ist aber vorzugsweise auf dem Gebiete der Sittlichkeit der Fall. Da giebt sich bei ihm ein außerordentlich tiefes und bedeutendes Erfassen der sittlichen Idee in allen ihren Beziehungen kund, und daher kommt es auch, daß gerade auf diesem Gebiete viele Hegelsche Ausdrücke so sehr Gemeingut der Wissen¬ schaft geworden sind, daß auch die heutige wissenschaftliche Sprache noch damit arbeitet. Wir wollen uns hier mit Hegels Auffassung der Familie beschäftigen, besonders, wie er sie in seiner Rechtsphilosophie niedergelegt hat, demjenigen Hegelschen Werke, von dem vorzugsweise das Wort von Ed. Gans gilt: „Seine unterscheidende Kunstsprache wird sich verlieren, aber seine Tiefen werden ein Gemeingut werden." Und zwar fragen wir näher darnach, wie Hegel den Begriff, die Idee der Sittlichkeit in der Form der Familie faßt. Wir wollen also, was wir ausdrücklich betonen, hier nicht etwa über die Sittlichkeit in der Familie reden, sondern unsre Betrachtung soll darauf gehen, inwiefern sich die Idee der Sittlichkeit eine Gestalt giebt in dem menschlichen Verhältnis, das wir „Familie" nennen. Um was es Hegel beim Aufbau seiner Rechtsphilosophie in letzter Absicht zu thun war, das ist die Lehre vom Staate. Wenn aber irgendwo, so ist in der Lehre vom Staate die Hegelsche Auffassung die der heutigen Welt geworden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/403>, abgerufen am 12.05.2024.