Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Hegels Lehre über die Familie

Der Staat ist für Hegel, was er heutzutage für jede wissenschaftliche Auffassung
ist, die Gesamtheit der Sittlichkeit, d. h. die alle sittlichen Mächte in sich
schließende, umfassende Form. Fragt man, was heißt "sittlich," so ist nach
Hegel das Sittliche diejenige "Subjektivität, die die Objektivität des Guten zu
ihrem Inhalt hat," d. h. mit nicht technischen Ausdrücken die Sache wieder¬
gegeben, das Sittliche ist die Gesinnung, die das an sich seiende Rechte, die
Idee, den Begriff des Guten zu ihrem Inhalte hat. Wir bezeichnen das mit
dem Ausdrucke ,,Moralität/' im Unterschiede von "Legalität," die bloß ein
äußerliches gesetzliches Verhalten ist. Diese Moralität nennt Hegel auch selbst
mit einem schonen deutschen Ausdruck das "lebendige Gute" oder die "Freiheit"
und kommt so zu dem bedeutungsvollen Satz: Die Sittlichkeit ist die Freiheit
oder das lebendige Gute.

Indem nnn Hegel die Idee der Freiheit in ihren einzelnen "Momenten
konstruirt," oder (um auch hier die wrirüiu tsolluiei fallen zu lassen, denn
man kann auch die Hegelsche Philosophie ganz gut mit deutschen Ausdrücken
wiedergeben, wenn es auch schwer ist, man muß sie nur verstanden haben),
indem er die Ordnung der sittlichen Bestimmungen des Guten wissenschaftlich
gegliedert aufführt und hinstellt, stellt er auch damit die sittlichen Mächte auf,
deren zusammeufcissende Ordnung, ihre Gesamtheit, wie bereits gesagt, sür
Hegel der Staat ist, dieser gegliederte Bau der Vernünftigkeit, worin die Ver¬
nunft ihre Objektivität, ihre Wirklichkeit hat. Der Satz: Im Staate besitzt
die Sittlichkeit ihr eignes Wesen, und der andre Satz: Im Staate hat die
Vernunft ihre Wirklichkeit, drücken dasselbe aus. Darin, daß der Einzelne
Bürger eines guten Staates ist, kommt der Mensch, wie zu seiner Vernünftig¬
keit, so zu seiner Sittlichkeit, und in diesen beiden zu seiner Freiheit.

Es fragt sich nun: welches sind die "Momente," d. h. die einzelnen Teile
und Glieder der Sittlichkeit, die den Bau der höchsten Vernünftigkeit aus¬
machen, mit andern Worten: welches sind die sittlichen Mächte, die die Vor¬
aussetzungen und Grundlagen des Staates bilden? In der Beantwortung
dieser Frage kommt Hegel auf die Familie zu sprechen. Die Lehre von der
Familie bildet ihm einen integrirenden, einen zum Ganzen notwendig gehörenden
Teil der Lehre vom Staate. Sie ist die Grundlage im System, im Lehr¬
gebäude der Sittlichkeit. Betrachten wir uns das näher.

Was Hegel als die sittliche Substanz, als das sittliche Wesen der Familie
ansieht, ist das, daß in ihr "die Substantialität des Geistes," d. h. sein wesen¬
haftes Sein, sich als Einheit meiner und des andern oder der andern un¬
mittelbar geltend macht. Der Ton liegt hier auf dein "unmittelbar." Denn
Geist als unmittelbarer gesetzt ist Empfindung. Der Geist der Familie ist
also sich empfindende Einheit. Diese Einheit des einen mit dein andern als
Empfindung nennen wir Liebe. Der Einzelne hat nun in der Familie sein
Selbstbewußtsein eben in dieser Einheit, in der Familienliebe. Darum will


Hegels Lehre über die Familie

Der Staat ist für Hegel, was er heutzutage für jede wissenschaftliche Auffassung
ist, die Gesamtheit der Sittlichkeit, d. h. die alle sittlichen Mächte in sich
schließende, umfassende Form. Fragt man, was heißt „sittlich," so ist nach
Hegel das Sittliche diejenige „Subjektivität, die die Objektivität des Guten zu
ihrem Inhalt hat," d. h. mit nicht technischen Ausdrücken die Sache wieder¬
gegeben, das Sittliche ist die Gesinnung, die das an sich seiende Rechte, die
Idee, den Begriff des Guten zu ihrem Inhalte hat. Wir bezeichnen das mit
dem Ausdrucke ,,Moralität/' im Unterschiede von „Legalität," die bloß ein
äußerliches gesetzliches Verhalten ist. Diese Moralität nennt Hegel auch selbst
mit einem schonen deutschen Ausdruck das „lebendige Gute" oder die „Freiheit"
und kommt so zu dem bedeutungsvollen Satz: Die Sittlichkeit ist die Freiheit
oder das lebendige Gute.

Indem nnn Hegel die Idee der Freiheit in ihren einzelnen „Momenten
konstruirt," oder (um auch hier die wrirüiu tsolluiei fallen zu lassen, denn
man kann auch die Hegelsche Philosophie ganz gut mit deutschen Ausdrücken
wiedergeben, wenn es auch schwer ist, man muß sie nur verstanden haben),
indem er die Ordnung der sittlichen Bestimmungen des Guten wissenschaftlich
gegliedert aufführt und hinstellt, stellt er auch damit die sittlichen Mächte auf,
deren zusammeufcissende Ordnung, ihre Gesamtheit, wie bereits gesagt, sür
Hegel der Staat ist, dieser gegliederte Bau der Vernünftigkeit, worin die Ver¬
nunft ihre Objektivität, ihre Wirklichkeit hat. Der Satz: Im Staate besitzt
die Sittlichkeit ihr eignes Wesen, und der andre Satz: Im Staate hat die
Vernunft ihre Wirklichkeit, drücken dasselbe aus. Darin, daß der Einzelne
Bürger eines guten Staates ist, kommt der Mensch, wie zu seiner Vernünftig¬
keit, so zu seiner Sittlichkeit, und in diesen beiden zu seiner Freiheit.

Es fragt sich nun: welches sind die „Momente," d. h. die einzelnen Teile
und Glieder der Sittlichkeit, die den Bau der höchsten Vernünftigkeit aus¬
machen, mit andern Worten: welches sind die sittlichen Mächte, die die Vor¬
aussetzungen und Grundlagen des Staates bilden? In der Beantwortung
dieser Frage kommt Hegel auf die Familie zu sprechen. Die Lehre von der
Familie bildet ihm einen integrirenden, einen zum Ganzen notwendig gehörenden
Teil der Lehre vom Staate. Sie ist die Grundlage im System, im Lehr¬
gebäude der Sittlichkeit. Betrachten wir uns das näher.

Was Hegel als die sittliche Substanz, als das sittliche Wesen der Familie
ansieht, ist das, daß in ihr „die Substantialität des Geistes," d. h. sein wesen¬
haftes Sein, sich als Einheit meiner und des andern oder der andern un¬
mittelbar geltend macht. Der Ton liegt hier auf dein „unmittelbar." Denn
Geist als unmittelbarer gesetzt ist Empfindung. Der Geist der Familie ist
also sich empfindende Einheit. Diese Einheit des einen mit dein andern als
Empfindung nennen wir Liebe. Der Einzelne hat nun in der Familie sein
Selbstbewußtsein eben in dieser Einheit, in der Familienliebe. Darum will


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0404" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208341"/>
          <fw type="header" place="top"> Hegels Lehre über die Familie</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1248" prev="#ID_1247"> Der Staat ist für Hegel, was er heutzutage für jede wissenschaftliche Auffassung<lb/>
ist, die Gesamtheit der Sittlichkeit, d. h. die alle sittlichen Mächte in sich<lb/>
schließende, umfassende Form. Fragt man, was heißt &#x201E;sittlich," so ist nach<lb/>
Hegel das Sittliche diejenige &#x201E;Subjektivität, die die Objektivität des Guten zu<lb/>
ihrem Inhalt hat," d. h. mit nicht technischen Ausdrücken die Sache wieder¬<lb/>
gegeben, das Sittliche ist die Gesinnung, die das an sich seiende Rechte, die<lb/>
Idee, den Begriff des Guten zu ihrem Inhalte hat. Wir bezeichnen das mit<lb/>
dem Ausdrucke ,,Moralität/' im Unterschiede von &#x201E;Legalität," die bloß ein<lb/>
äußerliches gesetzliches Verhalten ist. Diese Moralität nennt Hegel auch selbst<lb/>
mit einem schonen deutschen Ausdruck das &#x201E;lebendige Gute" oder die &#x201E;Freiheit"<lb/>
und kommt so zu dem bedeutungsvollen Satz: Die Sittlichkeit ist die Freiheit<lb/>
oder das lebendige Gute.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1249"> Indem nnn Hegel die Idee der Freiheit in ihren einzelnen &#x201E;Momenten<lb/>
konstruirt," oder (um auch hier die wrirüiu tsolluiei fallen zu lassen, denn<lb/>
man kann auch die Hegelsche Philosophie ganz gut mit deutschen Ausdrücken<lb/>
wiedergeben, wenn es auch schwer ist, man muß sie nur verstanden haben),<lb/>
indem er die Ordnung der sittlichen Bestimmungen des Guten wissenschaftlich<lb/>
gegliedert aufführt und hinstellt, stellt er auch damit die sittlichen Mächte auf,<lb/>
deren zusammeufcissende Ordnung, ihre Gesamtheit, wie bereits gesagt, sür<lb/>
Hegel der Staat ist, dieser gegliederte Bau der Vernünftigkeit, worin die Ver¬<lb/>
nunft ihre Objektivität, ihre Wirklichkeit hat. Der Satz: Im Staate besitzt<lb/>
die Sittlichkeit ihr eignes Wesen, und der andre Satz: Im Staate hat die<lb/>
Vernunft ihre Wirklichkeit, drücken dasselbe aus. Darin, daß der Einzelne<lb/>
Bürger eines guten Staates ist, kommt der Mensch, wie zu seiner Vernünftig¬<lb/>
keit, so zu seiner Sittlichkeit, und in diesen beiden zu seiner Freiheit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1250"> Es fragt sich nun: welches sind die &#x201E;Momente," d. h. die einzelnen Teile<lb/>
und Glieder der Sittlichkeit, die den Bau der höchsten Vernünftigkeit aus¬<lb/>
machen, mit andern Worten: welches sind die sittlichen Mächte, die die Vor¬<lb/>
aussetzungen und Grundlagen des Staates bilden? In der Beantwortung<lb/>
dieser Frage kommt Hegel auf die Familie zu sprechen. Die Lehre von der<lb/>
Familie bildet ihm einen integrirenden, einen zum Ganzen notwendig gehörenden<lb/>
Teil der Lehre vom Staate. Sie ist die Grundlage im System, im Lehr¬<lb/>
gebäude der Sittlichkeit.  Betrachten wir uns das näher.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1251" next="#ID_1252"> Was Hegel als die sittliche Substanz, als das sittliche Wesen der Familie<lb/>
ansieht, ist das, daß in ihr &#x201E;die Substantialität des Geistes," d. h. sein wesen¬<lb/>
haftes Sein, sich als Einheit meiner und des andern oder der andern un¬<lb/>
mittelbar geltend macht. Der Ton liegt hier auf dein &#x201E;unmittelbar." Denn<lb/>
Geist als unmittelbarer gesetzt ist Empfindung. Der Geist der Familie ist<lb/>
also sich empfindende Einheit. Diese Einheit des einen mit dein andern als<lb/>
Empfindung nennen wir Liebe. Der Einzelne hat nun in der Familie sein<lb/>
Selbstbewußtsein eben in dieser Einheit, in der Familienliebe.  Darum will</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0404] Hegels Lehre über die Familie Der Staat ist für Hegel, was er heutzutage für jede wissenschaftliche Auffassung ist, die Gesamtheit der Sittlichkeit, d. h. die alle sittlichen Mächte in sich schließende, umfassende Form. Fragt man, was heißt „sittlich," so ist nach Hegel das Sittliche diejenige „Subjektivität, die die Objektivität des Guten zu ihrem Inhalt hat," d. h. mit nicht technischen Ausdrücken die Sache wieder¬ gegeben, das Sittliche ist die Gesinnung, die das an sich seiende Rechte, die Idee, den Begriff des Guten zu ihrem Inhalte hat. Wir bezeichnen das mit dem Ausdrucke ,,Moralität/' im Unterschiede von „Legalität," die bloß ein äußerliches gesetzliches Verhalten ist. Diese Moralität nennt Hegel auch selbst mit einem schonen deutschen Ausdruck das „lebendige Gute" oder die „Freiheit" und kommt so zu dem bedeutungsvollen Satz: Die Sittlichkeit ist die Freiheit oder das lebendige Gute. Indem nnn Hegel die Idee der Freiheit in ihren einzelnen „Momenten konstruirt," oder (um auch hier die wrirüiu tsolluiei fallen zu lassen, denn man kann auch die Hegelsche Philosophie ganz gut mit deutschen Ausdrücken wiedergeben, wenn es auch schwer ist, man muß sie nur verstanden haben), indem er die Ordnung der sittlichen Bestimmungen des Guten wissenschaftlich gegliedert aufführt und hinstellt, stellt er auch damit die sittlichen Mächte auf, deren zusammeufcissende Ordnung, ihre Gesamtheit, wie bereits gesagt, sür Hegel der Staat ist, dieser gegliederte Bau der Vernünftigkeit, worin die Ver¬ nunft ihre Objektivität, ihre Wirklichkeit hat. Der Satz: Im Staate besitzt die Sittlichkeit ihr eignes Wesen, und der andre Satz: Im Staate hat die Vernunft ihre Wirklichkeit, drücken dasselbe aus. Darin, daß der Einzelne Bürger eines guten Staates ist, kommt der Mensch, wie zu seiner Vernünftig¬ keit, so zu seiner Sittlichkeit, und in diesen beiden zu seiner Freiheit. Es fragt sich nun: welches sind die „Momente," d. h. die einzelnen Teile und Glieder der Sittlichkeit, die den Bau der höchsten Vernünftigkeit aus¬ machen, mit andern Worten: welches sind die sittlichen Mächte, die die Vor¬ aussetzungen und Grundlagen des Staates bilden? In der Beantwortung dieser Frage kommt Hegel auf die Familie zu sprechen. Die Lehre von der Familie bildet ihm einen integrirenden, einen zum Ganzen notwendig gehörenden Teil der Lehre vom Staate. Sie ist die Grundlage im System, im Lehr¬ gebäude der Sittlichkeit. Betrachten wir uns das näher. Was Hegel als die sittliche Substanz, als das sittliche Wesen der Familie ansieht, ist das, daß in ihr „die Substantialität des Geistes," d. h. sein wesen¬ haftes Sein, sich als Einheit meiner und des andern oder der andern un¬ mittelbar geltend macht. Der Ton liegt hier auf dein „unmittelbar." Denn Geist als unmittelbarer gesetzt ist Empfindung. Der Geist der Familie ist also sich empfindende Einheit. Diese Einheit des einen mit dein andern als Empfindung nennen wir Liebe. Der Einzelne hat nun in der Familie sein Selbstbewußtsein eben in dieser Einheit, in der Familienliebe. Darum will

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/404
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/404>, abgerufen am 26.05.2024.