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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Hegels Lehre über die Familie

laßt es ihnen, ob sie diese wollen gelten lassen. Die Kinder haben das Gefühl
der Unterordnung und darum das Bedürfnis des Gehorsams; wird dies nicht
genährt, so entsteht vorlautes Wesen, Naseweisheit. Die Notwendigkeit,
erzogen zu werden, ist in den Kindern eben als das Gefühl vorhanden, in
sich, so wie sie sind, unfertig zu sein; daher die Sehnsucht groß zu werden,
der Welt der Erwachsenen, die sie als etwas Höheres ahnen, anzugehören.
Die Pädagogik der Güte, diese spielende Pädagogik, ist dagegen bestrebt, die
Kinder in ihrer Unfertigkeit als fertig vorzustellen und sie darin befriedigt zu
machen. Sie nimmt das Kindische als etwas, das schon an sich gelte, und
setzt ihnen das Ernsthafte in eine kindische, von den Kindern selbst gering
geachtete Form herab. So verunreinigt sie das eigne bessere Bedürfnis des
Kindes und bewirkt teils Interesselosigkeit und Stumpfheit für die Welt des
Geistes, teils Verachtung der Menschen, die sich ihnen selbst als kindisch vor¬
gestellt haben. Dagegen schafft sie eine Eitelkeit und einen Eigendünkel, der
sich an der eignen Vortrefflichkeit weidet.

Wenn aber Hegel die Zucht als Hauptsache aller Erziehung hinstellt, so
ist er weit entfernt, etwa darunter das Verhältnis des römischen Kindes zum
Vater zu verstehen. Dieses nennt er vielmehr eine Einrichtung, durch die sich
die römische Gesetzgebung befleckt habe, eine Kränkung der Sittlichkeit in ihrem
innersten und zartesten Leben. Im Gegenteil kommt ihm alles darauf an, daß die
Sittlichkeit in dem Kinde zur unmittelbaren, gegensatzlvsen Empfindung werde.
In dieser soll als dem Grnnde des sittlichen Lebens das Gemüt in Liebe,
Zutrauen und Gehorsam sein erstes Leben gelebt haben. Dumm, weil die
Sittlichkeit zuerst als Empfindung in das Kind gepflanzt werden muß, ist die
Erziehung durch die Mutter für das erste Leben des Kindes so überaus
wichtig.

Mit der vollendeten Erziehung hat die Familie ihren Zweck erreicht.
Dieser Zweck ist, sich aufzulösen. In der Volljährigkeit wird die freie Per¬
sönlichkeit des Erzogenen anerkannt und damit seine Fähigkeit, teils eignes,
freies Eigentum zu haben, teils eine eigne Familie zu stiften, worin er nun¬
mehr seine wesentliche Bestimmung hat und gegen die die erste Familie als
erster Grund und Ausgangspunkt zurücktritt.

Die natürliche Auslösung der Familie dnrch den Tod der Eltern,
insonderheit des Vaters, hat in Ansehung des Vermögens die Erbschaft zur
Folge, die also ihrem Wesen nach ein Eintreten des Familienmitgliedes in den
eignen Besitz des bisher gemeinsamen Vermögens ist. Neben dieser Erbschaftsart
ad intsswto giebt es eine zweite Weise zu erben, durch Testiren. Aber das
Testiren darf nicht bloße Willkür sein; willkürliches Recht zu testiren als ein
Prinzip für Erbfolge gelten zu lassen, wie es das römische Recht thut, ist
Härte und Unsittlichkeit zugleich. Solch willkürliches Recht steht dem Rechte
der Familie gegenüber und enthält sür sich nichts, was höher als das Familien-


Hegels Lehre über die Familie

laßt es ihnen, ob sie diese wollen gelten lassen. Die Kinder haben das Gefühl
der Unterordnung und darum das Bedürfnis des Gehorsams; wird dies nicht
genährt, so entsteht vorlautes Wesen, Naseweisheit. Die Notwendigkeit,
erzogen zu werden, ist in den Kindern eben als das Gefühl vorhanden, in
sich, so wie sie sind, unfertig zu sein; daher die Sehnsucht groß zu werden,
der Welt der Erwachsenen, die sie als etwas Höheres ahnen, anzugehören.
Die Pädagogik der Güte, diese spielende Pädagogik, ist dagegen bestrebt, die
Kinder in ihrer Unfertigkeit als fertig vorzustellen und sie darin befriedigt zu
machen. Sie nimmt das Kindische als etwas, das schon an sich gelte, und
setzt ihnen das Ernsthafte in eine kindische, von den Kindern selbst gering
geachtete Form herab. So verunreinigt sie das eigne bessere Bedürfnis des
Kindes und bewirkt teils Interesselosigkeit und Stumpfheit für die Welt des
Geistes, teils Verachtung der Menschen, die sich ihnen selbst als kindisch vor¬
gestellt haben. Dagegen schafft sie eine Eitelkeit und einen Eigendünkel, der
sich an der eignen Vortrefflichkeit weidet.

Wenn aber Hegel die Zucht als Hauptsache aller Erziehung hinstellt, so
ist er weit entfernt, etwa darunter das Verhältnis des römischen Kindes zum
Vater zu verstehen. Dieses nennt er vielmehr eine Einrichtung, durch die sich
die römische Gesetzgebung befleckt habe, eine Kränkung der Sittlichkeit in ihrem
innersten und zartesten Leben. Im Gegenteil kommt ihm alles darauf an, daß die
Sittlichkeit in dem Kinde zur unmittelbaren, gegensatzlvsen Empfindung werde.
In dieser soll als dem Grnnde des sittlichen Lebens das Gemüt in Liebe,
Zutrauen und Gehorsam sein erstes Leben gelebt haben. Dumm, weil die
Sittlichkeit zuerst als Empfindung in das Kind gepflanzt werden muß, ist die
Erziehung durch die Mutter für das erste Leben des Kindes so überaus
wichtig.

Mit der vollendeten Erziehung hat die Familie ihren Zweck erreicht.
Dieser Zweck ist, sich aufzulösen. In der Volljährigkeit wird die freie Per¬
sönlichkeit des Erzogenen anerkannt und damit seine Fähigkeit, teils eignes,
freies Eigentum zu haben, teils eine eigne Familie zu stiften, worin er nun¬
mehr seine wesentliche Bestimmung hat und gegen die die erste Familie als
erster Grund und Ausgangspunkt zurücktritt.

Die natürliche Auslösung der Familie dnrch den Tod der Eltern,
insonderheit des Vaters, hat in Ansehung des Vermögens die Erbschaft zur
Folge, die also ihrem Wesen nach ein Eintreten des Familienmitgliedes in den
eignen Besitz des bisher gemeinsamen Vermögens ist. Neben dieser Erbschaftsart
ad intsswto giebt es eine zweite Weise zu erben, durch Testiren. Aber das
Testiren darf nicht bloße Willkür sein; willkürliches Recht zu testiren als ein
Prinzip für Erbfolge gelten zu lassen, wie es das römische Recht thut, ist
Härte und Unsittlichkeit zugleich. Solch willkürliches Recht steht dem Rechte
der Familie gegenüber und enthält sür sich nichts, was höher als das Familien-


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[0411] Hegels Lehre über die Familie laßt es ihnen, ob sie diese wollen gelten lassen. Die Kinder haben das Gefühl der Unterordnung und darum das Bedürfnis des Gehorsams; wird dies nicht genährt, so entsteht vorlautes Wesen, Naseweisheit. Die Notwendigkeit, erzogen zu werden, ist in den Kindern eben als das Gefühl vorhanden, in sich, so wie sie sind, unfertig zu sein; daher die Sehnsucht groß zu werden, der Welt der Erwachsenen, die sie als etwas Höheres ahnen, anzugehören. Die Pädagogik der Güte, diese spielende Pädagogik, ist dagegen bestrebt, die Kinder in ihrer Unfertigkeit als fertig vorzustellen und sie darin befriedigt zu machen. Sie nimmt das Kindische als etwas, das schon an sich gelte, und setzt ihnen das Ernsthafte in eine kindische, von den Kindern selbst gering geachtete Form herab. So verunreinigt sie das eigne bessere Bedürfnis des Kindes und bewirkt teils Interesselosigkeit und Stumpfheit für die Welt des Geistes, teils Verachtung der Menschen, die sich ihnen selbst als kindisch vor¬ gestellt haben. Dagegen schafft sie eine Eitelkeit und einen Eigendünkel, der sich an der eignen Vortrefflichkeit weidet. Wenn aber Hegel die Zucht als Hauptsache aller Erziehung hinstellt, so ist er weit entfernt, etwa darunter das Verhältnis des römischen Kindes zum Vater zu verstehen. Dieses nennt er vielmehr eine Einrichtung, durch die sich die römische Gesetzgebung befleckt habe, eine Kränkung der Sittlichkeit in ihrem innersten und zartesten Leben. Im Gegenteil kommt ihm alles darauf an, daß die Sittlichkeit in dem Kinde zur unmittelbaren, gegensatzlvsen Empfindung werde. In dieser soll als dem Grnnde des sittlichen Lebens das Gemüt in Liebe, Zutrauen und Gehorsam sein erstes Leben gelebt haben. Dumm, weil die Sittlichkeit zuerst als Empfindung in das Kind gepflanzt werden muß, ist die Erziehung durch die Mutter für das erste Leben des Kindes so überaus wichtig. Mit der vollendeten Erziehung hat die Familie ihren Zweck erreicht. Dieser Zweck ist, sich aufzulösen. In der Volljährigkeit wird die freie Per¬ sönlichkeit des Erzogenen anerkannt und damit seine Fähigkeit, teils eignes, freies Eigentum zu haben, teils eine eigne Familie zu stiften, worin er nun¬ mehr seine wesentliche Bestimmung hat und gegen die die erste Familie als erster Grund und Ausgangspunkt zurücktritt. Die natürliche Auslösung der Familie dnrch den Tod der Eltern, insonderheit des Vaters, hat in Ansehung des Vermögens die Erbschaft zur Folge, die also ihrem Wesen nach ein Eintreten des Familienmitgliedes in den eignen Besitz des bisher gemeinsamen Vermögens ist. Neben dieser Erbschaftsart ad intsswto giebt es eine zweite Weise zu erben, durch Testiren. Aber das Testiren darf nicht bloße Willkür sein; willkürliches Recht zu testiren als ein Prinzip für Erbfolge gelten zu lassen, wie es das römische Recht thut, ist Härte und Unsittlichkeit zugleich. Solch willkürliches Recht steht dem Rechte der Familie gegenüber und enthält sür sich nichts, was höher als das Familien-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/411>, abgerufen am 24.05.2024.