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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

Der Darwinismus läßt mir ziellose Bewegung übrig, eine Reihe von Ver¬
änderungen, die den Namen Fortschritt nicht verdient. Denn Fortschritt ist
die Fortbewegung doch mir dann, wenn sie auf ein Ziel lossteuert, das in
unserm Falle ein sittliches Ideal sein müßte; und ein solches Ziel setzt einen
voraus, der es gesetzt hat, einen persönlichen Gott. Beides leugnet der
Darwinismus; namentlich den Zweckbegriff beseitigt zu haben, rechnet er sich
zum höchsten Ruhme um. Er leugnet, daß die Wesen, die vernunftlosen von
außen durch Einrichtungen Gottes, die vernunftbegabten von innen durch die
Liebe zum erkannten Ideal, zu einem Ziele hingezogen würden, das vor ihnen
schwebe; seiner Ansicht nach werden, wie es Lotze treffend ausdrückt, die Wesen
mir von hinten ins Leere hinaus vorwärts gestoßen. Holt man aus deu
darwinischen Moralpredigten den Kern heraus, so behält man nichts in der
Hand als folgenden Zirkel: Was ist das Sittliche? Antwort: Das dem Genus
luiruo Zuträgliche. Was erhält und veredelt die Menschengattung? Antwort:
Das Sittliche. Dabei wird uaiverweise der Inhalt des Sittlichen ganz einfach
aus dem Volksglauben und den herrschenden sittlichen Anschauungen herüber¬
genommen. Und dabei verwickeln sich die Darwinianer bei der Anwendung
ihrer Dogmen auf das Werden und deu Fortschritt dieser wesentlich christlichen
Sittlichkeit in unzählige Widersprüche. Denn es ist klar, daß die Sittlichkeit,
wie sie gewöhnlich verstanden wird, der Erhaltung und Veredelung der Rasse
mindestens ebenso oft schadet, als sie ihr dient. Wie hartherzige Menschen
für ihre Person meist weiter kommen als barmherzige, so gelangt ein Volk,
das andre rücksichtslos unterdrückt oder ausbeutet, zu größerer Macht und
größerm Reichtum als ein sanftmütiges, geduldiges und gewissenhaftes, und
macht dadurch seiue Volksgenossen nicht allein körperlich stärker, sondern nach
einigen Seiten hin sogar sittlich besser, indem es sie vor denjenigen Schwächen,
Lastern und Verbrechen bewahrt, die von allgemeinem leiblichem Elend unzer¬
trennlich scheinen. Und daß der Rasse durch Tötung der schwachen Kinder
besser gedient wird als durch deren Auspüpvelung, ist doch klar. Trotzdem
hat noch kein Darwinianer die lakedämonische Sitte zu empfehlen gewagt.
Ein Mensch, in dem zarte Gewissenhaftigkeit den hervorstechendsten Charakter¬
zug bildet, wird seiue Gesundheit und sein Vermögen, falls er welches geerbt
hat, nicht durch Ausschweifungen zu Gründe richten und ist ziemlich -- nicht
ganz -- sicher vorm Zuchthause; aber sehr weit bringen wird ers auch nicht,
und möglicherweise "pflanzt er nicht einmal seine Rasse fort." Wahr ist an
der darwinischen Auffassung nur dreierlei, was man aber schon vor Darwin
wußte: daß einzelne Tugenden dem Individuum, der Rasse und der mensch¬
lichen Gesellschaft bis zu einem gewissen Grade vorteilhaft sind, daß sich die
sittlichen Anschauungen verändern, und daß auf die Änderung der Vorteil, den
eine bestimmte Tugend der Gesamtheit bringt, oder der Nachteil, den sie davon
befürchtet, keinen genügen Einfluß übt. , .


Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

Der Darwinismus läßt mir ziellose Bewegung übrig, eine Reihe von Ver¬
änderungen, die den Namen Fortschritt nicht verdient. Denn Fortschritt ist
die Fortbewegung doch mir dann, wenn sie auf ein Ziel lossteuert, das in
unserm Falle ein sittliches Ideal sein müßte; und ein solches Ziel setzt einen
voraus, der es gesetzt hat, einen persönlichen Gott. Beides leugnet der
Darwinismus; namentlich den Zweckbegriff beseitigt zu haben, rechnet er sich
zum höchsten Ruhme um. Er leugnet, daß die Wesen, die vernunftlosen von
außen durch Einrichtungen Gottes, die vernunftbegabten von innen durch die
Liebe zum erkannten Ideal, zu einem Ziele hingezogen würden, das vor ihnen
schwebe; seiner Ansicht nach werden, wie es Lotze treffend ausdrückt, die Wesen
mir von hinten ins Leere hinaus vorwärts gestoßen. Holt man aus deu
darwinischen Moralpredigten den Kern heraus, so behält man nichts in der
Hand als folgenden Zirkel: Was ist das Sittliche? Antwort: Das dem Genus
luiruo Zuträgliche. Was erhält und veredelt die Menschengattung? Antwort:
Das Sittliche. Dabei wird uaiverweise der Inhalt des Sittlichen ganz einfach
aus dem Volksglauben und den herrschenden sittlichen Anschauungen herüber¬
genommen. Und dabei verwickeln sich die Darwinianer bei der Anwendung
ihrer Dogmen auf das Werden und deu Fortschritt dieser wesentlich christlichen
Sittlichkeit in unzählige Widersprüche. Denn es ist klar, daß die Sittlichkeit,
wie sie gewöhnlich verstanden wird, der Erhaltung und Veredelung der Rasse
mindestens ebenso oft schadet, als sie ihr dient. Wie hartherzige Menschen
für ihre Person meist weiter kommen als barmherzige, so gelangt ein Volk,
das andre rücksichtslos unterdrückt oder ausbeutet, zu größerer Macht und
größerm Reichtum als ein sanftmütiges, geduldiges und gewissenhaftes, und
macht dadurch seiue Volksgenossen nicht allein körperlich stärker, sondern nach
einigen Seiten hin sogar sittlich besser, indem es sie vor denjenigen Schwächen,
Lastern und Verbrechen bewahrt, die von allgemeinem leiblichem Elend unzer¬
trennlich scheinen. Und daß der Rasse durch Tötung der schwachen Kinder
besser gedient wird als durch deren Auspüpvelung, ist doch klar. Trotzdem
hat noch kein Darwinianer die lakedämonische Sitte zu empfehlen gewagt.
Ein Mensch, in dem zarte Gewissenhaftigkeit den hervorstechendsten Charakter¬
zug bildet, wird seiue Gesundheit und sein Vermögen, falls er welches geerbt
hat, nicht durch Ausschweifungen zu Gründe richten und ist ziemlich — nicht
ganz — sicher vorm Zuchthause; aber sehr weit bringen wird ers auch nicht,
und möglicherweise „pflanzt er nicht einmal seine Rasse fort." Wahr ist an
der darwinischen Auffassung nur dreierlei, was man aber schon vor Darwin
wußte: daß einzelne Tugenden dem Individuum, der Rasse und der mensch¬
lichen Gesellschaft bis zu einem gewissen Grade vorteilhaft sind, daß sich die
sittlichen Anschauungen verändern, und daß auf die Änderung der Vorteil, den
eine bestimmte Tugend der Gesamtheit bringt, oder der Nachteil, den sie davon
befürchtet, keinen genügen Einfluß übt. , .


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/454>, abgerufen am 23.05.2024.