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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

Eine dritte, nicht Schule, sondern Gruppe von Philosophen glaubt an einen
allmählichen, wenn auch sehr langsamen und von Nückfüllen unterbrochenen
Fortschritt der Sittlichkeit und hält zugleich an der Hoffnung fest, daß dieser
Fortschritt die Glückseligkeit des Menschengeschlechts zuletzt im großen und
ganzen fordern werde. Diese Richtung gewinnt immer mehr Boden, ist in den
Grenzboten als eine erfreuliche Erscheinung begrüßt worden und wird sie wohl
noch öfter beschäftigen, sodaß an dieser Stelle der bloße Hinweis genügt.

Merkwürdigerweise lehren auch die heutigen Pessimistischen Philosophen
.den sittlichen Fortschritt. Ihr Pessimismus beschränkt sich auf die Glückseligkeit.
Bekanntlich stellen sie sich den Weltprozeß folgendermaßen vor. Im Welt¬
bünde schlummerten vor Zeiten neben einander der Wille zum Dasein und
die unbewußte Intelligenz. Eines schönen Tages entschlüpfte der Wille seiner
unbewußten und daher wohl ein wenig blöden Hüterin und beging die un¬
geheure Dummheit, sich in Wirklichkeit umzusetzen. Der Intelligenz bleibt
seitdem weiter nichts übrig, als das geschehene Unglück rückgängig zu machen.
Das ist eine ziemlich langwierige Arbeit. Zuerst muß sie sich ans dein unbe¬
wußten Zustande in den bewußten versetzen und zu diesem Zweck deu Billionen
von Jahren erfordernden Organisationsfortschritt der Materie bis zum Menscheu-
gehiru einfädeln, sodann die menschliche Kulturentwicklung so weit leiten, daß
das Menschengeschlecht sein unheilbares Elend gründlich erkennt und seine
Selbstvernichtung beschließt, die das Weltall in den Zustand des Nichtseins
zurückversetzt. Wir glauben nun zwar nicht, daß irgend ein Mensch in der
Welt diese Art Weltende im Ernste für möglich halte, wollen aber doch nicht
verfehlen, hervorzuheben, daß ohne die Überzeugung von diesen, Weltende die
pessimistische Philosophie jeder Daseinsberechtignug ermangelt. Ihre Urheber
haben neben vielem Unwahren und Verkehrten zwar auch viel Wahres und
Schönes gesagt, aber das Hütten sie ganz ebenso gut sagen können, wenn sie
anstatt vom Unbewußten vom biblischen Gott ausgegangen wären und die
Weltschöpfung ungefähr so erzählt hätten, wie wir sie in der altmodischen
biblischen Geschichte lesen. Das gilt denn auch von der pessimistischen Moral.
Sie ist einfach dem Christentum oder, wenn man will, dein uralten Volks¬
glauben entlehnt und steht mit der pessimistischen Metaphysik in gar keiner
Verbindung. Diese fordert, um sie einen Allgenblick ernst zu nehmen, nicht
den Fortschritt der Sittlichkeit, sondern nur deu Fortschritt der Erkenntnis.
Ist die Einsicht in das allgemeine Elend erst bei allen Menschen durchgerungen,
dann wird sich der Entschluß zur Selbstvernichtung auch ohne Moralität ein¬
stellen, wie sich ja auch bisher die Selbstmörder nicht gerade durch Moralität
ausgezeichnet haben. Der Entschluß, zu sterben, setzt zwar eine moralische Kraft
voraus, die jedoch keineswegs vollkommne, alles umfassende Sittlichkeit zu sein
braucht. Ja eine allgemeine hvchgesteigerte Sittlichkeit dürfte sogar dem Ent¬
schlüsse der Selbstvernichtung hinderlich sein, da es sich vollkommen gute


Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

Eine dritte, nicht Schule, sondern Gruppe von Philosophen glaubt an einen
allmählichen, wenn auch sehr langsamen und von Nückfüllen unterbrochenen
Fortschritt der Sittlichkeit und hält zugleich an der Hoffnung fest, daß dieser
Fortschritt die Glückseligkeit des Menschengeschlechts zuletzt im großen und
ganzen fordern werde. Diese Richtung gewinnt immer mehr Boden, ist in den
Grenzboten als eine erfreuliche Erscheinung begrüßt worden und wird sie wohl
noch öfter beschäftigen, sodaß an dieser Stelle der bloße Hinweis genügt.

Merkwürdigerweise lehren auch die heutigen Pessimistischen Philosophen
.den sittlichen Fortschritt. Ihr Pessimismus beschränkt sich auf die Glückseligkeit.
Bekanntlich stellen sie sich den Weltprozeß folgendermaßen vor. Im Welt¬
bünde schlummerten vor Zeiten neben einander der Wille zum Dasein und
die unbewußte Intelligenz. Eines schönen Tages entschlüpfte der Wille seiner
unbewußten und daher wohl ein wenig blöden Hüterin und beging die un¬
geheure Dummheit, sich in Wirklichkeit umzusetzen. Der Intelligenz bleibt
seitdem weiter nichts übrig, als das geschehene Unglück rückgängig zu machen.
Das ist eine ziemlich langwierige Arbeit. Zuerst muß sie sich ans dein unbe¬
wußten Zustande in den bewußten versetzen und zu diesem Zweck deu Billionen
von Jahren erfordernden Organisationsfortschritt der Materie bis zum Menscheu-
gehiru einfädeln, sodann die menschliche Kulturentwicklung so weit leiten, daß
das Menschengeschlecht sein unheilbares Elend gründlich erkennt und seine
Selbstvernichtung beschließt, die das Weltall in den Zustand des Nichtseins
zurückversetzt. Wir glauben nun zwar nicht, daß irgend ein Mensch in der
Welt diese Art Weltende im Ernste für möglich halte, wollen aber doch nicht
verfehlen, hervorzuheben, daß ohne die Überzeugung von diesen, Weltende die
pessimistische Philosophie jeder Daseinsberechtignug ermangelt. Ihre Urheber
haben neben vielem Unwahren und Verkehrten zwar auch viel Wahres und
Schönes gesagt, aber das Hütten sie ganz ebenso gut sagen können, wenn sie
anstatt vom Unbewußten vom biblischen Gott ausgegangen wären und die
Weltschöpfung ungefähr so erzählt hätten, wie wir sie in der altmodischen
biblischen Geschichte lesen. Das gilt denn auch von der pessimistischen Moral.
Sie ist einfach dem Christentum oder, wenn man will, dein uralten Volks¬
glauben entlehnt und steht mit der pessimistischen Metaphysik in gar keiner
Verbindung. Diese fordert, um sie einen Allgenblick ernst zu nehmen, nicht
den Fortschritt der Sittlichkeit, sondern nur deu Fortschritt der Erkenntnis.
Ist die Einsicht in das allgemeine Elend erst bei allen Menschen durchgerungen,
dann wird sich der Entschluß zur Selbstvernichtung auch ohne Moralität ein¬
stellen, wie sich ja auch bisher die Selbstmörder nicht gerade durch Moralität
ausgezeichnet haben. Der Entschluß, zu sterben, setzt zwar eine moralische Kraft
voraus, die jedoch keineswegs vollkommne, alles umfassende Sittlichkeit zu sein
braucht. Ja eine allgemeine hvchgesteigerte Sittlichkeit dürfte sogar dem Ent¬
schlüsse der Selbstvernichtung hinderlich sein, da es sich vollkommen gute


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/455>, abgerufen am 16.06.2024.