Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

seinem Berufe sei. Dagegen fordern wir von der Barmherzigen Schwester
eine Sanftmut, die sich durch keine Schwierigkeit in der Beschaffenheit oder
dem Benehmen ihrer Pfleglinge erbittern läßt.

Dieser Gegensatz führt uns ans den Unterschied des männlichen von weib¬
lichen Typus. In dem Widerwillen gegen das Mannweib und den weibischen
Mann ist alle Welt einig, und alles, was sich darüber sagen ließe, ist bekannt.
Aber eine Seite der Sache müssen wir doch wenigstens erwähnen, weil darüber
in neuerer Zeit Streit entstanden ist. Außerhalb der theologischen Welt war
man bis vor kurzem allgemein der Ansicht, daß auch das Verhalten in ge¬
schlechtlicher Beziehung beim Manne anders zu beurteilen sei als beim Weibe.
Das wird seit einigen Jahren von zwei entgegengesetzten Seiten her heftig
bestritten; eine streng christliche Partei will den Mann denselben Beschränkungen
unterwerfen, die von jeher für das Weib gegolten haben, und eine naturalistische
Partei beansprucht für das Weib die Freiheiten des Mannes. Wir lassen
uns auf eine Untersuchung des heikeln Gegenstandes nicht ein, sondern erinnern
nur daran, daß E. von Hartmann in einem seiner Aufsätze sich zu der ältern
und wohl auch heute noch ziemlich allgemein herrschenden Ansicht bekennt.
Ich kaun mich nicht mehr erinnern, ob er die beiden Gründe dafür anführt,
die mir als die stärksten erscheinen. Der eine, ein physiologischer, läßt sich
hier nicht darlegen. Der andre hingegen, ein sittlicher, verdient, wie mir
scheint, allgemeine Beachtung und gründliche Prüfung. Das Weib hat von
Natur uur einen Beruf: deu der Hausfrau, der Gattin und Mutter. Ohne
Züchtigkeit kann dieser Beruf nicht erfüllt werden; daher ist ein unzüchtiges
Weib für ihren Beruf ungeeignet, sie ist ein verdorbenes Weib, ein Weib
zweiter Klasse. Beim Manne fällt der Beruf mit seiner Stellung als Gatte
und Vater nicht zusammen. Er hat seineu besondern Beruf; in zweiter Linie
ist er Bürger, Mitglied eines Gemeinwesens, und erst in dritter Hausvorstand
und Fmnilienhcinpt, welche zwei Würden noch dazu getrennt vorkommen.
Ein Mann kann groß in seinem Beruf und ein hochverdienter Bürger, dabei
aber ein schlechter Gatte, Vater und Hansvorstand sein. Er kann auch ein
guter Hausvorstand, aber trotzdem ein schlechter Gatte und Vater sein. Er
kann endlich sogar ein guter Gatte und Vater sein und doch vor der Ver¬
heiratung anders gelebt haben, als man von einer zukünftigen Gattin und
Mutter unbedingt zu fordern berechtigt ist. Und während man von dem idealen
Weibe erwartet, daß sie in ihrem häuslichen Beruf aufgehe, erwartet mau
von einem idealen Manne gerade das Gegenteil. Ja es ist die Ansicht ent¬
standen, und nicht allein von Plato und der katholischen Kirche, sondern auch
von einzelnen protestantischen Fürsten und Gelehrten vertreten worden, daß
sich mit gewissen hohen, den ganzen Menschen in Anspruch nehmenden Berufs¬
arten das Familienleben schlecht oder gar nicht vertrage. Auch pflegt es
Fürsten, Künstlern und andern hervorragenden Personen, die in ihrem Berufe


Grenzboten 111 1890 62
Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

seinem Berufe sei. Dagegen fordern wir von der Barmherzigen Schwester
eine Sanftmut, die sich durch keine Schwierigkeit in der Beschaffenheit oder
dem Benehmen ihrer Pfleglinge erbittern läßt.

Dieser Gegensatz führt uns ans den Unterschied des männlichen von weib¬
lichen Typus. In dem Widerwillen gegen das Mannweib und den weibischen
Mann ist alle Welt einig, und alles, was sich darüber sagen ließe, ist bekannt.
Aber eine Seite der Sache müssen wir doch wenigstens erwähnen, weil darüber
in neuerer Zeit Streit entstanden ist. Außerhalb der theologischen Welt war
man bis vor kurzem allgemein der Ansicht, daß auch das Verhalten in ge¬
schlechtlicher Beziehung beim Manne anders zu beurteilen sei als beim Weibe.
Das wird seit einigen Jahren von zwei entgegengesetzten Seiten her heftig
bestritten; eine streng christliche Partei will den Mann denselben Beschränkungen
unterwerfen, die von jeher für das Weib gegolten haben, und eine naturalistische
Partei beansprucht für das Weib die Freiheiten des Mannes. Wir lassen
uns auf eine Untersuchung des heikeln Gegenstandes nicht ein, sondern erinnern
nur daran, daß E. von Hartmann in einem seiner Aufsätze sich zu der ältern
und wohl auch heute noch ziemlich allgemein herrschenden Ansicht bekennt.
Ich kaun mich nicht mehr erinnern, ob er die beiden Gründe dafür anführt,
die mir als die stärksten erscheinen. Der eine, ein physiologischer, läßt sich
hier nicht darlegen. Der andre hingegen, ein sittlicher, verdient, wie mir
scheint, allgemeine Beachtung und gründliche Prüfung. Das Weib hat von
Natur uur einen Beruf: deu der Hausfrau, der Gattin und Mutter. Ohne
Züchtigkeit kann dieser Beruf nicht erfüllt werden; daher ist ein unzüchtiges
Weib für ihren Beruf ungeeignet, sie ist ein verdorbenes Weib, ein Weib
zweiter Klasse. Beim Manne fällt der Beruf mit seiner Stellung als Gatte
und Vater nicht zusammen. Er hat seineu besondern Beruf; in zweiter Linie
ist er Bürger, Mitglied eines Gemeinwesens, und erst in dritter Hausvorstand
und Fmnilienhcinpt, welche zwei Würden noch dazu getrennt vorkommen.
Ein Mann kann groß in seinem Beruf und ein hochverdienter Bürger, dabei
aber ein schlechter Gatte, Vater und Hansvorstand sein. Er kann auch ein
guter Hausvorstand, aber trotzdem ein schlechter Gatte und Vater sein. Er
kann endlich sogar ein guter Gatte und Vater sein und doch vor der Ver¬
heiratung anders gelebt haben, als man von einer zukünftigen Gattin und
Mutter unbedingt zu fordern berechtigt ist. Und während man von dem idealen
Weibe erwartet, daß sie in ihrem häuslichen Beruf aufgehe, erwartet mau
von einem idealen Manne gerade das Gegenteil. Ja es ist die Ansicht ent¬
standen, und nicht allein von Plato und der katholischen Kirche, sondern auch
von einzelnen protestantischen Fürsten und Gelehrten vertreten worden, daß
sich mit gewissen hohen, den ganzen Menschen in Anspruch nehmenden Berufs¬
arten das Familienleben schlecht oder gar nicht vertrage. Auch pflegt es
Fürsten, Künstlern und andern hervorragenden Personen, die in ihrem Berufe


Grenzboten 111 1890 62
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0497" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208434"/>
          <fw type="header" place="top"> Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1549" prev="#ID_1548"> seinem Berufe sei. Dagegen fordern wir von der Barmherzigen Schwester<lb/>
eine Sanftmut, die sich durch keine Schwierigkeit in der Beschaffenheit oder<lb/>
dem Benehmen ihrer Pfleglinge erbittern läßt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1550" next="#ID_1551"> Dieser Gegensatz führt uns ans den Unterschied des männlichen von weib¬<lb/>
lichen Typus. In dem Widerwillen gegen das Mannweib und den weibischen<lb/>
Mann ist alle Welt einig, und alles, was sich darüber sagen ließe, ist bekannt.<lb/>
Aber eine Seite der Sache müssen wir doch wenigstens erwähnen, weil darüber<lb/>
in neuerer Zeit Streit entstanden ist. Außerhalb der theologischen Welt war<lb/>
man bis vor kurzem allgemein der Ansicht, daß auch das Verhalten in ge¬<lb/>
schlechtlicher Beziehung beim Manne anders zu beurteilen sei als beim Weibe.<lb/>
Das wird seit einigen Jahren von zwei entgegengesetzten Seiten her heftig<lb/>
bestritten; eine streng christliche Partei will den Mann denselben Beschränkungen<lb/>
unterwerfen, die von jeher für das Weib gegolten haben, und eine naturalistische<lb/>
Partei beansprucht für das Weib die Freiheiten des Mannes. Wir lassen<lb/>
uns auf eine Untersuchung des heikeln Gegenstandes nicht ein, sondern erinnern<lb/>
nur daran, daß E. von Hartmann in einem seiner Aufsätze sich zu der ältern<lb/>
und wohl auch heute noch ziemlich allgemein herrschenden Ansicht bekennt.<lb/>
Ich kaun mich nicht mehr erinnern, ob er die beiden Gründe dafür anführt,<lb/>
die mir als die stärksten erscheinen. Der eine, ein physiologischer, läßt sich<lb/>
hier nicht darlegen. Der andre hingegen, ein sittlicher, verdient, wie mir<lb/>
scheint, allgemeine Beachtung und gründliche Prüfung. Das Weib hat von<lb/>
Natur uur einen Beruf: deu der Hausfrau, der Gattin und Mutter. Ohne<lb/>
Züchtigkeit kann dieser Beruf nicht erfüllt werden; daher ist ein unzüchtiges<lb/>
Weib für ihren Beruf ungeeignet, sie ist ein verdorbenes Weib, ein Weib<lb/>
zweiter Klasse. Beim Manne fällt der Beruf mit seiner Stellung als Gatte<lb/>
und Vater nicht zusammen. Er hat seineu besondern Beruf; in zweiter Linie<lb/>
ist er Bürger, Mitglied eines Gemeinwesens, und erst in dritter Hausvorstand<lb/>
und Fmnilienhcinpt, welche zwei Würden noch dazu getrennt vorkommen.<lb/>
Ein Mann kann groß in seinem Beruf und ein hochverdienter Bürger, dabei<lb/>
aber ein schlechter Gatte, Vater und Hansvorstand sein. Er kann auch ein<lb/>
guter Hausvorstand, aber trotzdem ein schlechter Gatte und Vater sein. Er<lb/>
kann endlich sogar ein guter Gatte und Vater sein und doch vor der Ver¬<lb/>
heiratung anders gelebt haben, als man von einer zukünftigen Gattin und<lb/>
Mutter unbedingt zu fordern berechtigt ist. Und während man von dem idealen<lb/>
Weibe erwartet, daß sie in ihrem häuslichen Beruf aufgehe, erwartet mau<lb/>
von einem idealen Manne gerade das Gegenteil. Ja es ist die Ansicht ent¬<lb/>
standen, und nicht allein von Plato und der katholischen Kirche, sondern auch<lb/>
von einzelnen protestantischen Fürsten und Gelehrten vertreten worden, daß<lb/>
sich mit gewissen hohen, den ganzen Menschen in Anspruch nehmenden Berufs¬<lb/>
arten das Familienleben schlecht oder gar nicht vertrage. Auch pflegt es<lb/>
Fürsten, Künstlern und andern hervorragenden Personen, die in ihrem Berufe</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten 111 1890 62</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0497] Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er? seinem Berufe sei. Dagegen fordern wir von der Barmherzigen Schwester eine Sanftmut, die sich durch keine Schwierigkeit in der Beschaffenheit oder dem Benehmen ihrer Pfleglinge erbittern läßt. Dieser Gegensatz führt uns ans den Unterschied des männlichen von weib¬ lichen Typus. In dem Widerwillen gegen das Mannweib und den weibischen Mann ist alle Welt einig, und alles, was sich darüber sagen ließe, ist bekannt. Aber eine Seite der Sache müssen wir doch wenigstens erwähnen, weil darüber in neuerer Zeit Streit entstanden ist. Außerhalb der theologischen Welt war man bis vor kurzem allgemein der Ansicht, daß auch das Verhalten in ge¬ schlechtlicher Beziehung beim Manne anders zu beurteilen sei als beim Weibe. Das wird seit einigen Jahren von zwei entgegengesetzten Seiten her heftig bestritten; eine streng christliche Partei will den Mann denselben Beschränkungen unterwerfen, die von jeher für das Weib gegolten haben, und eine naturalistische Partei beansprucht für das Weib die Freiheiten des Mannes. Wir lassen uns auf eine Untersuchung des heikeln Gegenstandes nicht ein, sondern erinnern nur daran, daß E. von Hartmann in einem seiner Aufsätze sich zu der ältern und wohl auch heute noch ziemlich allgemein herrschenden Ansicht bekennt. Ich kaun mich nicht mehr erinnern, ob er die beiden Gründe dafür anführt, die mir als die stärksten erscheinen. Der eine, ein physiologischer, läßt sich hier nicht darlegen. Der andre hingegen, ein sittlicher, verdient, wie mir scheint, allgemeine Beachtung und gründliche Prüfung. Das Weib hat von Natur uur einen Beruf: deu der Hausfrau, der Gattin und Mutter. Ohne Züchtigkeit kann dieser Beruf nicht erfüllt werden; daher ist ein unzüchtiges Weib für ihren Beruf ungeeignet, sie ist ein verdorbenes Weib, ein Weib zweiter Klasse. Beim Manne fällt der Beruf mit seiner Stellung als Gatte und Vater nicht zusammen. Er hat seineu besondern Beruf; in zweiter Linie ist er Bürger, Mitglied eines Gemeinwesens, und erst in dritter Hausvorstand und Fmnilienhcinpt, welche zwei Würden noch dazu getrennt vorkommen. Ein Mann kann groß in seinem Beruf und ein hochverdienter Bürger, dabei aber ein schlechter Gatte, Vater und Hansvorstand sein. Er kann auch ein guter Hausvorstand, aber trotzdem ein schlechter Gatte und Vater sein. Er kann endlich sogar ein guter Gatte und Vater sein und doch vor der Ver¬ heiratung anders gelebt haben, als man von einer zukünftigen Gattin und Mutter unbedingt zu fordern berechtigt ist. Und während man von dem idealen Weibe erwartet, daß sie in ihrem häuslichen Beruf aufgehe, erwartet mau von einem idealen Manne gerade das Gegenteil. Ja es ist die Ansicht ent¬ standen, und nicht allein von Plato und der katholischen Kirche, sondern auch von einzelnen protestantischen Fürsten und Gelehrten vertreten worden, daß sich mit gewissen hohen, den ganzen Menschen in Anspruch nehmenden Berufs¬ arten das Familienleben schlecht oder gar nicht vertrage. Auch pflegt es Fürsten, Künstlern und andern hervorragenden Personen, die in ihrem Berufe Grenzboten 111 1890 62

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/497
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/497>, abgerufen am 24.05.2024.