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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

Großes leisten, nicht allem von ihren Verehrern, sondern vom ganzen Bolle
verziehen zu werden, wenn sie in jenem Punkte zu wünschen übrig lassen.
Sind sie auch hierin untadelhaft und Vorbilder des Volkes, wie die meisten
Hohenzollern und Fürst Vismarck, so wird das als eine besondre Gnade Gottes
gepriesen, aber allgemein erwartet wird es nicht. Anderseits sieht man Frauen,
die gleich den Männern einen besondern Beruf ergreifen, nach Emanzipation
streben. Unter den Herrscherinnen hat Maria Theresia eine rühmliche Aus¬
nahme gemacht. Daß die höchst achtbaren Mädchen, die unter den heutigen
unnatürlichen Verhältnissen nach Münnerart einen förmlichen Beruf ergreifen,
der nicht wie der frühere Dienstbotenstand eine Vorbereitung aus den Haus-
frciuenstand ist, daß diese Mädchen der großen Mehrzahl nach auf das weibliche
Ideal weder im Herzen verzichten noch ihm im Leben untreu werden, wollen
wir gern glauben, begreifen aber zugleich auch, wie unter solchen Umständen
Emanzivationsgelüste und widernatürliche Theorien entstehen müssen. Mag
man nun von der ersten der beiden oben genannten Richtungen denken, wie
man will, um der Verwerflichkeit und Schädlichkeit der zweiten kann nicht ge¬
zweifelt werden; überwunden könnte sie freilich nur werden dnrch die Beseitigung
der Verhältnisse, aus denen sie entspringt.

Vom Geistlichen verlangt man vor allem diejenige Sittlichkeit, die ich
negativ nennen würde, wenn dieser Ausdruck uicht meistens in einem andern
Sinne gebraucht würde; man nimmt es ihm mehr als andern übel, wenn er
durch lasterhafte Gewohnheiten und augenfällige Vergehungen Anstoß und seiner
Gemeinde ein schlechtes Beispiel giebt, durch seinen Wandel seine eigne Predigt
verhöhnt. Dagegen beurteilt man den Staatsmann, den Feldherr", deu Künstler
und den Geschäftsmann nach ihren positiven Leistungen. Dem Staatsmann
und Feldherrn nimmt man harte Maßregeln, die das Gemeinwohl forderte,
dem Künstler seine Liebesabenteuer nicht übel, und wer mit kühnem Wagen
Millionen gewinnt, bei dein spürt man nicht nach, ob auch kein ungerechter
Pfennig dabei ist. Man weiß es eben: wo geschmiedet wird, da giebts Rauch,
und wo gezimmert wird, da fliegen Späne; in der Werkstatt kann es nicht
aussehen wie in der Putzstube, und beim Banen häuft sich Schmutz. Wir
sehen, der geistliche Stand hat darin einige Ähnlichkeit mit dem Weibe und
verkümmert auch gleich diesem, indem er aus Furcht vor Anstoß einer ener¬
gischen und vielumfassenden Thätigkeit ängstlich ans dem Wege geht, leicht zu
einem engherzigen, lultnrarmen Wesen. Der katholischen Kirche, in der das
geistliche Element so entschieden vorherrscht, ist der weibliche Charakter ganz
deutlich aufgeprägt, obwohl ihr Klerus und Volk dem Ideal weiblicher Rein¬
heit, das sie hochhalten, öfter ungetreu geworden als treu geblieben siud.

Damit hätten wir einen passenden Übergang zu den Vollsthpen, denn
die Romanen stehen, wie Fürst Vismarck einmal treffend bemerkte, als weib¬
liche Seelen dem männlichen Geiste des deutschen Volkes gegenüber, und in


Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

Großes leisten, nicht allem von ihren Verehrern, sondern vom ganzen Bolle
verziehen zu werden, wenn sie in jenem Punkte zu wünschen übrig lassen.
Sind sie auch hierin untadelhaft und Vorbilder des Volkes, wie die meisten
Hohenzollern und Fürst Vismarck, so wird das als eine besondre Gnade Gottes
gepriesen, aber allgemein erwartet wird es nicht. Anderseits sieht man Frauen,
die gleich den Männern einen besondern Beruf ergreifen, nach Emanzipation
streben. Unter den Herrscherinnen hat Maria Theresia eine rühmliche Aus¬
nahme gemacht. Daß die höchst achtbaren Mädchen, die unter den heutigen
unnatürlichen Verhältnissen nach Münnerart einen förmlichen Beruf ergreifen,
der nicht wie der frühere Dienstbotenstand eine Vorbereitung aus den Haus-
frciuenstand ist, daß diese Mädchen der großen Mehrzahl nach auf das weibliche
Ideal weder im Herzen verzichten noch ihm im Leben untreu werden, wollen
wir gern glauben, begreifen aber zugleich auch, wie unter solchen Umständen
Emanzivationsgelüste und widernatürliche Theorien entstehen müssen. Mag
man nun von der ersten der beiden oben genannten Richtungen denken, wie
man will, um der Verwerflichkeit und Schädlichkeit der zweiten kann nicht ge¬
zweifelt werden; überwunden könnte sie freilich nur werden dnrch die Beseitigung
der Verhältnisse, aus denen sie entspringt.

Vom Geistlichen verlangt man vor allem diejenige Sittlichkeit, die ich
negativ nennen würde, wenn dieser Ausdruck uicht meistens in einem andern
Sinne gebraucht würde; man nimmt es ihm mehr als andern übel, wenn er
durch lasterhafte Gewohnheiten und augenfällige Vergehungen Anstoß und seiner
Gemeinde ein schlechtes Beispiel giebt, durch seinen Wandel seine eigne Predigt
verhöhnt. Dagegen beurteilt man den Staatsmann, den Feldherr», deu Künstler
und den Geschäftsmann nach ihren positiven Leistungen. Dem Staatsmann
und Feldherrn nimmt man harte Maßregeln, die das Gemeinwohl forderte,
dem Künstler seine Liebesabenteuer nicht übel, und wer mit kühnem Wagen
Millionen gewinnt, bei dein spürt man nicht nach, ob auch kein ungerechter
Pfennig dabei ist. Man weiß es eben: wo geschmiedet wird, da giebts Rauch,
und wo gezimmert wird, da fliegen Späne; in der Werkstatt kann es nicht
aussehen wie in der Putzstube, und beim Banen häuft sich Schmutz. Wir
sehen, der geistliche Stand hat darin einige Ähnlichkeit mit dem Weibe und
verkümmert auch gleich diesem, indem er aus Furcht vor Anstoß einer ener¬
gischen und vielumfassenden Thätigkeit ängstlich ans dem Wege geht, leicht zu
einem engherzigen, lultnrarmen Wesen. Der katholischen Kirche, in der das
geistliche Element so entschieden vorherrscht, ist der weibliche Charakter ganz
deutlich aufgeprägt, obwohl ihr Klerus und Volk dem Ideal weiblicher Rein¬
heit, das sie hochhalten, öfter ungetreu geworden als treu geblieben siud.

Damit hätten wir einen passenden Übergang zu den Vollsthpen, denn
die Romanen stehen, wie Fürst Vismarck einmal treffend bemerkte, als weib¬
liche Seelen dem männlichen Geiste des deutschen Volkes gegenüber, und in


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[0498] Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er? Großes leisten, nicht allem von ihren Verehrern, sondern vom ganzen Bolle verziehen zu werden, wenn sie in jenem Punkte zu wünschen übrig lassen. Sind sie auch hierin untadelhaft und Vorbilder des Volkes, wie die meisten Hohenzollern und Fürst Vismarck, so wird das als eine besondre Gnade Gottes gepriesen, aber allgemein erwartet wird es nicht. Anderseits sieht man Frauen, die gleich den Männern einen besondern Beruf ergreifen, nach Emanzipation streben. Unter den Herrscherinnen hat Maria Theresia eine rühmliche Aus¬ nahme gemacht. Daß die höchst achtbaren Mädchen, die unter den heutigen unnatürlichen Verhältnissen nach Münnerart einen förmlichen Beruf ergreifen, der nicht wie der frühere Dienstbotenstand eine Vorbereitung aus den Haus- frciuenstand ist, daß diese Mädchen der großen Mehrzahl nach auf das weibliche Ideal weder im Herzen verzichten noch ihm im Leben untreu werden, wollen wir gern glauben, begreifen aber zugleich auch, wie unter solchen Umständen Emanzivationsgelüste und widernatürliche Theorien entstehen müssen. Mag man nun von der ersten der beiden oben genannten Richtungen denken, wie man will, um der Verwerflichkeit und Schädlichkeit der zweiten kann nicht ge¬ zweifelt werden; überwunden könnte sie freilich nur werden dnrch die Beseitigung der Verhältnisse, aus denen sie entspringt. Vom Geistlichen verlangt man vor allem diejenige Sittlichkeit, die ich negativ nennen würde, wenn dieser Ausdruck uicht meistens in einem andern Sinne gebraucht würde; man nimmt es ihm mehr als andern übel, wenn er durch lasterhafte Gewohnheiten und augenfällige Vergehungen Anstoß und seiner Gemeinde ein schlechtes Beispiel giebt, durch seinen Wandel seine eigne Predigt verhöhnt. Dagegen beurteilt man den Staatsmann, den Feldherr», deu Künstler und den Geschäftsmann nach ihren positiven Leistungen. Dem Staatsmann und Feldherrn nimmt man harte Maßregeln, die das Gemeinwohl forderte, dem Künstler seine Liebesabenteuer nicht übel, und wer mit kühnem Wagen Millionen gewinnt, bei dein spürt man nicht nach, ob auch kein ungerechter Pfennig dabei ist. Man weiß es eben: wo geschmiedet wird, da giebts Rauch, und wo gezimmert wird, da fliegen Späne; in der Werkstatt kann es nicht aussehen wie in der Putzstube, und beim Banen häuft sich Schmutz. Wir sehen, der geistliche Stand hat darin einige Ähnlichkeit mit dem Weibe und verkümmert auch gleich diesem, indem er aus Furcht vor Anstoß einer ener¬ gischen und vielumfassenden Thätigkeit ängstlich ans dem Wege geht, leicht zu einem engherzigen, lultnrarmen Wesen. Der katholischen Kirche, in der das geistliche Element so entschieden vorherrscht, ist der weibliche Charakter ganz deutlich aufgeprägt, obwohl ihr Klerus und Volk dem Ideal weiblicher Rein¬ heit, das sie hochhalten, öfter ungetreu geworden als treu geblieben siud. Damit hätten wir einen passenden Übergang zu den Vollsthpen, denn die Romanen stehen, wie Fürst Vismarck einmal treffend bemerkte, als weib¬ liche Seelen dem männlichen Geiste des deutschen Volkes gegenüber, und in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/498>, abgerufen am 16.06.2024.