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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte

irische Bewegungen oder selbständige Parallelströme zerlegen, auf denen man
unbekümmert um die übrigen Triebkräfte einherfahren kann; sie bildet ein so
verwickeltes Adersystem über und unter einander flutender Strömungen, daß
man eine einzelne Knlturerscheinung nicht verfolgen kann, ohne in alle übrigen
Hineinzugeraten.

Wer die Kultur eines Zeitraumes richtig verstehen und darstellen will,
darf sein Studium nicht auf die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse
beschränken; er muß ein klares Bild von den gesellschaftlichen Zuständen, von
den Sitten und Gebräuchen, von der Lebensweise und der Tracht der Zeit
besitzen; er muß das geistige und künstlerische Leben mit allen seinen Be¬
strebungen, Gegensätzen und Kämpfen verstehen, aus allen diesen einzelnen Er¬
scheinungen die gemeinsamen Züge herausfinden und durch allmähliche Poten-
zirung der Besonderheiten den eigentümlichen hervorstechenden Charakter des
Zeitraumes zu gewinnen wissen. Das ist eine schwierige Aufgabe; sie verlangt
weniger den einseitigen analytischen Scharfsinn der Spezialgelehrten, der seineu
Stollen unbekümmert um die andern Bestandteile des Erdreichs gräbt und
bis zum letzten Reste ausbeutet. Es gehört dazu ein philosophischer Kopf,
ein umfassender Geist, eine synthetische Kraft, die aus einer kleinen Holzfaser
auf die Art und den Wuchs des ganzen Baumes, aus einem Knochen auf den
Gesamtorganismus, aus einer Kulturerscheinung auf den Charakter und den
Geist einer ganzen Kulturperivde zu schließen vermag. Wer z. B. nichts weiter
versteht, als die eichene Holzfaser in ihre chemischen Bestandteile zu zerlegen,
also analytisch verfährt, der wird niemals zum Begriff eiuer Eiche gelangen;
wer eine einzelne Kultnrerscheinung, ein Kunstwerk, eine religiöse oder volks¬
wirtschaftliche Einrichtung nur als solche prüft, wird niemals eine richtige
Vorstellung von der Gesamtkultur einer Zeit gewinnen.

Die Kulturgeschichte ist eine konstruktive Wissenschaft; sie arbeitet wie die
Paläontologie mit Überresten der Vergangenheit und hat daher etwas von der
Sicherheit naturwissenschaftlicher Forschung -- nur mit dem Unterschiede, daß
sie nicht mikroskopisch, sondern makroskopisch verfährt. Es genügt ihr z. B.,
festzustelle", welcher Geist und welche Tendenz sich in diesem oder jenem Kunst¬
werke offenbart, aber sie hat gar kein oder nur ein geringes Interesse daran,
welche technischen oder künstlerischen Voraussetzungen dem Werke zu Grunde
liegen, welcher Schule es angehört, wie der Meister heißt, ob es eine Kopie
oder ein Original ist. Sehr richtig sagt Henne am Rhyn in seinen kultur¬
geschichtlichen Skizzen: "Wie die Naturwissenschaften das nach Naturgesetzen
entstandene (ruwen), so behandelt die Kulturgeschichte das unabhängig von
den Naturgesetzen geschaffene, gepflegte, gebildete (eulwin). Die Kultur¬
geschichte ist demnach die Darstellung der durch die Naturgesetze nicht erklär¬
baren großen und wichtigen Ereignisse und Zustände im Dasein des Menschen;
sie ist die Erzählung dessen, was der Mensch vollbracht hat, ohne dazu durch


Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte

irische Bewegungen oder selbständige Parallelströme zerlegen, auf denen man
unbekümmert um die übrigen Triebkräfte einherfahren kann; sie bildet ein so
verwickeltes Adersystem über und unter einander flutender Strömungen, daß
man eine einzelne Knlturerscheinung nicht verfolgen kann, ohne in alle übrigen
Hineinzugeraten.

Wer die Kultur eines Zeitraumes richtig verstehen und darstellen will,
darf sein Studium nicht auf die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse
beschränken; er muß ein klares Bild von den gesellschaftlichen Zuständen, von
den Sitten und Gebräuchen, von der Lebensweise und der Tracht der Zeit
besitzen; er muß das geistige und künstlerische Leben mit allen seinen Be¬
strebungen, Gegensätzen und Kämpfen verstehen, aus allen diesen einzelnen Er¬
scheinungen die gemeinsamen Züge herausfinden und durch allmähliche Poten-
zirung der Besonderheiten den eigentümlichen hervorstechenden Charakter des
Zeitraumes zu gewinnen wissen. Das ist eine schwierige Aufgabe; sie verlangt
weniger den einseitigen analytischen Scharfsinn der Spezialgelehrten, der seineu
Stollen unbekümmert um die andern Bestandteile des Erdreichs gräbt und
bis zum letzten Reste ausbeutet. Es gehört dazu ein philosophischer Kopf,
ein umfassender Geist, eine synthetische Kraft, die aus einer kleinen Holzfaser
auf die Art und den Wuchs des ganzen Baumes, aus einem Knochen auf den
Gesamtorganismus, aus einer Kulturerscheinung auf den Charakter und den
Geist einer ganzen Kulturperivde zu schließen vermag. Wer z. B. nichts weiter
versteht, als die eichene Holzfaser in ihre chemischen Bestandteile zu zerlegen,
also analytisch verfährt, der wird niemals zum Begriff eiuer Eiche gelangen;
wer eine einzelne Kultnrerscheinung, ein Kunstwerk, eine religiöse oder volks¬
wirtschaftliche Einrichtung nur als solche prüft, wird niemals eine richtige
Vorstellung von der Gesamtkultur einer Zeit gewinnen.

Die Kulturgeschichte ist eine konstruktive Wissenschaft; sie arbeitet wie die
Paläontologie mit Überresten der Vergangenheit und hat daher etwas von der
Sicherheit naturwissenschaftlicher Forschung — nur mit dem Unterschiede, daß
sie nicht mikroskopisch, sondern makroskopisch verfährt. Es genügt ihr z. B.,
festzustelle», welcher Geist und welche Tendenz sich in diesem oder jenem Kunst¬
werke offenbart, aber sie hat gar kein oder nur ein geringes Interesse daran,
welche technischen oder künstlerischen Voraussetzungen dem Werke zu Grunde
liegen, welcher Schule es angehört, wie der Meister heißt, ob es eine Kopie
oder ein Original ist. Sehr richtig sagt Henne am Rhyn in seinen kultur¬
geschichtlichen Skizzen: „Wie die Naturwissenschaften das nach Naturgesetzen
entstandene (ruwen), so behandelt die Kulturgeschichte das unabhängig von
den Naturgesetzen geschaffene, gepflegte, gebildete (eulwin). Die Kultur¬
geschichte ist demnach die Darstellung der durch die Naturgesetze nicht erklär¬
baren großen und wichtigen Ereignisse und Zustände im Dasein des Menschen;
sie ist die Erzählung dessen, was der Mensch vollbracht hat, ohne dazu durch


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[0549] Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte irische Bewegungen oder selbständige Parallelströme zerlegen, auf denen man unbekümmert um die übrigen Triebkräfte einherfahren kann; sie bildet ein so verwickeltes Adersystem über und unter einander flutender Strömungen, daß man eine einzelne Knlturerscheinung nicht verfolgen kann, ohne in alle übrigen Hineinzugeraten. Wer die Kultur eines Zeitraumes richtig verstehen und darstellen will, darf sein Studium nicht auf die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse beschränken; er muß ein klares Bild von den gesellschaftlichen Zuständen, von den Sitten und Gebräuchen, von der Lebensweise und der Tracht der Zeit besitzen; er muß das geistige und künstlerische Leben mit allen seinen Be¬ strebungen, Gegensätzen und Kämpfen verstehen, aus allen diesen einzelnen Er¬ scheinungen die gemeinsamen Züge herausfinden und durch allmähliche Poten- zirung der Besonderheiten den eigentümlichen hervorstechenden Charakter des Zeitraumes zu gewinnen wissen. Das ist eine schwierige Aufgabe; sie verlangt weniger den einseitigen analytischen Scharfsinn der Spezialgelehrten, der seineu Stollen unbekümmert um die andern Bestandteile des Erdreichs gräbt und bis zum letzten Reste ausbeutet. Es gehört dazu ein philosophischer Kopf, ein umfassender Geist, eine synthetische Kraft, die aus einer kleinen Holzfaser auf die Art und den Wuchs des ganzen Baumes, aus einem Knochen auf den Gesamtorganismus, aus einer Kulturerscheinung auf den Charakter und den Geist einer ganzen Kulturperivde zu schließen vermag. Wer z. B. nichts weiter versteht, als die eichene Holzfaser in ihre chemischen Bestandteile zu zerlegen, also analytisch verfährt, der wird niemals zum Begriff eiuer Eiche gelangen; wer eine einzelne Kultnrerscheinung, ein Kunstwerk, eine religiöse oder volks¬ wirtschaftliche Einrichtung nur als solche prüft, wird niemals eine richtige Vorstellung von der Gesamtkultur einer Zeit gewinnen. Die Kulturgeschichte ist eine konstruktive Wissenschaft; sie arbeitet wie die Paläontologie mit Überresten der Vergangenheit und hat daher etwas von der Sicherheit naturwissenschaftlicher Forschung — nur mit dem Unterschiede, daß sie nicht mikroskopisch, sondern makroskopisch verfährt. Es genügt ihr z. B., festzustelle», welcher Geist und welche Tendenz sich in diesem oder jenem Kunst¬ werke offenbart, aber sie hat gar kein oder nur ein geringes Interesse daran, welche technischen oder künstlerischen Voraussetzungen dem Werke zu Grunde liegen, welcher Schule es angehört, wie der Meister heißt, ob es eine Kopie oder ein Original ist. Sehr richtig sagt Henne am Rhyn in seinen kultur¬ geschichtlichen Skizzen: „Wie die Naturwissenschaften das nach Naturgesetzen entstandene (ruwen), so behandelt die Kulturgeschichte das unabhängig von den Naturgesetzen geschaffene, gepflegte, gebildete (eulwin). Die Kultur¬ geschichte ist demnach die Darstellung der durch die Naturgesetze nicht erklär¬ baren großen und wichtigen Ereignisse und Zustände im Dasein des Menschen; sie ist die Erzählung dessen, was der Mensch vollbracht hat, ohne dazu durch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/549>, abgerufen am 14.05.2024.