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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte

die Natur angetrieben zu werden; sie ist die Geschichte im höchsten, reinsten
Sinne und Geiste." Unter Natur sind hier die natürlichen Bedürfnisse, der
Instinkt, die animalischen Voraussetzungen des Menschen zu verstehen, denn
mittelbar ist der Mensch durch die ihn umgebende feindliche Natur jederzeit
zur Anspannung und Ausnutzung seiner körperlichen und geistigen Kräfte an¬
getrieben worden, und in diesem Sinne könnte man die Kultur auch als die
Unterwerfung der Naturmächte und des toten Stoffes unter den menschlichen
Geist und Willen bezeichnen. Erst später traten zu diesem Kampfe mit der
Natur als zweite Triebfeder der jede Geisteskraft aufstachelnde Wettstreit unter
den Menschen und Völkern und als dritte Triebfeder der innere unwiderstehliche
Drang nach geistiger Bethätigung, nach Ausnutzung der schöpferischen Phan¬
tasie, nach Befriedigung der metaphysischen Bedürfnisse, nach Lösung neuer
Aufgaben und Probleme.

Wachsendes Bedürfnis verlangt wachsende Produktivität, ein gesteigerter
Angriff verlangt einen gesteigerten Schutz, künstlerische oder litterarische Über¬
sättigung verlangt neue Anschauungen und neue Formen. Daher rührt das
aussteigende Leben der Kulturvölker aus unzähligen Quellen her; die einzelnen
Stufen unterscheiden sich nur dadurch, daß auf ihnen jedesmal eine einzelne
Lebensrichtung besonders stark hervortritt. Man kann fast überall in der Ge¬
schichte der Nationen nach einander eine religiöse, eine kriegerische, eine künst¬
lerische, eine materielle oder wirtschaftliche Hauptströmung unterscheiden. So
folgt im Mittelalter auf das kirchliche Leben das kampflustige Rittertum mit
seinen Kreuzzügen und weltlichen Fehden, dann die geistige Blüte in der Litte¬
ratur, dann die wirtschaftliche Entwicklung des Bürgertums und des Städte¬
wesens; so zeigt sich nach dem religiös bewegten Zeitalter der Reformation
von neuem eine kriegerische Lebensrichtung, die bis ins vorige Jahrhundert
reicht, und im Anschluß daran eine fruchtbare künstlerische Periode, die in
unserm Jahrhundert vor den wirtschaftlichen Kulturbewegungen immer weiter
zurücktreten muß. Ähnliche Erscheinungen finden wir in der Geschichte der
Griechen und Römer, in der Geschichte Frankreichs, Englands und Italiens.
Natürlich müssen diese charakteristischen Lebensrichtungen in den verschiednen
Kulturperioden auch ein verschiednes Gepräge annehmen. Der wirtschaftliche
Zug des spätern Mittelalters muß sich anders äußern als der unsrer Zeit,
eine besonders hervortretende Strömung wird nicht mit einem Schlage auf¬
hören, sobald sich eine neue Kulturbewegung Bahn gebrochen hat.

Denn auch im Leben der Völker wirkt das Beharrungsvermögen oder das
Trägheitsgesetz. So nur ist es zu erklären, daß wir in Zeiten, die alle Über¬
lieferungen über den Haufen werfen, überall neue Lebensformen schaffen und
die staatliche und wirtschaftliche Bedeutung des Volkes von Grund aus um¬
gestalten, doch künstlerische und litterarische Strömungen finden, die unbeeinflußt
ihre alte Richtung beibehalten. Das achtzehnte Jahrhundert mit seiner alle


Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte

die Natur angetrieben zu werden; sie ist die Geschichte im höchsten, reinsten
Sinne und Geiste." Unter Natur sind hier die natürlichen Bedürfnisse, der
Instinkt, die animalischen Voraussetzungen des Menschen zu verstehen, denn
mittelbar ist der Mensch durch die ihn umgebende feindliche Natur jederzeit
zur Anspannung und Ausnutzung seiner körperlichen und geistigen Kräfte an¬
getrieben worden, und in diesem Sinne könnte man die Kultur auch als die
Unterwerfung der Naturmächte und des toten Stoffes unter den menschlichen
Geist und Willen bezeichnen. Erst später traten zu diesem Kampfe mit der
Natur als zweite Triebfeder der jede Geisteskraft aufstachelnde Wettstreit unter
den Menschen und Völkern und als dritte Triebfeder der innere unwiderstehliche
Drang nach geistiger Bethätigung, nach Ausnutzung der schöpferischen Phan¬
tasie, nach Befriedigung der metaphysischen Bedürfnisse, nach Lösung neuer
Aufgaben und Probleme.

Wachsendes Bedürfnis verlangt wachsende Produktivität, ein gesteigerter
Angriff verlangt einen gesteigerten Schutz, künstlerische oder litterarische Über¬
sättigung verlangt neue Anschauungen und neue Formen. Daher rührt das
aussteigende Leben der Kulturvölker aus unzähligen Quellen her; die einzelnen
Stufen unterscheiden sich nur dadurch, daß auf ihnen jedesmal eine einzelne
Lebensrichtung besonders stark hervortritt. Man kann fast überall in der Ge¬
schichte der Nationen nach einander eine religiöse, eine kriegerische, eine künst¬
lerische, eine materielle oder wirtschaftliche Hauptströmung unterscheiden. So
folgt im Mittelalter auf das kirchliche Leben das kampflustige Rittertum mit
seinen Kreuzzügen und weltlichen Fehden, dann die geistige Blüte in der Litte¬
ratur, dann die wirtschaftliche Entwicklung des Bürgertums und des Städte¬
wesens; so zeigt sich nach dem religiös bewegten Zeitalter der Reformation
von neuem eine kriegerische Lebensrichtung, die bis ins vorige Jahrhundert
reicht, und im Anschluß daran eine fruchtbare künstlerische Periode, die in
unserm Jahrhundert vor den wirtschaftlichen Kulturbewegungen immer weiter
zurücktreten muß. Ähnliche Erscheinungen finden wir in der Geschichte der
Griechen und Römer, in der Geschichte Frankreichs, Englands und Italiens.
Natürlich müssen diese charakteristischen Lebensrichtungen in den verschiednen
Kulturperioden auch ein verschiednes Gepräge annehmen. Der wirtschaftliche
Zug des spätern Mittelalters muß sich anders äußern als der unsrer Zeit,
eine besonders hervortretende Strömung wird nicht mit einem Schlage auf¬
hören, sobald sich eine neue Kulturbewegung Bahn gebrochen hat.

Denn auch im Leben der Völker wirkt das Beharrungsvermögen oder das
Trägheitsgesetz. So nur ist es zu erklären, daß wir in Zeiten, die alle Über¬
lieferungen über den Haufen werfen, überall neue Lebensformen schaffen und
die staatliche und wirtschaftliche Bedeutung des Volkes von Grund aus um¬
gestalten, doch künstlerische und litterarische Strömungen finden, die unbeeinflußt
ihre alte Richtung beibehalten. Das achtzehnte Jahrhundert mit seiner alle


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[0550] Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte die Natur angetrieben zu werden; sie ist die Geschichte im höchsten, reinsten Sinne und Geiste." Unter Natur sind hier die natürlichen Bedürfnisse, der Instinkt, die animalischen Voraussetzungen des Menschen zu verstehen, denn mittelbar ist der Mensch durch die ihn umgebende feindliche Natur jederzeit zur Anspannung und Ausnutzung seiner körperlichen und geistigen Kräfte an¬ getrieben worden, und in diesem Sinne könnte man die Kultur auch als die Unterwerfung der Naturmächte und des toten Stoffes unter den menschlichen Geist und Willen bezeichnen. Erst später traten zu diesem Kampfe mit der Natur als zweite Triebfeder der jede Geisteskraft aufstachelnde Wettstreit unter den Menschen und Völkern und als dritte Triebfeder der innere unwiderstehliche Drang nach geistiger Bethätigung, nach Ausnutzung der schöpferischen Phan¬ tasie, nach Befriedigung der metaphysischen Bedürfnisse, nach Lösung neuer Aufgaben und Probleme. Wachsendes Bedürfnis verlangt wachsende Produktivität, ein gesteigerter Angriff verlangt einen gesteigerten Schutz, künstlerische oder litterarische Über¬ sättigung verlangt neue Anschauungen und neue Formen. Daher rührt das aussteigende Leben der Kulturvölker aus unzähligen Quellen her; die einzelnen Stufen unterscheiden sich nur dadurch, daß auf ihnen jedesmal eine einzelne Lebensrichtung besonders stark hervortritt. Man kann fast überall in der Ge¬ schichte der Nationen nach einander eine religiöse, eine kriegerische, eine künst¬ lerische, eine materielle oder wirtschaftliche Hauptströmung unterscheiden. So folgt im Mittelalter auf das kirchliche Leben das kampflustige Rittertum mit seinen Kreuzzügen und weltlichen Fehden, dann die geistige Blüte in der Litte¬ ratur, dann die wirtschaftliche Entwicklung des Bürgertums und des Städte¬ wesens; so zeigt sich nach dem religiös bewegten Zeitalter der Reformation von neuem eine kriegerische Lebensrichtung, die bis ins vorige Jahrhundert reicht, und im Anschluß daran eine fruchtbare künstlerische Periode, die in unserm Jahrhundert vor den wirtschaftlichen Kulturbewegungen immer weiter zurücktreten muß. Ähnliche Erscheinungen finden wir in der Geschichte der Griechen und Römer, in der Geschichte Frankreichs, Englands und Italiens. Natürlich müssen diese charakteristischen Lebensrichtungen in den verschiednen Kulturperioden auch ein verschiednes Gepräge annehmen. Der wirtschaftliche Zug des spätern Mittelalters muß sich anders äußern als der unsrer Zeit, eine besonders hervortretende Strömung wird nicht mit einem Schlage auf¬ hören, sobald sich eine neue Kulturbewegung Bahn gebrochen hat. Denn auch im Leben der Völker wirkt das Beharrungsvermögen oder das Trägheitsgesetz. So nur ist es zu erklären, daß wir in Zeiten, die alle Über¬ lieferungen über den Haufen werfen, überall neue Lebensformen schaffen und die staatliche und wirtschaftliche Bedeutung des Volkes von Grund aus um¬ gestalten, doch künstlerische und litterarische Strömungen finden, die unbeeinflußt ihre alte Richtung beibehalten. Das achtzehnte Jahrhundert mit seiner alle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/550>, abgerufen am 29.05.2024.