Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Vie Anfgcil'e der Gegenpart

Diese "erziehliche" Thätigkeit setzt freilich die des Hauses voraus, sie ist
doch nur die Ergänzung der häuslichen Erziehung und kauu uicht die Aufgabe
haben, wider das Haus zu kämpfen und das gut zu macheu, was das Haus
verdirbt. Aber das ist eben die gegenwärtige Lage. Man kauu die
Beobachtung machen, daß in dem Maße, als die Selbstbestimmung des
einzelnen Menschen, der der Leitung bedarf, freier gemacht wird, die Fähig¬
keit der Selbstbestimmung schwindet; der Mensch verliert sich selbst ans der
Hand, er verliert das Regiment über sich selbst, und in demselben Maße ver¬
liert er die Fähigkeit, seine Kinder zu erziehen. Auch das ist die gegenwärtige
Lage. Einem großen Teile unsers Volkes ist die Kunst, die Kinder zu erziehen,
gänzlich abhanden gekommen. Es liegt nicht so sehr an dem Erwerb außer
dem Hause, es liegt an der sittlichen Ohnmacht, an der Willenlosigkeit der
Eltern, wenn die Kinder nicht geraten.

Nun solls die Schule machen. Schön. Aber mit welchen Mitteln? Der
verwahrlosten Gesellschaft gegenüber, die das Wort Gehorsam uicht keimt, muß
doch erst der Stock einmal ein freundlich-ernstes Wort mit reden. Dn geht
aber ein Heidenspektakel los. Natürlich nehmen die Eltern die Goldsöhnchen in
Schutz, und die eutrüstetsteu Mütter stürmen das Haus des Lokalschulinspektors.
Der giebt der Klägerin zu bedenken, sie möge Gott danken, daß der Schlingel
die ihm Ankommenden Schläge, die die Eltern versäumt hätten, in der Schule
erhalte. Solche Auseinandersetzungen kamen früher alle Tage vor. Wenn
sich die lieben Eltern ausgetobt hatten, so wars abgethan. Vorausgesetzt, daß
der Lehrer mit dem vorschriftsmäßigen Stocke die vorschriftsmäßigen fünf
Hiebe auf die vorschriftsmäßige Körperstelle gebracht hatte, war nichts weiter
zu machen, der Lehrer genoß den ihm dringend nötigen amtlichen Schutz. Der
ist nun weggefallen. Die Gerichte verurteilen bei einer nach ihrer Meinung
vorliegenden Strafrechtsüberschreitung den Lehrer wegen Körperverletzung zu
Gefängnis. Die Meinung des Richters wird durch das Gutachten des Arztes
bestimmt, das aber gänzlich unberechenbar ist. Der eine Arzt schickt den sich
beklagenden Bengel lachend fort, und der andre, von Hygiene, Gefühlsdusel
und Unerfahrenheit bestimmt, mißt den Striemen mit dem Zcntimetermaß, kon-
statirt eine Hantabschürfung und erwägt die möglichen gesundheitsschädlichen
Folgen, und der Lehrer -- sitzt im Loche! Um ihn uicht doppelt zu strafen,
hat der Minister alle seine besondern Strafbestimmungen zurückgezogen. Aber
der Lehrer hat nun keinen Schutz mehr. Was ist die Folge? Er stellt seinen
Stock in die Ecke und läßt es gehen, wie es gehen will, was ihm doch wahr¬
haftig nicht zu verdenken ist.

Nun giebt es ja noch andre und bessere Erziehungsmittel als den Stock,
und ein tüchtiger Lehrer wird auch ohne ihn auskommen; aber einesteils giebt
es der Natur der Sache nach nicht bloß tüchtige Lehrer, und anderseits ist es
eine merkwürdige Sache, daß, wenn die ultima r-Mo gebrochen ist, die andern


Vie Anfgcil'e der Gegenpart

Diese „erziehliche" Thätigkeit setzt freilich die des Hauses voraus, sie ist
doch nur die Ergänzung der häuslichen Erziehung und kauu uicht die Aufgabe
haben, wider das Haus zu kämpfen und das gut zu macheu, was das Haus
verdirbt. Aber das ist eben die gegenwärtige Lage. Man kauu die
Beobachtung machen, daß in dem Maße, als die Selbstbestimmung des
einzelnen Menschen, der der Leitung bedarf, freier gemacht wird, die Fähig¬
keit der Selbstbestimmung schwindet; der Mensch verliert sich selbst ans der
Hand, er verliert das Regiment über sich selbst, und in demselben Maße ver¬
liert er die Fähigkeit, seine Kinder zu erziehen. Auch das ist die gegenwärtige
Lage. Einem großen Teile unsers Volkes ist die Kunst, die Kinder zu erziehen,
gänzlich abhanden gekommen. Es liegt nicht so sehr an dem Erwerb außer
dem Hause, es liegt an der sittlichen Ohnmacht, an der Willenlosigkeit der
Eltern, wenn die Kinder nicht geraten.

Nun solls die Schule machen. Schön. Aber mit welchen Mitteln? Der
verwahrlosten Gesellschaft gegenüber, die das Wort Gehorsam uicht keimt, muß
doch erst der Stock einmal ein freundlich-ernstes Wort mit reden. Dn geht
aber ein Heidenspektakel los. Natürlich nehmen die Eltern die Goldsöhnchen in
Schutz, und die eutrüstetsteu Mütter stürmen das Haus des Lokalschulinspektors.
Der giebt der Klägerin zu bedenken, sie möge Gott danken, daß der Schlingel
die ihm Ankommenden Schläge, die die Eltern versäumt hätten, in der Schule
erhalte. Solche Auseinandersetzungen kamen früher alle Tage vor. Wenn
sich die lieben Eltern ausgetobt hatten, so wars abgethan. Vorausgesetzt, daß
der Lehrer mit dem vorschriftsmäßigen Stocke die vorschriftsmäßigen fünf
Hiebe auf die vorschriftsmäßige Körperstelle gebracht hatte, war nichts weiter
zu machen, der Lehrer genoß den ihm dringend nötigen amtlichen Schutz. Der
ist nun weggefallen. Die Gerichte verurteilen bei einer nach ihrer Meinung
vorliegenden Strafrechtsüberschreitung den Lehrer wegen Körperverletzung zu
Gefängnis. Die Meinung des Richters wird durch das Gutachten des Arztes
bestimmt, das aber gänzlich unberechenbar ist. Der eine Arzt schickt den sich
beklagenden Bengel lachend fort, und der andre, von Hygiene, Gefühlsdusel
und Unerfahrenheit bestimmt, mißt den Striemen mit dem Zcntimetermaß, kon-
statirt eine Hantabschürfung und erwägt die möglichen gesundheitsschädlichen
Folgen, und der Lehrer — sitzt im Loche! Um ihn uicht doppelt zu strafen,
hat der Minister alle seine besondern Strafbestimmungen zurückgezogen. Aber
der Lehrer hat nun keinen Schutz mehr. Was ist die Folge? Er stellt seinen
Stock in die Ecke und läßt es gehen, wie es gehen will, was ihm doch wahr¬
haftig nicht zu verdenken ist.

Nun giebt es ja noch andre und bessere Erziehungsmittel als den Stock,
und ein tüchtiger Lehrer wird auch ohne ihn auskommen; aber einesteils giebt
es der Natur der Sache nach nicht bloß tüchtige Lehrer, und anderseits ist es
eine merkwürdige Sache, daß, wenn die ultima r-Mo gebrochen ist, die andern


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0063" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208000"/>
          <fw type="header" place="top"> Vie Anfgcil'e der Gegenpart</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_144"> Diese &#x201E;erziehliche" Thätigkeit setzt freilich die des Hauses voraus, sie ist<lb/>
doch nur die Ergänzung der häuslichen Erziehung und kauu uicht die Aufgabe<lb/>
haben, wider das Haus zu kämpfen und das gut zu macheu, was das Haus<lb/>
verdirbt. Aber das ist eben die gegenwärtige Lage. Man kauu die<lb/>
Beobachtung machen, daß in dem Maße, als die Selbstbestimmung des<lb/>
einzelnen Menschen, der der Leitung bedarf, freier gemacht wird, die Fähig¬<lb/>
keit der Selbstbestimmung schwindet; der Mensch verliert sich selbst ans der<lb/>
Hand, er verliert das Regiment über sich selbst, und in demselben Maße ver¬<lb/>
liert er die Fähigkeit, seine Kinder zu erziehen. Auch das ist die gegenwärtige<lb/>
Lage. Einem großen Teile unsers Volkes ist die Kunst, die Kinder zu erziehen,<lb/>
gänzlich abhanden gekommen. Es liegt nicht so sehr an dem Erwerb außer<lb/>
dem Hause, es liegt an der sittlichen Ohnmacht, an der Willenlosigkeit der<lb/>
Eltern, wenn die Kinder nicht geraten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_145"> Nun solls die Schule machen. Schön. Aber mit welchen Mitteln? Der<lb/>
verwahrlosten Gesellschaft gegenüber, die das Wort Gehorsam uicht keimt, muß<lb/>
doch erst der Stock einmal ein freundlich-ernstes Wort mit reden. Dn geht<lb/>
aber ein Heidenspektakel los. Natürlich nehmen die Eltern die Goldsöhnchen in<lb/>
Schutz, und die eutrüstetsteu Mütter stürmen das Haus des Lokalschulinspektors.<lb/>
Der giebt der Klägerin zu bedenken, sie möge Gott danken, daß der Schlingel<lb/>
die ihm Ankommenden Schläge, die die Eltern versäumt hätten, in der Schule<lb/>
erhalte. Solche Auseinandersetzungen kamen früher alle Tage vor. Wenn<lb/>
sich die lieben Eltern ausgetobt hatten, so wars abgethan. Vorausgesetzt, daß<lb/>
der Lehrer mit dem vorschriftsmäßigen Stocke die vorschriftsmäßigen fünf<lb/>
Hiebe auf die vorschriftsmäßige Körperstelle gebracht hatte, war nichts weiter<lb/>
zu machen, der Lehrer genoß den ihm dringend nötigen amtlichen Schutz. Der<lb/>
ist nun weggefallen. Die Gerichte verurteilen bei einer nach ihrer Meinung<lb/>
vorliegenden Strafrechtsüberschreitung den Lehrer wegen Körperverletzung zu<lb/>
Gefängnis. Die Meinung des Richters wird durch das Gutachten des Arztes<lb/>
bestimmt, das aber gänzlich unberechenbar ist. Der eine Arzt schickt den sich<lb/>
beklagenden Bengel lachend fort, und der andre, von Hygiene, Gefühlsdusel<lb/>
und Unerfahrenheit bestimmt, mißt den Striemen mit dem Zcntimetermaß, kon-<lb/>
statirt eine Hantabschürfung und erwägt die möglichen gesundheitsschädlichen<lb/>
Folgen, und der Lehrer &#x2014; sitzt im Loche! Um ihn uicht doppelt zu strafen,<lb/>
hat der Minister alle seine besondern Strafbestimmungen zurückgezogen. Aber<lb/>
der Lehrer hat nun keinen Schutz mehr. Was ist die Folge? Er stellt seinen<lb/>
Stock in die Ecke und läßt es gehen, wie es gehen will, was ihm doch wahr¬<lb/>
haftig nicht zu verdenken ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_146" next="#ID_147"> Nun giebt es ja noch andre und bessere Erziehungsmittel als den Stock,<lb/>
und ein tüchtiger Lehrer wird auch ohne ihn auskommen; aber einesteils giebt<lb/>
es der Natur der Sache nach nicht bloß tüchtige Lehrer, und anderseits ist es<lb/>
eine merkwürdige Sache, daß, wenn die ultima r-Mo gebrochen ist, die andern</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0063] Vie Anfgcil'e der Gegenpart Diese „erziehliche" Thätigkeit setzt freilich die des Hauses voraus, sie ist doch nur die Ergänzung der häuslichen Erziehung und kauu uicht die Aufgabe haben, wider das Haus zu kämpfen und das gut zu macheu, was das Haus verdirbt. Aber das ist eben die gegenwärtige Lage. Man kauu die Beobachtung machen, daß in dem Maße, als die Selbstbestimmung des einzelnen Menschen, der der Leitung bedarf, freier gemacht wird, die Fähig¬ keit der Selbstbestimmung schwindet; der Mensch verliert sich selbst ans der Hand, er verliert das Regiment über sich selbst, und in demselben Maße ver¬ liert er die Fähigkeit, seine Kinder zu erziehen. Auch das ist die gegenwärtige Lage. Einem großen Teile unsers Volkes ist die Kunst, die Kinder zu erziehen, gänzlich abhanden gekommen. Es liegt nicht so sehr an dem Erwerb außer dem Hause, es liegt an der sittlichen Ohnmacht, an der Willenlosigkeit der Eltern, wenn die Kinder nicht geraten. Nun solls die Schule machen. Schön. Aber mit welchen Mitteln? Der verwahrlosten Gesellschaft gegenüber, die das Wort Gehorsam uicht keimt, muß doch erst der Stock einmal ein freundlich-ernstes Wort mit reden. Dn geht aber ein Heidenspektakel los. Natürlich nehmen die Eltern die Goldsöhnchen in Schutz, und die eutrüstetsteu Mütter stürmen das Haus des Lokalschulinspektors. Der giebt der Klägerin zu bedenken, sie möge Gott danken, daß der Schlingel die ihm Ankommenden Schläge, die die Eltern versäumt hätten, in der Schule erhalte. Solche Auseinandersetzungen kamen früher alle Tage vor. Wenn sich die lieben Eltern ausgetobt hatten, so wars abgethan. Vorausgesetzt, daß der Lehrer mit dem vorschriftsmäßigen Stocke die vorschriftsmäßigen fünf Hiebe auf die vorschriftsmäßige Körperstelle gebracht hatte, war nichts weiter zu machen, der Lehrer genoß den ihm dringend nötigen amtlichen Schutz. Der ist nun weggefallen. Die Gerichte verurteilen bei einer nach ihrer Meinung vorliegenden Strafrechtsüberschreitung den Lehrer wegen Körperverletzung zu Gefängnis. Die Meinung des Richters wird durch das Gutachten des Arztes bestimmt, das aber gänzlich unberechenbar ist. Der eine Arzt schickt den sich beklagenden Bengel lachend fort, und der andre, von Hygiene, Gefühlsdusel und Unerfahrenheit bestimmt, mißt den Striemen mit dem Zcntimetermaß, kon- statirt eine Hantabschürfung und erwägt die möglichen gesundheitsschädlichen Folgen, und der Lehrer — sitzt im Loche! Um ihn uicht doppelt zu strafen, hat der Minister alle seine besondern Strafbestimmungen zurückgezogen. Aber der Lehrer hat nun keinen Schutz mehr. Was ist die Folge? Er stellt seinen Stock in die Ecke und läßt es gehen, wie es gehen will, was ihm doch wahr¬ haftig nicht zu verdenken ist. Nun giebt es ja noch andre und bessere Erziehungsmittel als den Stock, und ein tüchtiger Lehrer wird auch ohne ihn auskommen; aber einesteils giebt es der Natur der Sache nach nicht bloß tüchtige Lehrer, und anderseits ist es eine merkwürdige Sache, daß, wenn die ultima r-Mo gebrochen ist, die andern

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/63
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/63>, abgerufen am 06.06.2024.