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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Zur Lehre von der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit

den Geisteszustand darstelle, der als Vorbedingung gelte, um die Vorteile der
Gesellschaft zu genießen, anderseits den Zustand, wo der Einzelne seine Ge¬
bundenheit durch die Gesellschaft in Form der Strafe anerkennen müsse. Die
Frage, ob jemand die Folgen seiner Handlungen überlegen könne, entscheide,
ob er als blödsinnig zu entmündigen sei, sie sei aber auch für die Feststellung
der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit entscheidend. Denn wer die Folgen
seiner Handlungen nicht überlegen könne, dein fehle auch die zur Erkenntnis
ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht, das Vorhandensein dieses llnter-
scheidnngsvermögens sei aber ganz allgemein Voraussetzung der Schuld. Diese
Ausführung bezweckt offenbar, die Grenze zwischen hohem und niederm Schwach¬
sinn festzustellen, und wenn der Verfasser am Schlüsse des Aufsatzes zu dem
Ergebnis gelangt, daß Schwnchsiun hohen Grades stets anzunehmen sei, wenn
die Entmündigung wegen Blödsinns erfolgen könne, so ist in seinem Sinne
hinzuzufügen, daß andernfalls diese Annahme ausgeschlossen sei.

Die Ausführungen des Verfassers sind nicht ohne Bedenken. Die Ent-
mündigung und die Bevormundung erfolgen aus Rücksicht für die Person und
das Vermögen des Einzelnen, die Bestrafung aus Rücksicht für den Einzelnen
und die Gesellschaft. Beide Interessen decken sich nicht notwendig. Es ist
denkbar, daß jemand zur Wahrung seiner Person entmündigt und bevor¬
mundet werden muß, daß aber in strafrechtlicher Beziehung bei ihm die
freie Willensbestimmung durch den Schwachsinn nicht ausgeschlossen ist, und
umgekehrt.

Wie weit übrigens die zivilrechtlichen und die strafrechtlichen Interessen
aus einander gehen, dürfte ein Blick auf den Entwurf des bürgerlichen Gesetz¬
buchs zeigen. Dieser bezeichnet uur solche Personen als geisteskrank, die des
Verunnftgebranchs beraubt sind, erklärt sie für die Dauer dieses Zustandes
und ihrer Entmündigung für geschäftsunfähig, ordnet für Entmündigte eine
Vormundschaft an und läßt für solche, deren Entmündigung beantragt ist, eine
vorläufige Vormundschaft zu. Bloßer Schwachsinn bleibt unberücksichtigt. Wer
des Veruunftgebranchs nicht beraubt, aber durch seinen geistigen Zustand ganz
oder teilweise gehindert ist, seine Vermögensangelegenheiten zu besorgen, ist
unbeschränkt geschäftsfähig; er kann einen Pfleger erhalten, soll aber, wenn
eine Verständigung mit ihm möglich ist, in die Unordnung der Pflegschaft ein¬
willigen und bleibt ungeachtet der Einleitung einer solchen unbeschränkt ge¬
schäftsfähig.

Gleichwohl mag es gegebnen Falls zweckmäßig sein, daß der Sachver¬
ständige, der sich über die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit gutachtlich zu
äußern hat, zur eignen Kontrole prüft, ob eine Entmündigung des Schwach¬
sinnigen wegen Blödsinns erfolgen könne, und umgekehrt, wenn er sich über
die Entmündigung zu äußern hat, ob eine strafrechtliche Verurteilung möglich
sei. Nur ist, da die zivilrechtliche Entscheidung für den Strafrichter ohne


Zur Lehre von der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit

den Geisteszustand darstelle, der als Vorbedingung gelte, um die Vorteile der
Gesellschaft zu genießen, anderseits den Zustand, wo der Einzelne seine Ge¬
bundenheit durch die Gesellschaft in Form der Strafe anerkennen müsse. Die
Frage, ob jemand die Folgen seiner Handlungen überlegen könne, entscheide,
ob er als blödsinnig zu entmündigen sei, sie sei aber auch für die Feststellung
der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit entscheidend. Denn wer die Folgen
seiner Handlungen nicht überlegen könne, dein fehle auch die zur Erkenntnis
ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht, das Vorhandensein dieses llnter-
scheidnngsvermögens sei aber ganz allgemein Voraussetzung der Schuld. Diese
Ausführung bezweckt offenbar, die Grenze zwischen hohem und niederm Schwach¬
sinn festzustellen, und wenn der Verfasser am Schlüsse des Aufsatzes zu dem
Ergebnis gelangt, daß Schwnchsiun hohen Grades stets anzunehmen sei, wenn
die Entmündigung wegen Blödsinns erfolgen könne, so ist in seinem Sinne
hinzuzufügen, daß andernfalls diese Annahme ausgeschlossen sei.

Die Ausführungen des Verfassers sind nicht ohne Bedenken. Die Ent-
mündigung und die Bevormundung erfolgen aus Rücksicht für die Person und
das Vermögen des Einzelnen, die Bestrafung aus Rücksicht für den Einzelnen
und die Gesellschaft. Beide Interessen decken sich nicht notwendig. Es ist
denkbar, daß jemand zur Wahrung seiner Person entmündigt und bevor¬
mundet werden muß, daß aber in strafrechtlicher Beziehung bei ihm die
freie Willensbestimmung durch den Schwachsinn nicht ausgeschlossen ist, und
umgekehrt.

Wie weit übrigens die zivilrechtlichen und die strafrechtlichen Interessen
aus einander gehen, dürfte ein Blick auf den Entwurf des bürgerlichen Gesetz¬
buchs zeigen. Dieser bezeichnet uur solche Personen als geisteskrank, die des
Verunnftgebranchs beraubt sind, erklärt sie für die Dauer dieses Zustandes
und ihrer Entmündigung für geschäftsunfähig, ordnet für Entmündigte eine
Vormundschaft an und läßt für solche, deren Entmündigung beantragt ist, eine
vorläufige Vormundschaft zu. Bloßer Schwachsinn bleibt unberücksichtigt. Wer
des Veruunftgebranchs nicht beraubt, aber durch seinen geistigen Zustand ganz
oder teilweise gehindert ist, seine Vermögensangelegenheiten zu besorgen, ist
unbeschränkt geschäftsfähig; er kann einen Pfleger erhalten, soll aber, wenn
eine Verständigung mit ihm möglich ist, in die Unordnung der Pflegschaft ein¬
willigen und bleibt ungeachtet der Einleitung einer solchen unbeschränkt ge¬
schäftsfähig.

Gleichwohl mag es gegebnen Falls zweckmäßig sein, daß der Sachver¬
ständige, der sich über die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit gutachtlich zu
äußern hat, zur eignen Kontrole prüft, ob eine Entmündigung des Schwach¬
sinnigen wegen Blödsinns erfolgen könne, und umgekehrt, wenn er sich über
die Entmündigung zu äußern hat, ob eine strafrechtliche Verurteilung möglich
sei. Nur ist, da die zivilrechtliche Entscheidung für den Strafrichter ohne


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/72>, abgerufen am 28.05.2024.