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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Einzelnen ein Element des Widerspruchs in diesen Zustand, das zur Um¬
gestaltung und Besserung der Lage treibt. "Das untergeordnete Glied einer
großen Verwaltung wie einer großen Fabrik lebt heute gleichsam ein doppeltes
Leben: es ist als Staats- und Gemeindebürger, als Familienvater so frei, wie
der reichste und vornehmste; es kann in seinen Mußestunden swenn es welche
hat!^ thun und lassen, was es will; es kann seine Stellung jederzeit verlassen;
aber in seinen Dienst- und Arbeitsstunden muß es sich einer Disziplin fügen,
einen Gehorsam bezeugen, wie wahrscheinlich der antike Slave und der mittel¬
alterliche Leibeigne sie noch nicht in gleichem Maße gekannt haben. Das
Problem, einen zunehmenden mechanischen Zwang und eine scharfe Unterord¬
nung zu verbinden mit größerer Freiheit ist es, was den springenden Punkt
in der Verfassung unsrer heutigen Großindustrie ausmacht." Die Losung der
Aufgabe wird von oben wie von unten in Angriff genommen. Von oben,
indem die Unternehmer und ihre Beamten sich mehr und mehr aus der Rolle
von Herren und Gebietern in die von verantwortlichen Verwaltern nationaler
Güter hineinfinden. Von unten durch Vereinigungen, die der Hilflosigkeit
und unbedingten Abhängigkeit des vereinzelten Arbeiters ein Ende machen.
So ganz sich selbst überlassen und ohne Einwirkung der Staatsgewalt wie in
England, meint Schmoller, werde freilich der Prozeß bei uns wohl nicht ver¬
laufen können, weil unser Volk nicht so besonnen sei und unser Reich sich nicht
einer so gesicherten Lage erfreue. Das gemeinsame Ergebnis beider Strö¬
mungen tritt in Ansätzen zu einer genossenschaftlichen Verfassung in die Er¬
scheinung; auch dort, wo man es nicht geradezu mit Produktivgenossenschaft
oder Gewinnbeteiligung versucht, werden sich die Unternehmer und Arbeiter
einer einzelnen größern Werkstütte bewußt, daß sie eine Arbeitsgemeinschaft
bilden. An die Stelle der kalten Abwägung kontraktlich geregelter Leistung
und Gegenleistung treten wieder persönliche Beziehungen und sittliche Er¬
wägungen. Damit kehrt die Entwicklung gewissermaßen zu ihrem Anfange
zurück. Denn auf frühen Kulturstufen bilden sich, wenn die Kräfte der
einzelnen Familie für die Erwerbsthätigkeit nicht hinreichen, Genossenschaften
(z. B. Fischereigenossenschaften, die ein gemeinsam erbautes Boot benutzen, Acker¬
genossenschaften u. s. w.), die auf Treu und Glauben und auf billige Vertei¬
lung des Ertrages gegründet sind. Nur haben selbstverständlich die heute im
Entstehen begriffenen Gemeinschaften einen viel reichern Inhalt und einen feinern
Bau aufzuweisen als die alten.

Damit haben wir Schmollers Gesellschaftsideal schon angedeutet. Einem
Manne, der wie er historisch und induktiv verführt, werden wir von vorn¬
herein nicht zutrauen, daß er den Entwurf eines mustergiltigen Zustandes aus
einem einzelnen "Prinzip" herausspinnen werde. Von dem Gebaren der
grundsätzlichen Freihändler und Schutzzöllner sagt er, es komme ihm so vor,
wie wenn man von einem Arzte fordern wollte, er solle seinein Patienten unter


Einzelnen ein Element des Widerspruchs in diesen Zustand, das zur Um¬
gestaltung und Besserung der Lage treibt. „Das untergeordnete Glied einer
großen Verwaltung wie einer großen Fabrik lebt heute gleichsam ein doppeltes
Leben: es ist als Staats- und Gemeindebürger, als Familienvater so frei, wie
der reichste und vornehmste; es kann in seinen Mußestunden swenn es welche
hat!^ thun und lassen, was es will; es kann seine Stellung jederzeit verlassen;
aber in seinen Dienst- und Arbeitsstunden muß es sich einer Disziplin fügen,
einen Gehorsam bezeugen, wie wahrscheinlich der antike Slave und der mittel¬
alterliche Leibeigne sie noch nicht in gleichem Maße gekannt haben. Das
Problem, einen zunehmenden mechanischen Zwang und eine scharfe Unterord¬
nung zu verbinden mit größerer Freiheit ist es, was den springenden Punkt
in der Verfassung unsrer heutigen Großindustrie ausmacht." Die Losung der
Aufgabe wird von oben wie von unten in Angriff genommen. Von oben,
indem die Unternehmer und ihre Beamten sich mehr und mehr aus der Rolle
von Herren und Gebietern in die von verantwortlichen Verwaltern nationaler
Güter hineinfinden. Von unten durch Vereinigungen, die der Hilflosigkeit
und unbedingten Abhängigkeit des vereinzelten Arbeiters ein Ende machen.
So ganz sich selbst überlassen und ohne Einwirkung der Staatsgewalt wie in
England, meint Schmoller, werde freilich der Prozeß bei uns wohl nicht ver¬
laufen können, weil unser Volk nicht so besonnen sei und unser Reich sich nicht
einer so gesicherten Lage erfreue. Das gemeinsame Ergebnis beider Strö¬
mungen tritt in Ansätzen zu einer genossenschaftlichen Verfassung in die Er¬
scheinung; auch dort, wo man es nicht geradezu mit Produktivgenossenschaft
oder Gewinnbeteiligung versucht, werden sich die Unternehmer und Arbeiter
einer einzelnen größern Werkstütte bewußt, daß sie eine Arbeitsgemeinschaft
bilden. An die Stelle der kalten Abwägung kontraktlich geregelter Leistung
und Gegenleistung treten wieder persönliche Beziehungen und sittliche Er¬
wägungen. Damit kehrt die Entwicklung gewissermaßen zu ihrem Anfange
zurück. Denn auf frühen Kulturstufen bilden sich, wenn die Kräfte der
einzelnen Familie für die Erwerbsthätigkeit nicht hinreichen, Genossenschaften
(z. B. Fischereigenossenschaften, die ein gemeinsam erbautes Boot benutzen, Acker¬
genossenschaften u. s. w.), die auf Treu und Glauben und auf billige Vertei¬
lung des Ertrages gegründet sind. Nur haben selbstverständlich die heute im
Entstehen begriffenen Gemeinschaften einen viel reichern Inhalt und einen feinern
Bau aufzuweisen als die alten.

Damit haben wir Schmollers Gesellschaftsideal schon angedeutet. Einem
Manne, der wie er historisch und induktiv verführt, werden wir von vorn¬
herein nicht zutrauen, daß er den Entwurf eines mustergiltigen Zustandes aus
einem einzelnen „Prinzip" herausspinnen werde. Von dem Gebaren der
grundsätzlichen Freihändler und Schutzzöllner sagt er, es komme ihm so vor,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/13>, abgerufen am 12.05.2024.