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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Woher, wohin?

allen Umständen entweder nur Restringentia oder nur Laxcmtia geben, und
wenn man ihn bei jedem Wechsel der Behandlungsweise des Abfalls vom
Prinzip beschuldigte. Schmoller erkennt die relative Berechtigung der einander
ablösenden Systeme und Gesellschaftsformen um und dringt auf die richtige
Anwendung jedes Systems und jeder Form an der richtigen Stelle. Er
leugnet nicht, daß auch im Wirtschaftsleben Naturgesetze walten, aber er leugnet,
daß nur Naturgesetze walten, und daß die Frage nach der Gerechtigkeit oder
Ungerechtigkeit eines bestehenden Zustandes gar nicht aufgeworfen werden dürfe.
Darum besteht nicht die Alternative: Staat oder Zufall, Staat oder freier
Verkehr, staatliche Verteilung oder Verteilung durch Angebot und Nachfrage,
sondern "die Antithese: so weit menschliche Handlungen die Einkommens¬
verteilung beherrschen oder beeinflussen, so weit werden diese Handlungen die
psychologischen Prozesse erzeugen, als deren Endergebnis sich die Urteile er¬
geben, welche sie gerecht oder ungerecht finden; so weit dagegen blinde, außer¬
menschliche Ursachen eingreifen, wird die vernünftige Überlegung verlangen, daß
der Mensch sich ihnen mit Resignation füge." Er gesteht den Individualisten
zu, daß die Befreiung des Individuums aus veralteten Unterthänigkeitsformen
notwendig gewesen sei und zuletzt zum Heile ausschlagen werde, macht aber
bei jeder Gelegenheit klar, daß der Arbeitsvertrag nur dann wirklich frei sei,
wenn er zwischen Gleichstarken, Gleichmächtigen geschlossen werde. Er deckt
besonders in der schönen Charakteristik der beiden liberalen Führer Schulze-
Delitzsch und Laster, deren wirklichen Verdiensten er vollauf gerecht wird, die
Verirrungen des Manchestertums auf und beleuchtet die sonderbare Selbst¬
täuschung des Gründers der deutschen Genossenschaften, der sich zu den wirt¬
schaftlichen Individualisten rechnete, während doch sein Werk auf sozialer, ja
sozialistischer Grundlage ruht. Wenn Schmoller nun im Gegensatz zum wirt¬
schaftlichen Liberalismus durch gesetzliche Regelung der Verhältnisse zwischen
Arbeitgebern und Arbeitern, zwischen Herrschaften und Dienstboten dem leeren
Freiheitsbegriff erst einen Inhalt geben und den Arbeitern zur wirklichen
Freiheit verhelfen, auch vorbeugen will, daß nicht bei einer Änderung der Lage
zu Ungunsten der Arbeitgeber diese von den Arbeitermassen vergewaltigt werden,
so warnt er doch gleichzeitig vor Überschätzung des Wertes und der Wirk¬
samkeit solcher gesetzlichen Ordnungen. Das Gesetz sei wohl das regelnde
Schwungrad, aber nicht die bewegende Kraft des großen Getriebes; diese ruhe
in den Personen, ohne deren guten Willen alle Gesetze nichts nützten. Arbeits¬
kontrakte, die auf längere Zeit binden, seien ohne Zweifel für gewisse Klassen
von Dienenden und Arbeitern sehr zu empfehlen, aber durch sie allein werde
ein gutes Verhältnis zu den Herrschaften und Arbeitgebern noch nicht gesichert.
Wo sich z. B. gute Herrschaften und gute Dienstboten zusammenfinden, da
bleiben sie jahrelang bei einander, auch wenn ihnen die vierteljährliche Kün¬
digung freisteht; und wenn anderseits der Arbeitgeber durch einen lange


Woher, wohin?

allen Umständen entweder nur Restringentia oder nur Laxcmtia geben, und
wenn man ihn bei jedem Wechsel der Behandlungsweise des Abfalls vom
Prinzip beschuldigte. Schmoller erkennt die relative Berechtigung der einander
ablösenden Systeme und Gesellschaftsformen um und dringt auf die richtige
Anwendung jedes Systems und jeder Form an der richtigen Stelle. Er
leugnet nicht, daß auch im Wirtschaftsleben Naturgesetze walten, aber er leugnet,
daß nur Naturgesetze walten, und daß die Frage nach der Gerechtigkeit oder
Ungerechtigkeit eines bestehenden Zustandes gar nicht aufgeworfen werden dürfe.
Darum besteht nicht die Alternative: Staat oder Zufall, Staat oder freier
Verkehr, staatliche Verteilung oder Verteilung durch Angebot und Nachfrage,
sondern „die Antithese: so weit menschliche Handlungen die Einkommens¬
verteilung beherrschen oder beeinflussen, so weit werden diese Handlungen die
psychologischen Prozesse erzeugen, als deren Endergebnis sich die Urteile er¬
geben, welche sie gerecht oder ungerecht finden; so weit dagegen blinde, außer¬
menschliche Ursachen eingreifen, wird die vernünftige Überlegung verlangen, daß
der Mensch sich ihnen mit Resignation füge." Er gesteht den Individualisten
zu, daß die Befreiung des Individuums aus veralteten Unterthänigkeitsformen
notwendig gewesen sei und zuletzt zum Heile ausschlagen werde, macht aber
bei jeder Gelegenheit klar, daß der Arbeitsvertrag nur dann wirklich frei sei,
wenn er zwischen Gleichstarken, Gleichmächtigen geschlossen werde. Er deckt
besonders in der schönen Charakteristik der beiden liberalen Führer Schulze-
Delitzsch und Laster, deren wirklichen Verdiensten er vollauf gerecht wird, die
Verirrungen des Manchestertums auf und beleuchtet die sonderbare Selbst¬
täuschung des Gründers der deutschen Genossenschaften, der sich zu den wirt¬
schaftlichen Individualisten rechnete, während doch sein Werk auf sozialer, ja
sozialistischer Grundlage ruht. Wenn Schmoller nun im Gegensatz zum wirt¬
schaftlichen Liberalismus durch gesetzliche Regelung der Verhältnisse zwischen
Arbeitgebern und Arbeitern, zwischen Herrschaften und Dienstboten dem leeren
Freiheitsbegriff erst einen Inhalt geben und den Arbeitern zur wirklichen
Freiheit verhelfen, auch vorbeugen will, daß nicht bei einer Änderung der Lage
zu Ungunsten der Arbeitgeber diese von den Arbeitermassen vergewaltigt werden,
so warnt er doch gleichzeitig vor Überschätzung des Wertes und der Wirk¬
samkeit solcher gesetzlichen Ordnungen. Das Gesetz sei wohl das regelnde
Schwungrad, aber nicht die bewegende Kraft des großen Getriebes; diese ruhe
in den Personen, ohne deren guten Willen alle Gesetze nichts nützten. Arbeits¬
kontrakte, die auf längere Zeit binden, seien ohne Zweifel für gewisse Klassen
von Dienenden und Arbeitern sehr zu empfehlen, aber durch sie allein werde
ein gutes Verhältnis zu den Herrschaften und Arbeitgebern noch nicht gesichert.
Wo sich z. B. gute Herrschaften und gute Dienstboten zusammenfinden, da
bleiben sie jahrelang bei einander, auch wenn ihnen die vierteljährliche Kün¬
digung freisteht; und wenn anderseits der Arbeitgeber durch einen lange


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/14>, abgerufen am 11.05.2024.