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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

nach dein Urteile der Gesellschaft nicht sie seine Ehre verletzt, sondern der Ver¬
führer. Wäre dieser ein Mensch ohne gesellschaftliche Stellung gewesen, so
wäre Fabrieens Ehre nicht gekränkt worden. Er hätte seiner Entrüstung viel¬
leicht mit der Reitpeitsche Luft gemacht, und alles wäre in den Augen der
Gesellschaft gut gewesen; aber Pierrepont war ein Kavalier, ein Aristokrat,
ein Edelmann. Ein Edelmann? Ist der noch ein Edelmann zu nennen, der
es mit seiner Ehre vereinbaren kann, einen vornehm denkenden Freund zu
betrügen und trotz der begangenen Niederträchtigkeit ihm gegenüber die Rolle
eines aufrichtigen Freundes weiterzuspielen? Sinkt der Edelmann nicht in
demselben Allgenblicke hinab zum Lump? Diesem Menschen noch die Möglich¬
keit geben, zu triumphiren und über das Leben des schmählich Betrogenen mit
Selbstgerechtigkeit zu bestimmen, das heißt denn doch die Furcht vor dem
Hergebrachten und vor dem beschränkten Urteil der Gesellschaft zu weit treiben.
Konnte Fabriee den Gedanken an die doppelte Treulosigkeit seines Weibes und
seines Freundes nicht ertragen, so Hütte er besser gethan, sich zu töten, ohne
auf ein amerikanisches Duell einzugehen. Es ist schade, daß Feuillee diese
Erwägungen nicht angestellt hat und in das alte Fahrwasser der romantischen
Erzählungen geraten ist; er hätte damit Fragen berührt, die gerade unsre Zeit
in hohem Maße beschäftigen.

Die Charaktere sind auch in diesem Roman vortrefflich gezeichnet. Da
ist die Frau von Montauron, die von der französischen Revolution sagt, sie
habe dem Adel alles rauben können, nur nicht den Atavismus, und die noch
immer der Ansicht ist, daß sich die Anschauungen seit Ludwig XIV. nicht
verändert Hütten; da ist ferner Gustave Calvat, der Typus des modernen
Malers mit seinen verworrenen Knnstbegriffen, seiner Halbbildung, seiner Un¬
zufriedenheit und Geschwätzigkeit, der das Heil der modernen Malerei von der
Rückkehr zum vierzehnten Jahrhundert erwartet, zu Cimatme, Giotto und
Perugino, und der schließlich bei den Impressionisten landet; da ist der Baron
Jules Grobe, die Blüte der modernen Jugend, der sich selbst?in alö sivolö
nennt, und dessen Zeichnung für unsre Zeit so charakteristisch ist, daß wir noch
kurz auf ihn eingehen müssen. Er ist als einziger Sohn von seiner Mutter
gründlich verdorben worden. Mit Liebe hat sie über seine ersten Allsschwei¬
fungen gelächelt und mit Zärtlichkeit darüber gewacht, bis er zu einem ganz
unerträglichen Burschen herangewachsen ist. Um in der Gesellschaft das Über¬
gewicht und die erste Rolle zu behaupten, an die er in seiner Familie gewöhnt
gewesen ist, hat er sich ein Auftreten und eine Haltung ausgesucht, die jedes
andre Verdienst überflüssig machen. Er hat nichts besseres gefunden, als alle
Welt in Erstaunen zu setzen oder vielmehr, wie er selbst sagt, seine Zeitgenossen
durch das Herauskehren cynischer Verdorbenheit "platt zu drücken," ä'öMsr
Los eonteMporiüQs. Einige ans Darwin aufgelesene Brocken, vermischt mit
konfusen Zeug aus Schopenhauer, haben ihm seine wüste Theorie von dem


Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

nach dein Urteile der Gesellschaft nicht sie seine Ehre verletzt, sondern der Ver¬
führer. Wäre dieser ein Mensch ohne gesellschaftliche Stellung gewesen, so
wäre Fabrieens Ehre nicht gekränkt worden. Er hätte seiner Entrüstung viel¬
leicht mit der Reitpeitsche Luft gemacht, und alles wäre in den Augen der
Gesellschaft gut gewesen; aber Pierrepont war ein Kavalier, ein Aristokrat,
ein Edelmann. Ein Edelmann? Ist der noch ein Edelmann zu nennen, der
es mit seiner Ehre vereinbaren kann, einen vornehm denkenden Freund zu
betrügen und trotz der begangenen Niederträchtigkeit ihm gegenüber die Rolle
eines aufrichtigen Freundes weiterzuspielen? Sinkt der Edelmann nicht in
demselben Allgenblicke hinab zum Lump? Diesem Menschen noch die Möglich¬
keit geben, zu triumphiren und über das Leben des schmählich Betrogenen mit
Selbstgerechtigkeit zu bestimmen, das heißt denn doch die Furcht vor dem
Hergebrachten und vor dem beschränkten Urteil der Gesellschaft zu weit treiben.
Konnte Fabriee den Gedanken an die doppelte Treulosigkeit seines Weibes und
seines Freundes nicht ertragen, so Hütte er besser gethan, sich zu töten, ohne
auf ein amerikanisches Duell einzugehen. Es ist schade, daß Feuillee diese
Erwägungen nicht angestellt hat und in das alte Fahrwasser der romantischen
Erzählungen geraten ist; er hätte damit Fragen berührt, die gerade unsre Zeit
in hohem Maße beschäftigen.

Die Charaktere sind auch in diesem Roman vortrefflich gezeichnet. Da
ist die Frau von Montauron, die von der französischen Revolution sagt, sie
habe dem Adel alles rauben können, nur nicht den Atavismus, und die noch
immer der Ansicht ist, daß sich die Anschauungen seit Ludwig XIV. nicht
verändert Hütten; da ist ferner Gustave Calvat, der Typus des modernen
Malers mit seinen verworrenen Knnstbegriffen, seiner Halbbildung, seiner Un¬
zufriedenheit und Geschwätzigkeit, der das Heil der modernen Malerei von der
Rückkehr zum vierzehnten Jahrhundert erwartet, zu Cimatme, Giotto und
Perugino, und der schließlich bei den Impressionisten landet; da ist der Baron
Jules Grobe, die Blüte der modernen Jugend, der sich selbst?in alö sivolö
nennt, und dessen Zeichnung für unsre Zeit so charakteristisch ist, daß wir noch
kurz auf ihn eingehen müssen. Er ist als einziger Sohn von seiner Mutter
gründlich verdorben worden. Mit Liebe hat sie über seine ersten Allsschwei¬
fungen gelächelt und mit Zärtlichkeit darüber gewacht, bis er zu einem ganz
unerträglichen Burschen herangewachsen ist. Um in der Gesellschaft das Über¬
gewicht und die erste Rolle zu behaupten, an die er in seiner Familie gewöhnt
gewesen ist, hat er sich ein Auftreten und eine Haltung ausgesucht, die jedes
andre Verdienst überflüssig machen. Er hat nichts besseres gefunden, als alle
Welt in Erstaunen zu setzen oder vielmehr, wie er selbst sagt, seine Zeitgenossen
durch das Herauskehren cynischer Verdorbenheit „platt zu drücken," ä'öMsr
Los eonteMporiüQs. Einige ans Darwin aufgelesene Brocken, vermischt mit
konfusen Zeug aus Schopenhauer, haben ihm seine wüste Theorie von dem


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[0191] Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart nach dein Urteile der Gesellschaft nicht sie seine Ehre verletzt, sondern der Ver¬ führer. Wäre dieser ein Mensch ohne gesellschaftliche Stellung gewesen, so wäre Fabrieens Ehre nicht gekränkt worden. Er hätte seiner Entrüstung viel¬ leicht mit der Reitpeitsche Luft gemacht, und alles wäre in den Augen der Gesellschaft gut gewesen; aber Pierrepont war ein Kavalier, ein Aristokrat, ein Edelmann. Ein Edelmann? Ist der noch ein Edelmann zu nennen, der es mit seiner Ehre vereinbaren kann, einen vornehm denkenden Freund zu betrügen und trotz der begangenen Niederträchtigkeit ihm gegenüber die Rolle eines aufrichtigen Freundes weiterzuspielen? Sinkt der Edelmann nicht in demselben Allgenblicke hinab zum Lump? Diesem Menschen noch die Möglich¬ keit geben, zu triumphiren und über das Leben des schmählich Betrogenen mit Selbstgerechtigkeit zu bestimmen, das heißt denn doch die Furcht vor dem Hergebrachten und vor dem beschränkten Urteil der Gesellschaft zu weit treiben. Konnte Fabriee den Gedanken an die doppelte Treulosigkeit seines Weibes und seines Freundes nicht ertragen, so Hütte er besser gethan, sich zu töten, ohne auf ein amerikanisches Duell einzugehen. Es ist schade, daß Feuillee diese Erwägungen nicht angestellt hat und in das alte Fahrwasser der romantischen Erzählungen geraten ist; er hätte damit Fragen berührt, die gerade unsre Zeit in hohem Maße beschäftigen. Die Charaktere sind auch in diesem Roman vortrefflich gezeichnet. Da ist die Frau von Montauron, die von der französischen Revolution sagt, sie habe dem Adel alles rauben können, nur nicht den Atavismus, und die noch immer der Ansicht ist, daß sich die Anschauungen seit Ludwig XIV. nicht verändert Hütten; da ist ferner Gustave Calvat, der Typus des modernen Malers mit seinen verworrenen Knnstbegriffen, seiner Halbbildung, seiner Un¬ zufriedenheit und Geschwätzigkeit, der das Heil der modernen Malerei von der Rückkehr zum vierzehnten Jahrhundert erwartet, zu Cimatme, Giotto und Perugino, und der schließlich bei den Impressionisten landet; da ist der Baron Jules Grobe, die Blüte der modernen Jugend, der sich selbst?in alö sivolö nennt, und dessen Zeichnung für unsre Zeit so charakteristisch ist, daß wir noch kurz auf ihn eingehen müssen. Er ist als einziger Sohn von seiner Mutter gründlich verdorben worden. Mit Liebe hat sie über seine ersten Allsschwei¬ fungen gelächelt und mit Zärtlichkeit darüber gewacht, bis er zu einem ganz unerträglichen Burschen herangewachsen ist. Um in der Gesellschaft das Über¬ gewicht und die erste Rolle zu behaupten, an die er in seiner Familie gewöhnt gewesen ist, hat er sich ein Auftreten und eine Haltung ausgesucht, die jedes andre Verdienst überflüssig machen. Er hat nichts besseres gefunden, als alle Welt in Erstaunen zu setzen oder vielmehr, wie er selbst sagt, seine Zeitgenossen durch das Herauskehren cynischer Verdorbenheit „platt zu drücken," ä'öMsr Los eonteMporiüQs. Einige ans Darwin aufgelesene Brocken, vermischt mit konfusen Zeug aus Schopenhauer, haben ihm seine wüste Theorie von dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/191>, abgerufen am 06.06.2024.