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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Lothar Buchers englische Erfahrungen

besondern Ausdruck in ihrer Sonntagsfeier, von der Bücher einige charak¬
teristische Beispiele zum besten giebt. So verbietet z. V. das Gesetz am Sonntag
jede Musik, außer der geistliche,,, "Wie hilft sich das Bedürfnis?" fragt
Bucher, und läßt die Antwort selbst durch einen Engländer, durch Mr. Wright
geben, der bekundet: "An Sonntagen ist in den Wirtshäusern Musik und zwar
geistliche. Ich habe selbst die Doxolvgie "Lobt Gott, den Geber alles Guten"
und "Vor Jehovcis furchtbarem Thron" singen hören. Ich habe das von
jungen Burschen, fast noch .Knaben, singen hören, die Pfeife im Munde und
ein Mädchen, fast noch Kind, im Arme." In den Mnsikhnllen Liverpools und
andrer Städte sind jeden Sonntag ähnliche Szenen zu sehe,,. Bucher zitirt
weiter Mr. Francis, der Sonntag Abend von einer größtenteils betrunkenen
Gesellschaft den hundertsten Psalm, das Halleluja u. s. w. vortragen hörte:
"Der Orgelspieler rauchte seine Pfeife, und die Gesellschaft stimmte ein "Wir
sind das Volk des Herrn.""

Das alles gehörte zu den Beobachtungen, die bei Bucher allmählich eine
Wandlung in seinen Ansichten über das englische Volk hervorbrachten und die
ihm seine vom Festlande mitgebrachte Theorie über die englische Politik
gründlich benahmen. In der Heimat wollte man sich aber die Illusionen über
englische Vorzüglichkeit nicht stören lassen. Bucher erzählt aus eigner Erfah¬
rung, wenn er sagt: "Was dem Beobachter englischer Zustände von, Festlcindc
her entgegengehalten wird, sind Urteile, abstrakte Sätze, Wörter, Gefühle. Er
berichtet über ein Meeting, auf dem sich in aller Naivität die krasseste Selbst¬
sucht kund gethan -- aber "das englische Volk ist hochherzig," antwortet um,
ihm. Er beobachtet, daß gewisse Vorgänge oder Einrichtungen von hohem,
allgemeinem Interesse außerhalb eines gefeiten Zirkels ganz unbekannt sind --
das Festland schüttelt den Kopf und sagt: Öffentlichkeit, Preßfreiheit, Ver¬
antwortlichkeit, Parlamentarismus!" Als Bucher so an die Stelle der Theorie
die Erfahrung treten ließ, war er, wie gesagt, in den Augen des echten deutschen
Liberalen seinen Grundsätzen untreu geworden. Dem illusionsfähigen liberalen
Manne ging es wider den Strich, wenn es so sein sollte, wie Vncher sagte,
daß die Masse des englischen Volkes die fremden Völker nnr fürchte oder ver¬
achte. "Sie hat, schrieb Bucher schon 1851 zur Zeit der ersten Weltaus¬
stellung in London, gegen den Halbbruder von der andern Seite des Wassers
(Nordamerika) das Gefühl der Furcht, gegen alle andern Völker das Gefühl
der Verachtung." Namentlich gelte das von Deutschland. Der Krämer blicke
mit Verachtung auf die Deutschen und erkläre ihr geistiges Leben und Schaffe,,
für eitel Träumerei.

Wenn es heute Finders geworden ist, so wissen wir, wem wir das zu
verdanken haben. Es war ein großes Glück, daß sich Bismcirck um die "mytho¬
logischen Vorstellungen" unsrer Anglvmanen von dem englischen Staatswesen
nicht kümmerte und Lothar Bucher ins Auswärtige Amt berief.




Lothar Buchers englische Erfahrungen

besondern Ausdruck in ihrer Sonntagsfeier, von der Bücher einige charak¬
teristische Beispiele zum besten giebt. So verbietet z. V. das Gesetz am Sonntag
jede Musik, außer der geistliche,,, „Wie hilft sich das Bedürfnis?" fragt
Bucher, und läßt die Antwort selbst durch einen Engländer, durch Mr. Wright
geben, der bekundet: „An Sonntagen ist in den Wirtshäusern Musik und zwar
geistliche. Ich habe selbst die Doxolvgie »Lobt Gott, den Geber alles Guten«
und »Vor Jehovcis furchtbarem Thron« singen hören. Ich habe das von
jungen Burschen, fast noch .Knaben, singen hören, die Pfeife im Munde und
ein Mädchen, fast noch Kind, im Arme." In den Mnsikhnllen Liverpools und
andrer Städte sind jeden Sonntag ähnliche Szenen zu sehe,,. Bucher zitirt
weiter Mr. Francis, der Sonntag Abend von einer größtenteils betrunkenen
Gesellschaft den hundertsten Psalm, das Halleluja u. s. w. vortragen hörte:
„Der Orgelspieler rauchte seine Pfeife, und die Gesellschaft stimmte ein »Wir
sind das Volk des Herrn.«"

Das alles gehörte zu den Beobachtungen, die bei Bucher allmählich eine
Wandlung in seinen Ansichten über das englische Volk hervorbrachten und die
ihm seine vom Festlande mitgebrachte Theorie über die englische Politik
gründlich benahmen. In der Heimat wollte man sich aber die Illusionen über
englische Vorzüglichkeit nicht stören lassen. Bucher erzählt aus eigner Erfah¬
rung, wenn er sagt: „Was dem Beobachter englischer Zustände von, Festlcindc
her entgegengehalten wird, sind Urteile, abstrakte Sätze, Wörter, Gefühle. Er
berichtet über ein Meeting, auf dem sich in aller Naivität die krasseste Selbst¬
sucht kund gethan — aber »das englische Volk ist hochherzig,« antwortet um,
ihm. Er beobachtet, daß gewisse Vorgänge oder Einrichtungen von hohem,
allgemeinem Interesse außerhalb eines gefeiten Zirkels ganz unbekannt sind —
das Festland schüttelt den Kopf und sagt: Öffentlichkeit, Preßfreiheit, Ver¬
antwortlichkeit, Parlamentarismus!" Als Bucher so an die Stelle der Theorie
die Erfahrung treten ließ, war er, wie gesagt, in den Augen des echten deutschen
Liberalen seinen Grundsätzen untreu geworden. Dem illusionsfähigen liberalen
Manne ging es wider den Strich, wenn es so sein sollte, wie Vncher sagte,
daß die Masse des englischen Volkes die fremden Völker nnr fürchte oder ver¬
achte. „Sie hat, schrieb Bucher schon 1851 zur Zeit der ersten Weltaus¬
stellung in London, gegen den Halbbruder von der andern Seite des Wassers
(Nordamerika) das Gefühl der Furcht, gegen alle andern Völker das Gefühl
der Verachtung." Namentlich gelte das von Deutschland. Der Krämer blicke
mit Verachtung auf die Deutschen und erkläre ihr geistiges Leben und Schaffe,,
für eitel Träumerei.

Wenn es heute Finders geworden ist, so wissen wir, wem wir das zu
verdanken haben. Es war ein großes Glück, daß sich Bismcirck um die „mytho¬
logischen Vorstellungen" unsrer Anglvmanen von dem englischen Staatswesen
nicht kümmerte und Lothar Bucher ins Auswärtige Amt berief.




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[0230] Lothar Buchers englische Erfahrungen besondern Ausdruck in ihrer Sonntagsfeier, von der Bücher einige charak¬ teristische Beispiele zum besten giebt. So verbietet z. V. das Gesetz am Sonntag jede Musik, außer der geistliche,,, „Wie hilft sich das Bedürfnis?" fragt Bucher, und läßt die Antwort selbst durch einen Engländer, durch Mr. Wright geben, der bekundet: „An Sonntagen ist in den Wirtshäusern Musik und zwar geistliche. Ich habe selbst die Doxolvgie »Lobt Gott, den Geber alles Guten« und »Vor Jehovcis furchtbarem Thron« singen hören. Ich habe das von jungen Burschen, fast noch .Knaben, singen hören, die Pfeife im Munde und ein Mädchen, fast noch Kind, im Arme." In den Mnsikhnllen Liverpools und andrer Städte sind jeden Sonntag ähnliche Szenen zu sehe,,. Bucher zitirt weiter Mr. Francis, der Sonntag Abend von einer größtenteils betrunkenen Gesellschaft den hundertsten Psalm, das Halleluja u. s. w. vortragen hörte: „Der Orgelspieler rauchte seine Pfeife, und die Gesellschaft stimmte ein »Wir sind das Volk des Herrn.«" Das alles gehörte zu den Beobachtungen, die bei Bucher allmählich eine Wandlung in seinen Ansichten über das englische Volk hervorbrachten und die ihm seine vom Festlande mitgebrachte Theorie über die englische Politik gründlich benahmen. In der Heimat wollte man sich aber die Illusionen über englische Vorzüglichkeit nicht stören lassen. Bucher erzählt aus eigner Erfah¬ rung, wenn er sagt: „Was dem Beobachter englischer Zustände von, Festlcindc her entgegengehalten wird, sind Urteile, abstrakte Sätze, Wörter, Gefühle. Er berichtet über ein Meeting, auf dem sich in aller Naivität die krasseste Selbst¬ sucht kund gethan — aber »das englische Volk ist hochherzig,« antwortet um, ihm. Er beobachtet, daß gewisse Vorgänge oder Einrichtungen von hohem, allgemeinem Interesse außerhalb eines gefeiten Zirkels ganz unbekannt sind — das Festland schüttelt den Kopf und sagt: Öffentlichkeit, Preßfreiheit, Ver¬ antwortlichkeit, Parlamentarismus!" Als Bucher so an die Stelle der Theorie die Erfahrung treten ließ, war er, wie gesagt, in den Augen des echten deutschen Liberalen seinen Grundsätzen untreu geworden. Dem illusionsfähigen liberalen Manne ging es wider den Strich, wenn es so sein sollte, wie Vncher sagte, daß die Masse des englischen Volkes die fremden Völker nnr fürchte oder ver¬ achte. „Sie hat, schrieb Bucher schon 1851 zur Zeit der ersten Weltaus¬ stellung in London, gegen den Halbbruder von der andern Seite des Wassers (Nordamerika) das Gefühl der Furcht, gegen alle andern Völker das Gefühl der Verachtung." Namentlich gelte das von Deutschland. Der Krämer blicke mit Verachtung auf die Deutschen und erkläre ihr geistiges Leben und Schaffe,, für eitel Träumerei. Wenn es heute Finders geworden ist, so wissen wir, wem wir das zu verdanken haben. Es war ein großes Glück, daß sich Bismcirck um die „mytho¬ logischen Vorstellungen" unsrer Anglvmanen von dem englischen Staatswesen nicht kümmerte und Lothar Bucher ins Auswärtige Amt berief.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/230>, abgerufen am 12.05.2024.