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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Der Parteitag in Hallo

leugnen -- so führt er ans --, daß das Programm Mängel hat, allein es
ist die alte Parteifahne, die uns zum Siege geführt hat, deshalb wollen wir
es in Ehren halten." Diesen Ausführungen schließt sich der Parteitag an
und beschließt, für diesmal keine Veränderung des Programms eintreten zu
lassen, da es sich vortrefflich bewährt habe, aber deu Parteivorstand zu be¬
auftragen, dem nächsten Parteitage den Entwurf eines veränderten Programms
vorzulegen.

Schon hieraus erkennt man deutlich, welcher Geist es ist, der die Bera¬
tungen beherrscht. Es ist der Geist der Opportunist, der vermehrten Rücksicht¬
nahme auf die praktischen Aufgaben der Gegenwart, von denen am Vorabende
der Zusammenkunft das amtliche Organ der Parteileitung gesagt hatte, daß
mir der utopische Sozialist sie über der Zukunft vergesse. Und diese Tendenz
läßt sich durch alle Beratungen bis ins einzelne verfolgen; sie tritt gleichmäßig
hervor in sozialen wie in politischen Fragen. Was die erstern anlangt, so
ist von größter Bedeutung die veränderte Stellung der Partei zum "ehernen
Lohngesetz." Als der Vertreter der "Jungen," Werner, unter Hinweis auf
dieses Gesetz behauptete, daß eine Besserung der Lage der Arbeiter auf dem
Boden der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung nicht erreicht werden
könne, erhob sich Herr Bebel zu scharfer Entgegnung und erklärte, daß es ein
solches Gesetz überhaupt nicht gebe, und daß die Partei sich freuen müsse, daß
ein in nationalökonomischen Dingen so unwissender Mann, wie Werner, nicht
in den Reichstag gekommen sei, und völlig in Übereinstimmung hiermit sagte
Herr Liebknecht, daß Lassalle zwar mit großem Glück das "eherne Lohngesetz"
als Agitationsmittel verwandt habe, daß die Wissenschaft aber längst erwiesen
habe, daß dies Gesetz nicht vorhanden sei, es werde demnächst aus dem Partei¬
programm zu streichen sein.

Welch ungeheurer Umschwung! Die alte Theorie, die notwendig zur
Revolution führen mußte, wird verworfen, es wird offen anerkannt, daß auch
im heutigen Staate eine Besserung der Lage der Arbeiter über das "Existenz-
miuimum" hinaus eintreten könne, und damit gelangt man mit Notwendigkeit
dazu, sein Augenmerk zunächst auf die Besserung der Lohn- und Arbeits¬
bedingungen, auf die Steigerung des Arbeiterschutzes zu richten, sich zur Teil¬
nahme an der sozialreformatorischen Gesetzgebung verpflichtet zu halten, während
man die Durchführung des sozialistischen Güterverteilnugsidecils der Zukunft
überläßt.

In gleicher Weise verwirft die Partei die Ansicht der Radikalen, die da
meinten, daß die "Fachsimpelei" die Gesamtheit der Arbeiter von ihren großen
Zukuuftsaufgabeu abhalte, und die deshalb eine politische Organisation fordere.
"Die Genossen vergessen, daß durch die fachgewerkschaftliche Organisation uns
eine große Anzahl von Arbeitern zugeführt worden ist, die einer politischen
Organisation nicht beigetreten wären. Das Hemd ist dem Menschen näher


Der Parteitag in Hallo

leugnen — so führt er ans —, daß das Programm Mängel hat, allein es
ist die alte Parteifahne, die uns zum Siege geführt hat, deshalb wollen wir
es in Ehren halten." Diesen Ausführungen schließt sich der Parteitag an
und beschließt, für diesmal keine Veränderung des Programms eintreten zu
lassen, da es sich vortrefflich bewährt habe, aber deu Parteivorstand zu be¬
auftragen, dem nächsten Parteitage den Entwurf eines veränderten Programms
vorzulegen.

Schon hieraus erkennt man deutlich, welcher Geist es ist, der die Bera¬
tungen beherrscht. Es ist der Geist der Opportunist, der vermehrten Rücksicht¬
nahme auf die praktischen Aufgaben der Gegenwart, von denen am Vorabende
der Zusammenkunft das amtliche Organ der Parteileitung gesagt hatte, daß
mir der utopische Sozialist sie über der Zukunft vergesse. Und diese Tendenz
läßt sich durch alle Beratungen bis ins einzelne verfolgen; sie tritt gleichmäßig
hervor in sozialen wie in politischen Fragen. Was die erstern anlangt, so
ist von größter Bedeutung die veränderte Stellung der Partei zum „ehernen
Lohngesetz." Als der Vertreter der „Jungen," Werner, unter Hinweis auf
dieses Gesetz behauptete, daß eine Besserung der Lage der Arbeiter auf dem
Boden der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung nicht erreicht werden
könne, erhob sich Herr Bebel zu scharfer Entgegnung und erklärte, daß es ein
solches Gesetz überhaupt nicht gebe, und daß die Partei sich freuen müsse, daß
ein in nationalökonomischen Dingen so unwissender Mann, wie Werner, nicht
in den Reichstag gekommen sei, und völlig in Übereinstimmung hiermit sagte
Herr Liebknecht, daß Lassalle zwar mit großem Glück das „eherne Lohngesetz"
als Agitationsmittel verwandt habe, daß die Wissenschaft aber längst erwiesen
habe, daß dies Gesetz nicht vorhanden sei, es werde demnächst aus dem Partei¬
programm zu streichen sein.

Welch ungeheurer Umschwung! Die alte Theorie, die notwendig zur
Revolution führen mußte, wird verworfen, es wird offen anerkannt, daß auch
im heutigen Staate eine Besserung der Lage der Arbeiter über das „Existenz-
miuimum" hinaus eintreten könne, und damit gelangt man mit Notwendigkeit
dazu, sein Augenmerk zunächst auf die Besserung der Lohn- und Arbeits¬
bedingungen, auf die Steigerung des Arbeiterschutzes zu richten, sich zur Teil¬
nahme an der sozialreformatorischen Gesetzgebung verpflichtet zu halten, während
man die Durchführung des sozialistischen Güterverteilnugsidecils der Zukunft
überläßt.

In gleicher Weise verwirft die Partei die Ansicht der Radikalen, die da
meinten, daß die „Fachsimpelei" die Gesamtheit der Arbeiter von ihren großen
Zukuuftsaufgabeu abhalte, und die deshalb eine politische Organisation fordere.
„Die Genossen vergessen, daß durch die fachgewerkschaftliche Organisation uns
eine große Anzahl von Arbeitern zugeführt worden ist, die einer politischen
Organisation nicht beigetreten wären. Das Hemd ist dem Menschen näher


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/258>, abgerufen am 12.05.2024.