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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Der Parteitag in Halle

mis der Rock." (Worte des Referenten für Streiks, Bohkotts u. s. w.) Ebenso
verhalt man sich aber anch gegenüber den eigentlich politischen Fragen. Die
Teilnahme um den Wahlen der Einzellandtage wird beschlossen, so grundsätzlich
mein auch jedes beschränkte Wahlrecht verwirft, und man erklärt sich zur Mit¬
wirkung an allen Fragen der Gesetzgebung bereit, ja Herr Bebel will sogar,
was Werner besonders tadelnswert findet, einer Anleihe für Beschaffung dunkler
Uniformen zustimmen, um den .Krieg zu vermenschlichen.

Religion und Monarchie find natürlich im sozialdemokratischen Zukunfts-
staate abgeschafft. Aber aus Rücksicht ans die gewonnenen und noch zu ge¬
winnenden Bevölkerungsteile hütet man sich, Forderungen in der Richtung auf
diese Endziele aufzustellen, zur Agitation gegen Thron und Altar aufzufordern.
Das find Zukunftsgedanken, deren Durchführung nur der Zeit überlassen zu
werden braucht. "Die gesamte Religionsfrage, so äußert sich ein Berliner
Abgeordneter, ist eine Frage der Taktik." "Wenn wir die Geschäfte der Frei¬
religiösen besorgen, dann werden wir von der Landbevölkerung aus ihren Ver¬
sammlungen hinausgeprügelt werden," fügt Herr Molkenbuhr hinzu.

Wir wollen nicht weiter ins Einzelne gehen, wollen uns mit den gegebenen,
nach unsrer Meinung die Sache scharf kennzeichnenden Beispielen begnügen und
schließlich nur noch das kräftige Wort hinzusetzen, mit dem Herr Liebknecht
auf eine Rede Werners den Anarchismus verurteilt hat: "Mau wirft uns vor,
sagt er, daß wir zu langsam vorgingen. Das heißt: die Partei ist vernünftig.
Wer mit dem Kopfe durch die Wand will, rennt sich den Kopf ein. Vergessen
wir nicht, daß uns noch immer achtzig Prozent der Bevölkerung gegenüber¬
stehen. Wollten wir in solchem Falle den Anarchisten folget, und Gewalt an¬
wenden, dann würde man uns einfach ins Zuchthaus, mit noch größerm Rechte
ins Irrenhaus sperren."

Mail hat gesagt, das sei alles eitel Heuchelei und Verstellung, lediglich
darauf berechnet, die unverständigen Leute zu beruhigen, die sich von der
Sozialdemokratie hätten einfangen lassen oder im Begriffe seien, von ihr ein¬
gefangen zu werden. Nun, seien die Motive, welche sie wollen, die That¬
sache steht fest -- und das ist von einer gar nicht hoch genug auzuschlageudeu
Wichtigkeit --, daß die Parteileitung und, nach dem Parteitag in Halle zu
schließen, mit ihr das Gros der Partei in bewußtem Gegensatze zu den Be¬
strebungen der radikalen Umstürzler angefangen hat, mit den gegebenen Ver¬
hältnissen zu rechnen, ein stärkeres Gewicht auf die praktischen und unmittel¬
baren Ziele der Gegenwart zu legen und die Zukunftsgedanken vorläufig
zurücktreten zu lassen, daß sie sich bereit erklärt zur Mitarbeit an der Gesetz¬
gebung des bestehenden Staates, und daß sie den Gedanken an gewaltsamen
Umsturz mit dem schärfsten Nachdrucke zurückweist. Wenn dies ans Oppvrtunitnts-
gründen und ans Rücksichten der Taktik geschehen ist, so ändert das nichts
an der Thatsache, daß es geschehen ist.


Der Parteitag in Halle

mis der Rock." (Worte des Referenten für Streiks, Bohkotts u. s. w.) Ebenso
verhalt man sich aber anch gegenüber den eigentlich politischen Fragen. Die
Teilnahme um den Wahlen der Einzellandtage wird beschlossen, so grundsätzlich
mein auch jedes beschränkte Wahlrecht verwirft, und man erklärt sich zur Mit¬
wirkung an allen Fragen der Gesetzgebung bereit, ja Herr Bebel will sogar,
was Werner besonders tadelnswert findet, einer Anleihe für Beschaffung dunkler
Uniformen zustimmen, um den .Krieg zu vermenschlichen.

Religion und Monarchie find natürlich im sozialdemokratischen Zukunfts-
staate abgeschafft. Aber aus Rücksicht ans die gewonnenen und noch zu ge¬
winnenden Bevölkerungsteile hütet man sich, Forderungen in der Richtung auf
diese Endziele aufzustellen, zur Agitation gegen Thron und Altar aufzufordern.
Das find Zukunftsgedanken, deren Durchführung nur der Zeit überlassen zu
werden braucht. „Die gesamte Religionsfrage, so äußert sich ein Berliner
Abgeordneter, ist eine Frage der Taktik." „Wenn wir die Geschäfte der Frei¬
religiösen besorgen, dann werden wir von der Landbevölkerung aus ihren Ver¬
sammlungen hinausgeprügelt werden," fügt Herr Molkenbuhr hinzu.

Wir wollen nicht weiter ins Einzelne gehen, wollen uns mit den gegebenen,
nach unsrer Meinung die Sache scharf kennzeichnenden Beispielen begnügen und
schließlich nur noch das kräftige Wort hinzusetzen, mit dem Herr Liebknecht
auf eine Rede Werners den Anarchismus verurteilt hat: „Mau wirft uns vor,
sagt er, daß wir zu langsam vorgingen. Das heißt: die Partei ist vernünftig.
Wer mit dem Kopfe durch die Wand will, rennt sich den Kopf ein. Vergessen
wir nicht, daß uns noch immer achtzig Prozent der Bevölkerung gegenüber¬
stehen. Wollten wir in solchem Falle den Anarchisten folget, und Gewalt an¬
wenden, dann würde man uns einfach ins Zuchthaus, mit noch größerm Rechte
ins Irrenhaus sperren."

Mail hat gesagt, das sei alles eitel Heuchelei und Verstellung, lediglich
darauf berechnet, die unverständigen Leute zu beruhigen, die sich von der
Sozialdemokratie hätten einfangen lassen oder im Begriffe seien, von ihr ein¬
gefangen zu werden. Nun, seien die Motive, welche sie wollen, die That¬
sache steht fest — und das ist von einer gar nicht hoch genug auzuschlageudeu
Wichtigkeit —, daß die Parteileitung und, nach dem Parteitag in Halle zu
schließen, mit ihr das Gros der Partei in bewußtem Gegensatze zu den Be¬
strebungen der radikalen Umstürzler angefangen hat, mit den gegebenen Ver¬
hältnissen zu rechnen, ein stärkeres Gewicht auf die praktischen und unmittel¬
baren Ziele der Gegenwart zu legen und die Zukunftsgedanken vorläufig
zurücktreten zu lassen, daß sie sich bereit erklärt zur Mitarbeit an der Gesetz¬
gebung des bestehenden Staates, und daß sie den Gedanken an gewaltsamen
Umsturz mit dem schärfsten Nachdrucke zurückweist. Wenn dies ans Oppvrtunitnts-
gründen und ans Rücksichten der Taktik geschehen ist, so ändert das nichts
an der Thatsache, daß es geschehen ist.


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[0259] Der Parteitag in Halle mis der Rock." (Worte des Referenten für Streiks, Bohkotts u. s. w.) Ebenso verhalt man sich aber anch gegenüber den eigentlich politischen Fragen. Die Teilnahme um den Wahlen der Einzellandtage wird beschlossen, so grundsätzlich mein auch jedes beschränkte Wahlrecht verwirft, und man erklärt sich zur Mit¬ wirkung an allen Fragen der Gesetzgebung bereit, ja Herr Bebel will sogar, was Werner besonders tadelnswert findet, einer Anleihe für Beschaffung dunkler Uniformen zustimmen, um den .Krieg zu vermenschlichen. Religion und Monarchie find natürlich im sozialdemokratischen Zukunfts- staate abgeschafft. Aber aus Rücksicht ans die gewonnenen und noch zu ge¬ winnenden Bevölkerungsteile hütet man sich, Forderungen in der Richtung auf diese Endziele aufzustellen, zur Agitation gegen Thron und Altar aufzufordern. Das find Zukunftsgedanken, deren Durchführung nur der Zeit überlassen zu werden braucht. „Die gesamte Religionsfrage, so äußert sich ein Berliner Abgeordneter, ist eine Frage der Taktik." „Wenn wir die Geschäfte der Frei¬ religiösen besorgen, dann werden wir von der Landbevölkerung aus ihren Ver¬ sammlungen hinausgeprügelt werden," fügt Herr Molkenbuhr hinzu. Wir wollen nicht weiter ins Einzelne gehen, wollen uns mit den gegebenen, nach unsrer Meinung die Sache scharf kennzeichnenden Beispielen begnügen und schließlich nur noch das kräftige Wort hinzusetzen, mit dem Herr Liebknecht auf eine Rede Werners den Anarchismus verurteilt hat: „Mau wirft uns vor, sagt er, daß wir zu langsam vorgingen. Das heißt: die Partei ist vernünftig. Wer mit dem Kopfe durch die Wand will, rennt sich den Kopf ein. Vergessen wir nicht, daß uns noch immer achtzig Prozent der Bevölkerung gegenüber¬ stehen. Wollten wir in solchem Falle den Anarchisten folget, und Gewalt an¬ wenden, dann würde man uns einfach ins Zuchthaus, mit noch größerm Rechte ins Irrenhaus sperren." Mail hat gesagt, das sei alles eitel Heuchelei und Verstellung, lediglich darauf berechnet, die unverständigen Leute zu beruhigen, die sich von der Sozialdemokratie hätten einfangen lassen oder im Begriffe seien, von ihr ein¬ gefangen zu werden. Nun, seien die Motive, welche sie wollen, die That¬ sache steht fest — und das ist von einer gar nicht hoch genug auzuschlageudeu Wichtigkeit —, daß die Parteileitung und, nach dem Parteitag in Halle zu schließen, mit ihr das Gros der Partei in bewußtem Gegensatze zu den Be¬ strebungen der radikalen Umstürzler angefangen hat, mit den gegebenen Ver¬ hältnissen zu rechnen, ein stärkeres Gewicht auf die praktischen und unmittel¬ baren Ziele der Gegenwart zu legen und die Zukunftsgedanken vorläufig zurücktreten zu lassen, daß sie sich bereit erklärt zur Mitarbeit an der Gesetz¬ gebung des bestehenden Staates, und daß sie den Gedanken an gewaltsamen Umsturz mit dem schärfsten Nachdrucke zurückweist. Wenn dies ans Oppvrtunitnts- gründen und ans Rücksichten der Taktik geschehen ist, so ändert das nichts an der Thatsache, daß es geschehen ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/259>, abgerufen am 23.05.2024.