Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der deutsche Klassiker des Sozialismus

Ma, und namentlich wenn wir letzteres sind, müssen wir den Sozinlismus
für eine Ausgeburt der Hölle halten. Das giebt eine schöne Gelegenheit zur
Gesellschaftsrettung ab und erhöht sowohl den Glnnz des heiligen Vaters, wie
es den Zentrumsorganen ihre durch das Ende der Kirchenverfolgung lau ge¬
wordenen Abonnenten wieder sichert. In Deutschland, und wohl auch in den
andern Ländern des .Kontinents, wird nämlich jede Ansicht als Parteisache
behandelt. Jede Partei aber liest'mir ihr "Organ," und wehe diesem Organ,
wenn es sich einmal untersteht, nußer der Parteimeinnng auch andern Mei¬
nungen Raum zu geben! Jeder Abonnent sieht das als eine persönliche Be¬
leidigung an. So singt jede Partei jahraus jahrein ohne Rücksicht auf die
andern ihre eintönige Melodie herunter, was keine Shmphonie, sondern eine
greuliche Katzenmusik ergiebt, und wobei, weil kein Meinungsaustausch statt¬
findet, sondern nur Monologe gehalten werden, die Lösung der brennenden
fragen keinen Schritt vorwärts rückt. In England ist das anders. Dort
wird wirklich diskutirt, sowohl in Versammlungen wie in der Presse. Manche
Zeitschriften, wie das Mustvontb Century, laden die Häupter der entgegengesetzten
Parteien ausdrücklich zur Mitarbeit ein. Jeder vermag des Gegners Ansicht
anzuhören, ohne daß er Kopf- und Leibweh davon bekommt, und nachdem man
die Sache hin und her besprochen hat, gelangt man auch, sofern es sich nur
nicht gerade um Irland handelt, zu einer Verständigung. Seitdem das
Nopoperhgeschrei aufgehört hat, hegt man keinerlei abergläubische Vorein¬
genommenheit gegen irgend eine Ansicht mehr; am wenigsten gegen den Sozia-
lismus. Kirchenzeitungen bringen Beiträge von Sozialisten, und ans dem
Kongreß der Staatskirche zu Hull sagte am 1. Oktober der Bischof von Dur-
ham, an dem Worte Sozialismus dürfe niemand Anstoß nehmen; es bedeute
weiter nichts, mis daß mau die Produktion jetzt einmal vom Standpunkte der
Gesamtheit anzusehen beginne, während man sie lange genug lediglich für ein
Privatgeschäft und als Sache der freien Konkurrenz angesehen habe.

Wenn die Ansicht, daß bei uns in Deutschland die freie öffentliche Dis¬
kussion nicht ungefährlich sei, einen Schein von Berechtigung hat, so kommt
das daher, weil Nur, dieses Volk der Dealer und der Theoretiker, noch gar
nicht einmal wissen, was eine Theorie ist. In England weiß jedermann bis
zum Straßenkehrer herab, daß eine Theorie eine Theorie, d. h. eine Ansicht
von einer Sache ist, der andre Ansichten zur Seite und gegenüberstehen, und
daß nach dieser Ansicht das eine, nach der andern Ansicht ein andres an der
fraglichen Sache gebessert werden kann, und niemand verfüllt anf den verrückten
Gedanken, die vielseitige Wirklichkeit in eine ihrer Natur nach einseitige Theorie
pressen, gewissermaßen aus der dreidimeusionaleu Körperwelt ein Flachen-
vrnameut macheu zu wollen. Der Deutsche aber bildet sich ein, wenn er eine
Theorie gefunden hat, so müsse er sofort die ganze Wirklichkeit darnach um¬
gestalten, und er setzt dieselbe Verrücktheit bei jedem andern Menschen voraus,


Grenzboten IV IM" Zg
Der deutsche Klassiker des Sozialismus

Ma, und namentlich wenn wir letzteres sind, müssen wir den Sozinlismus
für eine Ausgeburt der Hölle halten. Das giebt eine schöne Gelegenheit zur
Gesellschaftsrettung ab und erhöht sowohl den Glnnz des heiligen Vaters, wie
es den Zentrumsorganen ihre durch das Ende der Kirchenverfolgung lau ge¬
wordenen Abonnenten wieder sichert. In Deutschland, und wohl auch in den
andern Ländern des .Kontinents, wird nämlich jede Ansicht als Parteisache
behandelt. Jede Partei aber liest'mir ihr „Organ," und wehe diesem Organ,
wenn es sich einmal untersteht, nußer der Parteimeinnng auch andern Mei¬
nungen Raum zu geben! Jeder Abonnent sieht das als eine persönliche Be¬
leidigung an. So singt jede Partei jahraus jahrein ohne Rücksicht auf die
andern ihre eintönige Melodie herunter, was keine Shmphonie, sondern eine
greuliche Katzenmusik ergiebt, und wobei, weil kein Meinungsaustausch statt¬
findet, sondern nur Monologe gehalten werden, die Lösung der brennenden
fragen keinen Schritt vorwärts rückt. In England ist das anders. Dort
wird wirklich diskutirt, sowohl in Versammlungen wie in der Presse. Manche
Zeitschriften, wie das Mustvontb Century, laden die Häupter der entgegengesetzten
Parteien ausdrücklich zur Mitarbeit ein. Jeder vermag des Gegners Ansicht
anzuhören, ohne daß er Kopf- und Leibweh davon bekommt, und nachdem man
die Sache hin und her besprochen hat, gelangt man auch, sofern es sich nur
nicht gerade um Irland handelt, zu einer Verständigung. Seitdem das
Nopoperhgeschrei aufgehört hat, hegt man keinerlei abergläubische Vorein¬
genommenheit gegen irgend eine Ansicht mehr; am wenigsten gegen den Sozia-
lismus. Kirchenzeitungen bringen Beiträge von Sozialisten, und ans dem
Kongreß der Staatskirche zu Hull sagte am 1. Oktober der Bischof von Dur-
ham, an dem Worte Sozialismus dürfe niemand Anstoß nehmen; es bedeute
weiter nichts, mis daß mau die Produktion jetzt einmal vom Standpunkte der
Gesamtheit anzusehen beginne, während man sie lange genug lediglich für ein
Privatgeschäft und als Sache der freien Konkurrenz angesehen habe.

Wenn die Ansicht, daß bei uns in Deutschland die freie öffentliche Dis¬
kussion nicht ungefährlich sei, einen Schein von Berechtigung hat, so kommt
das daher, weil Nur, dieses Volk der Dealer und der Theoretiker, noch gar
nicht einmal wissen, was eine Theorie ist. In England weiß jedermann bis
zum Straßenkehrer herab, daß eine Theorie eine Theorie, d. h. eine Ansicht
von einer Sache ist, der andre Ansichten zur Seite und gegenüberstehen, und
daß nach dieser Ansicht das eine, nach der andern Ansicht ein andres an der
fraglichen Sache gebessert werden kann, und niemand verfüllt anf den verrückten
Gedanken, die vielseitige Wirklichkeit in eine ihrer Natur nach einseitige Theorie
pressen, gewissermaßen aus der dreidimeusionaleu Körperwelt ein Flachen-
vrnameut macheu zu wollen. Der Deutsche aber bildet sich ein, wenn er eine
Theorie gefunden hat, so müsse er sofort die ganze Wirklichkeit darnach um¬
gestalten, und er setzt dieselbe Verrücktheit bei jedem andern Menschen voraus,


Grenzboten IV IM» Zg
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0265" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208844"/>
            <fw type="header" place="top"> Der deutsche Klassiker des Sozialismus</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_753" prev="#ID_752"> Ma, und namentlich wenn wir letzteres sind, müssen wir den Sozinlismus<lb/>
für eine Ausgeburt der Hölle halten. Das giebt eine schöne Gelegenheit zur<lb/>
Gesellschaftsrettung ab und erhöht sowohl den Glnnz des heiligen Vaters, wie<lb/>
es den Zentrumsorganen ihre durch das Ende der Kirchenverfolgung lau ge¬<lb/>
wordenen Abonnenten wieder sichert. In Deutschland, und wohl auch in den<lb/>
andern Ländern des .Kontinents, wird nämlich jede Ansicht als Parteisache<lb/>
behandelt. Jede Partei aber liest'mir ihr &#x201E;Organ," und wehe diesem Organ,<lb/>
wenn es sich einmal untersteht, nußer der Parteimeinnng auch andern Mei¬<lb/>
nungen Raum zu geben! Jeder Abonnent sieht das als eine persönliche Be¬<lb/>
leidigung an. So singt jede Partei jahraus jahrein ohne Rücksicht auf die<lb/>
andern ihre eintönige Melodie herunter, was keine Shmphonie, sondern eine<lb/>
greuliche Katzenmusik ergiebt, und wobei, weil kein Meinungsaustausch statt¬<lb/>
findet, sondern nur Monologe gehalten werden, die Lösung der brennenden<lb/>
fragen keinen Schritt vorwärts rückt. In England ist das anders. Dort<lb/>
wird wirklich diskutirt, sowohl in Versammlungen wie in der Presse. Manche<lb/>
Zeitschriften, wie das Mustvontb Century, laden die Häupter der entgegengesetzten<lb/>
Parteien ausdrücklich zur Mitarbeit ein. Jeder vermag des Gegners Ansicht<lb/>
anzuhören, ohne daß er Kopf- und Leibweh davon bekommt, und nachdem man<lb/>
die Sache hin und her besprochen hat, gelangt man auch, sofern es sich nur<lb/>
nicht gerade um Irland handelt, zu einer Verständigung. Seitdem das<lb/>
Nopoperhgeschrei aufgehört hat, hegt man keinerlei abergläubische Vorein¬<lb/>
genommenheit gegen irgend eine Ansicht mehr; am wenigsten gegen den Sozia-<lb/>
lismus. Kirchenzeitungen bringen Beiträge von Sozialisten, und ans dem<lb/>
Kongreß der Staatskirche zu Hull sagte am 1. Oktober der Bischof von Dur-<lb/>
ham, an dem Worte Sozialismus dürfe niemand Anstoß nehmen; es bedeute<lb/>
weiter nichts, mis daß mau die Produktion jetzt einmal vom Standpunkte der<lb/>
Gesamtheit anzusehen beginne, während man sie lange genug lediglich für ein<lb/>
Privatgeschäft und als Sache der freien Konkurrenz angesehen habe.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_754" next="#ID_755"> Wenn die Ansicht, daß bei uns in Deutschland die freie öffentliche Dis¬<lb/>
kussion nicht ungefährlich sei, einen Schein von Berechtigung hat, so kommt<lb/>
das daher, weil Nur, dieses Volk der Dealer und der Theoretiker, noch gar<lb/>
nicht einmal wissen, was eine Theorie ist. In England weiß jedermann bis<lb/>
zum Straßenkehrer herab, daß eine Theorie eine Theorie, d. h. eine Ansicht<lb/>
von einer Sache ist, der andre Ansichten zur Seite und gegenüberstehen, und<lb/>
daß nach dieser Ansicht das eine, nach der andern Ansicht ein andres an der<lb/>
fraglichen Sache gebessert werden kann, und niemand verfüllt anf den verrückten<lb/>
Gedanken, die vielseitige Wirklichkeit in eine ihrer Natur nach einseitige Theorie<lb/>
pressen, gewissermaßen aus der dreidimeusionaleu Körperwelt ein Flachen-<lb/>
vrnameut macheu zu wollen. Der Deutsche aber bildet sich ein, wenn er eine<lb/>
Theorie gefunden hat, so müsse er sofort die ganze Wirklichkeit darnach um¬<lb/>
gestalten, und er setzt dieselbe Verrücktheit bei jedem andern Menschen voraus,</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV IM» Zg</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0265] Der deutsche Klassiker des Sozialismus Ma, und namentlich wenn wir letzteres sind, müssen wir den Sozinlismus für eine Ausgeburt der Hölle halten. Das giebt eine schöne Gelegenheit zur Gesellschaftsrettung ab und erhöht sowohl den Glnnz des heiligen Vaters, wie es den Zentrumsorganen ihre durch das Ende der Kirchenverfolgung lau ge¬ wordenen Abonnenten wieder sichert. In Deutschland, und wohl auch in den andern Ländern des .Kontinents, wird nämlich jede Ansicht als Parteisache behandelt. Jede Partei aber liest'mir ihr „Organ," und wehe diesem Organ, wenn es sich einmal untersteht, nußer der Parteimeinnng auch andern Mei¬ nungen Raum zu geben! Jeder Abonnent sieht das als eine persönliche Be¬ leidigung an. So singt jede Partei jahraus jahrein ohne Rücksicht auf die andern ihre eintönige Melodie herunter, was keine Shmphonie, sondern eine greuliche Katzenmusik ergiebt, und wobei, weil kein Meinungsaustausch statt¬ findet, sondern nur Monologe gehalten werden, die Lösung der brennenden fragen keinen Schritt vorwärts rückt. In England ist das anders. Dort wird wirklich diskutirt, sowohl in Versammlungen wie in der Presse. Manche Zeitschriften, wie das Mustvontb Century, laden die Häupter der entgegengesetzten Parteien ausdrücklich zur Mitarbeit ein. Jeder vermag des Gegners Ansicht anzuhören, ohne daß er Kopf- und Leibweh davon bekommt, und nachdem man die Sache hin und her besprochen hat, gelangt man auch, sofern es sich nur nicht gerade um Irland handelt, zu einer Verständigung. Seitdem das Nopoperhgeschrei aufgehört hat, hegt man keinerlei abergläubische Vorein¬ genommenheit gegen irgend eine Ansicht mehr; am wenigsten gegen den Sozia- lismus. Kirchenzeitungen bringen Beiträge von Sozialisten, und ans dem Kongreß der Staatskirche zu Hull sagte am 1. Oktober der Bischof von Dur- ham, an dem Worte Sozialismus dürfe niemand Anstoß nehmen; es bedeute weiter nichts, mis daß mau die Produktion jetzt einmal vom Standpunkte der Gesamtheit anzusehen beginne, während man sie lange genug lediglich für ein Privatgeschäft und als Sache der freien Konkurrenz angesehen habe. Wenn die Ansicht, daß bei uns in Deutschland die freie öffentliche Dis¬ kussion nicht ungefährlich sei, einen Schein von Berechtigung hat, so kommt das daher, weil Nur, dieses Volk der Dealer und der Theoretiker, noch gar nicht einmal wissen, was eine Theorie ist. In England weiß jedermann bis zum Straßenkehrer herab, daß eine Theorie eine Theorie, d. h. eine Ansicht von einer Sache ist, der andre Ansichten zur Seite und gegenüberstehen, und daß nach dieser Ansicht das eine, nach der andern Ansicht ein andres an der fraglichen Sache gebessert werden kann, und niemand verfüllt anf den verrückten Gedanken, die vielseitige Wirklichkeit in eine ihrer Natur nach einseitige Theorie pressen, gewissermaßen aus der dreidimeusionaleu Körperwelt ein Flachen- vrnameut macheu zu wollen. Der Deutsche aber bildet sich ein, wenn er eine Theorie gefunden hat, so müsse er sofort die ganze Wirklichkeit darnach um¬ gestalten, und er setzt dieselbe Verrücktheit bei jedem andern Menschen voraus, Grenzboten IV IM» Zg

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/265
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/265>, abgerufen am 16.06.2024.