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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Der deutsche Klassiker des Zozialismus

daher er denn, wenn sein Gegenpart im Gespräch den Begriff des Privat¬
eigentums zu erörtern anfängt, sofort nach Uhr und Geldbeutel greift, um sie
vor dem Kerl, der doch nur ein Spitzbube sein könne, zu sichern. Wenn so
der Hochgebildete der Theorie die Macht beimißt, ihre augenblickliche Aus¬
führung zu erzwingen, dann dürfte man sich freilich nicht Wundern, wenn der
Fabrikarbeiter die Lehren des Sozialismus als eine Aufforderung zum Müßig¬
gang und zum Stehlen mißverstünde.

Der Eigentumsbegriff ist so wenig wie irgend ein andrer fertig vom
Himmel gefallen, sondern entwickelt worden, und er erleidet beständige Wand¬
lungen. Daß sehr reiche Leute einer Erörterung dieses Begriffes abgeneigt
sind, kann nicht Wunder nehmen; denn sie fürchten, daß ein Wandel des Be¬
griffes einen Wandel der Lage zur Folge haben könnte, und es ist kein Wandel
denkbar, der ihre Lage noch verbessern, Wohl aber so mancher, der sie ver¬
schlechtern könnte. Sehr reiche Leute sind daher immer hhperkonservativ, mögen
sie sich in der Politik anch liberal oder freisinnig nennen. Dagegen ist es
unbegreiflich und unverantwortlich, wenn sich der gebildete Mittelstand gegen
eine solche Erörterung sträubt. Welcher Mann von ein- bis dreitausend
Thalern Einkommen sieht nicht trotz aller Opfer, die er für seine Kinder bringt,
mit Bangen in deren Zukunft? Bor sechzig Jahren konnte ein gebildeter
Mann, ohne den Vorwurf der Gewissenlosigkeit fürchten zu müssen, seinen
Jungen mit einem Thaler in die weite Welt schicken, weil wirklich jeder, der
nur arbeiten wollte, sich durchschlug. Mußte der Bursche vielleicht auch, ehe
er festen Fuß faßte, manchmal monatelang fechten gehen, das vernichtete nicht,
wie heute, seine Existenz, das hatte nicht seine Ausstoßung aus der bürger¬
lichen Gesellschaft, seine Achtung zur Folge. Wer iir dieser stetig Annehmenden
Erschwerung des Fortkommens nicht die Aufforderung sieht, die Grundlagen
unsrer Gesellschaftseinrichtungen auf ihre Haltbarkeit, Berechtigung und Ver¬
nünftigkeit hin zu prüfen, der ist nicht bloß leichtsinnig und gedankenlos, sondern,
wenn er selbst Kinder hat, gewissenlos.

Noch unverständlicher ist die ablehnende Haltung mancher Männer der
Wissenschaft, deuen doch die Wandlungen des Eigentumsbegriffes bis in die
neueste Zeit herein nicht unbekannt sein können. Wo wäre das preußische
Heer, wo wären die musterhaften preußischen Finanzen, wo wäre Preußen
selbst, wenn seine Könige nicht den Eigentumsbegriff der Junker, die den
Bauernacker samt dem Bauer sür ihr rechtmäßiges und unantastbares Eigentum
ansahen, einer gründlichen Korrektur unterworfen hätten? Anders als aus
Vorurteil läßt es sich doch nicht erklären, wenn ein Handbüchlein der National¬
ökonomie, das seiner Handlichkeit wegen wahrscheinlich sehr verbreitet ist (den
Verfasser nennen wir nicht, weil wir ihn im übrigen hochschützen), Rodbertns
mit folgendem Sätzchen abschlachtet: "Sein Sozialismus besteht hauptsächlich
in dem Wahne, nach einigen hundert Jahren werde das Kapital- und Grund-


Der deutsche Klassiker des Zozialismus

daher er denn, wenn sein Gegenpart im Gespräch den Begriff des Privat¬
eigentums zu erörtern anfängt, sofort nach Uhr und Geldbeutel greift, um sie
vor dem Kerl, der doch nur ein Spitzbube sein könne, zu sichern. Wenn so
der Hochgebildete der Theorie die Macht beimißt, ihre augenblickliche Aus¬
führung zu erzwingen, dann dürfte man sich freilich nicht Wundern, wenn der
Fabrikarbeiter die Lehren des Sozialismus als eine Aufforderung zum Müßig¬
gang und zum Stehlen mißverstünde.

Der Eigentumsbegriff ist so wenig wie irgend ein andrer fertig vom
Himmel gefallen, sondern entwickelt worden, und er erleidet beständige Wand¬
lungen. Daß sehr reiche Leute einer Erörterung dieses Begriffes abgeneigt
sind, kann nicht Wunder nehmen; denn sie fürchten, daß ein Wandel des Be¬
griffes einen Wandel der Lage zur Folge haben könnte, und es ist kein Wandel
denkbar, der ihre Lage noch verbessern, Wohl aber so mancher, der sie ver¬
schlechtern könnte. Sehr reiche Leute sind daher immer hhperkonservativ, mögen
sie sich in der Politik anch liberal oder freisinnig nennen. Dagegen ist es
unbegreiflich und unverantwortlich, wenn sich der gebildete Mittelstand gegen
eine solche Erörterung sträubt. Welcher Mann von ein- bis dreitausend
Thalern Einkommen sieht nicht trotz aller Opfer, die er für seine Kinder bringt,
mit Bangen in deren Zukunft? Bor sechzig Jahren konnte ein gebildeter
Mann, ohne den Vorwurf der Gewissenlosigkeit fürchten zu müssen, seinen
Jungen mit einem Thaler in die weite Welt schicken, weil wirklich jeder, der
nur arbeiten wollte, sich durchschlug. Mußte der Bursche vielleicht auch, ehe
er festen Fuß faßte, manchmal monatelang fechten gehen, das vernichtete nicht,
wie heute, seine Existenz, das hatte nicht seine Ausstoßung aus der bürger¬
lichen Gesellschaft, seine Achtung zur Folge. Wer iir dieser stetig Annehmenden
Erschwerung des Fortkommens nicht die Aufforderung sieht, die Grundlagen
unsrer Gesellschaftseinrichtungen auf ihre Haltbarkeit, Berechtigung und Ver¬
nünftigkeit hin zu prüfen, der ist nicht bloß leichtsinnig und gedankenlos, sondern,
wenn er selbst Kinder hat, gewissenlos.

Noch unverständlicher ist die ablehnende Haltung mancher Männer der
Wissenschaft, deuen doch die Wandlungen des Eigentumsbegriffes bis in die
neueste Zeit herein nicht unbekannt sein können. Wo wäre das preußische
Heer, wo wären die musterhaften preußischen Finanzen, wo wäre Preußen
selbst, wenn seine Könige nicht den Eigentumsbegriff der Junker, die den
Bauernacker samt dem Bauer sür ihr rechtmäßiges und unantastbares Eigentum
ansahen, einer gründlichen Korrektur unterworfen hätten? Anders als aus
Vorurteil läßt es sich doch nicht erklären, wenn ein Handbüchlein der National¬
ökonomie, das seiner Handlichkeit wegen wahrscheinlich sehr verbreitet ist (den
Verfasser nennen wir nicht, weil wir ihn im übrigen hochschützen), Rodbertns
mit folgendem Sätzchen abschlachtet: „Sein Sozialismus besteht hauptsächlich
in dem Wahne, nach einigen hundert Jahren werde das Kapital- und Grund-


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[0266] Der deutsche Klassiker des Zozialismus daher er denn, wenn sein Gegenpart im Gespräch den Begriff des Privat¬ eigentums zu erörtern anfängt, sofort nach Uhr und Geldbeutel greift, um sie vor dem Kerl, der doch nur ein Spitzbube sein könne, zu sichern. Wenn so der Hochgebildete der Theorie die Macht beimißt, ihre augenblickliche Aus¬ führung zu erzwingen, dann dürfte man sich freilich nicht Wundern, wenn der Fabrikarbeiter die Lehren des Sozialismus als eine Aufforderung zum Müßig¬ gang und zum Stehlen mißverstünde. Der Eigentumsbegriff ist so wenig wie irgend ein andrer fertig vom Himmel gefallen, sondern entwickelt worden, und er erleidet beständige Wand¬ lungen. Daß sehr reiche Leute einer Erörterung dieses Begriffes abgeneigt sind, kann nicht Wunder nehmen; denn sie fürchten, daß ein Wandel des Be¬ griffes einen Wandel der Lage zur Folge haben könnte, und es ist kein Wandel denkbar, der ihre Lage noch verbessern, Wohl aber so mancher, der sie ver¬ schlechtern könnte. Sehr reiche Leute sind daher immer hhperkonservativ, mögen sie sich in der Politik anch liberal oder freisinnig nennen. Dagegen ist es unbegreiflich und unverantwortlich, wenn sich der gebildete Mittelstand gegen eine solche Erörterung sträubt. Welcher Mann von ein- bis dreitausend Thalern Einkommen sieht nicht trotz aller Opfer, die er für seine Kinder bringt, mit Bangen in deren Zukunft? Bor sechzig Jahren konnte ein gebildeter Mann, ohne den Vorwurf der Gewissenlosigkeit fürchten zu müssen, seinen Jungen mit einem Thaler in die weite Welt schicken, weil wirklich jeder, der nur arbeiten wollte, sich durchschlug. Mußte der Bursche vielleicht auch, ehe er festen Fuß faßte, manchmal monatelang fechten gehen, das vernichtete nicht, wie heute, seine Existenz, das hatte nicht seine Ausstoßung aus der bürger¬ lichen Gesellschaft, seine Achtung zur Folge. Wer iir dieser stetig Annehmenden Erschwerung des Fortkommens nicht die Aufforderung sieht, die Grundlagen unsrer Gesellschaftseinrichtungen auf ihre Haltbarkeit, Berechtigung und Ver¬ nünftigkeit hin zu prüfen, der ist nicht bloß leichtsinnig und gedankenlos, sondern, wenn er selbst Kinder hat, gewissenlos. Noch unverständlicher ist die ablehnende Haltung mancher Männer der Wissenschaft, deuen doch die Wandlungen des Eigentumsbegriffes bis in die neueste Zeit herein nicht unbekannt sein können. Wo wäre das preußische Heer, wo wären die musterhaften preußischen Finanzen, wo wäre Preußen selbst, wenn seine Könige nicht den Eigentumsbegriff der Junker, die den Bauernacker samt dem Bauer sür ihr rechtmäßiges und unantastbares Eigentum ansahen, einer gründlichen Korrektur unterworfen hätten? Anders als aus Vorurteil läßt es sich doch nicht erklären, wenn ein Handbüchlein der National¬ ökonomie, das seiner Handlichkeit wegen wahrscheinlich sehr verbreitet ist (den Verfasser nennen wir nicht, weil wir ihn im übrigen hochschützen), Rodbertns mit folgendem Sätzchen abschlachtet: „Sein Sozialismus besteht hauptsächlich in dem Wahne, nach einigen hundert Jahren werde das Kapital- und Grund-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/266>, abgerufen am 23.05.2024.