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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Die natürliche Sprachentwicklung und unsre heutige Gemeinsprache

Meinung jedem gesunden Sprachleben den sichern Tod bringen müssen; sie
wollen die Sprache "befreien von ihren Freunden und Beschützern." Schul¬
meisteret - - so lautet das Schlngwort auf dieser Seite.

Es ist ein eigentümliches Schicksal unsrer Schule, daß die Art ihrer
Thätigkeit überall als Schreckbild gebraucht wird, wo es etwas recht Unnatür¬
liches, Lebenswidriges zu bezeichnen gilt. Wie weit die Schule der Vergangenheit
und der Gegenwart diese zweifelhafte Ehre verdient hat, will ich hier nicht
untersuchen; was aber der Vorwurf den genannten Bestrebungen gegenüber
bedeute, glaubt jeder sofort zu verstehen: "Unsre herrliche Sprache, das frische,
ungebundne Naturkind, will mau meistern und einengen durch dürren Negel-
zwcmg. Frei, wie die mächtige Eiche des Waldes, entfaltet sich der Sprach¬
baum und treibt ungehemmt aus seiner innern Natur heraus neue Schößlinge,
Blüten und Früchte. Aber da kommt der trockne Pedant, der Maun der
blutlosen Regel, der Schulmeister, und sucht mit weiser Miene das Werk der
Natur zu verbessern. Ihm fehlt jedes Verständnis für das frische, natürliche
Wachstum, und mit schonungsloser Hand stutzt er den prächtigen Baum zu,
daß es eine Schmach ist." Reden sie nicht wirklich so, die Herren? So muß
ich anch die schönklingenden Worte Hermen Grimms verstehen (Deutsche
Rundschau, Februarheft 188ö): "Deutsch würde zu einer toten Sprache herab¬
gewürdigt werden, wenn man dem Wunsche ordnungsliebender Pedanten nach¬
gebend unsre Sprache in Regeln zwängen wollte. Ein Deutscher greift nach
den besten Worten, wie der Säugling nach der Brust seiner Mutter greift.
Dafür bedarf es keiner Jnstruktionsstunden. Der Gebrauch der Sprache wird
als natürliche Funktion vorausgesetzt. Ein Blick auf die Geschichte unsrer
Litteratur muß zeigen, daß unsre in energischer Fortbildung begriffene Sprache
ihre Gesetze in sich trage jträgtlj, wie unsre Gesetzgebung das sittliche Bewußtsein
des Volkes." Es läßt sich nicht leugne", daß solche Ausführungen gerade für
den Freund unsrer Muttersprache etwas Bestechendes haben, und gewiß siud
es nicht die Schlechtesten, die sich durch ähnliche Überlegungen gefangen nehmen
lassen. Ist aber diese Auffassung richtig? Sehen wir uns den "lebendigen
Baum der Sprache" einmal etwas genauer an!

Das Bild des Pflanzenlebens auf die Sprache angewandt ist uns sehr
geläufig, wir vergessen dabei aber gar zu leicht, daß es einen Zustand der
Sprache voraussetzt, von dem wir uns hente schon weit entfernt haben: es
stellt uns -- so weit dies ein Bild überhaupt vermag -- das Leben einer
unberührten Volkssprache dar. Mit einer solchen aber haben wir es nicht
zu thun, sondern mit der alle deutschen Stämme umfassenden Gemeinsprache,
mit unserm heutigen Schriftdeutsch. Die Entwicklung dieser Schriftsprache ist
eine Bewegung, die sich von vornherein zu den natürlichen Sprachverhültnissen
in Gegensatz stellt. Die natürliche Spracherlcrnnng erfolgt von Mund zu
Mund. Der Lehrende will dem Lernenden eigentlich nicht seine Sprache,


Die natürliche Sprachentwicklung und unsre heutige Gemeinsprache

Meinung jedem gesunden Sprachleben den sichern Tod bringen müssen; sie
wollen die Sprache „befreien von ihren Freunden und Beschützern." Schul¬
meisteret - - so lautet das Schlngwort auf dieser Seite.

Es ist ein eigentümliches Schicksal unsrer Schule, daß die Art ihrer
Thätigkeit überall als Schreckbild gebraucht wird, wo es etwas recht Unnatür¬
liches, Lebenswidriges zu bezeichnen gilt. Wie weit die Schule der Vergangenheit
und der Gegenwart diese zweifelhafte Ehre verdient hat, will ich hier nicht
untersuchen; was aber der Vorwurf den genannten Bestrebungen gegenüber
bedeute, glaubt jeder sofort zu verstehen: „Unsre herrliche Sprache, das frische,
ungebundne Naturkind, will mau meistern und einengen durch dürren Negel-
zwcmg. Frei, wie die mächtige Eiche des Waldes, entfaltet sich der Sprach¬
baum und treibt ungehemmt aus seiner innern Natur heraus neue Schößlinge,
Blüten und Früchte. Aber da kommt der trockne Pedant, der Maun der
blutlosen Regel, der Schulmeister, und sucht mit weiser Miene das Werk der
Natur zu verbessern. Ihm fehlt jedes Verständnis für das frische, natürliche
Wachstum, und mit schonungsloser Hand stutzt er den prächtigen Baum zu,
daß es eine Schmach ist." Reden sie nicht wirklich so, die Herren? So muß
ich anch die schönklingenden Worte Hermen Grimms verstehen (Deutsche
Rundschau, Februarheft 188ö): „Deutsch würde zu einer toten Sprache herab¬
gewürdigt werden, wenn man dem Wunsche ordnungsliebender Pedanten nach¬
gebend unsre Sprache in Regeln zwängen wollte. Ein Deutscher greift nach
den besten Worten, wie der Säugling nach der Brust seiner Mutter greift.
Dafür bedarf es keiner Jnstruktionsstunden. Der Gebrauch der Sprache wird
als natürliche Funktion vorausgesetzt. Ein Blick auf die Geschichte unsrer
Litteratur muß zeigen, daß unsre in energischer Fortbildung begriffene Sprache
ihre Gesetze in sich trage jträgtlj, wie unsre Gesetzgebung das sittliche Bewußtsein
des Volkes." Es läßt sich nicht leugne», daß solche Ausführungen gerade für
den Freund unsrer Muttersprache etwas Bestechendes haben, und gewiß siud
es nicht die Schlechtesten, die sich durch ähnliche Überlegungen gefangen nehmen
lassen. Ist aber diese Auffassung richtig? Sehen wir uns den „lebendigen
Baum der Sprache" einmal etwas genauer an!

Das Bild des Pflanzenlebens auf die Sprache angewandt ist uns sehr
geläufig, wir vergessen dabei aber gar zu leicht, daß es einen Zustand der
Sprache voraussetzt, von dem wir uns hente schon weit entfernt haben: es
stellt uns — so weit dies ein Bild überhaupt vermag — das Leben einer
unberührten Volkssprache dar. Mit einer solchen aber haben wir es nicht
zu thun, sondern mit der alle deutschen Stämme umfassenden Gemeinsprache,
mit unserm heutigen Schriftdeutsch. Die Entwicklung dieser Schriftsprache ist
eine Bewegung, die sich von vornherein zu den natürlichen Sprachverhültnissen
in Gegensatz stellt. Die natürliche Spracherlcrnnng erfolgt von Mund zu
Mund. Der Lehrende will dem Lernenden eigentlich nicht seine Sprache,


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[0364] Die natürliche Sprachentwicklung und unsre heutige Gemeinsprache Meinung jedem gesunden Sprachleben den sichern Tod bringen müssen; sie wollen die Sprache „befreien von ihren Freunden und Beschützern." Schul¬ meisteret - - so lautet das Schlngwort auf dieser Seite. Es ist ein eigentümliches Schicksal unsrer Schule, daß die Art ihrer Thätigkeit überall als Schreckbild gebraucht wird, wo es etwas recht Unnatür¬ liches, Lebenswidriges zu bezeichnen gilt. Wie weit die Schule der Vergangenheit und der Gegenwart diese zweifelhafte Ehre verdient hat, will ich hier nicht untersuchen; was aber der Vorwurf den genannten Bestrebungen gegenüber bedeute, glaubt jeder sofort zu verstehen: „Unsre herrliche Sprache, das frische, ungebundne Naturkind, will mau meistern und einengen durch dürren Negel- zwcmg. Frei, wie die mächtige Eiche des Waldes, entfaltet sich der Sprach¬ baum und treibt ungehemmt aus seiner innern Natur heraus neue Schößlinge, Blüten und Früchte. Aber da kommt der trockne Pedant, der Maun der blutlosen Regel, der Schulmeister, und sucht mit weiser Miene das Werk der Natur zu verbessern. Ihm fehlt jedes Verständnis für das frische, natürliche Wachstum, und mit schonungsloser Hand stutzt er den prächtigen Baum zu, daß es eine Schmach ist." Reden sie nicht wirklich so, die Herren? So muß ich anch die schönklingenden Worte Hermen Grimms verstehen (Deutsche Rundschau, Februarheft 188ö): „Deutsch würde zu einer toten Sprache herab¬ gewürdigt werden, wenn man dem Wunsche ordnungsliebender Pedanten nach¬ gebend unsre Sprache in Regeln zwängen wollte. Ein Deutscher greift nach den besten Worten, wie der Säugling nach der Brust seiner Mutter greift. Dafür bedarf es keiner Jnstruktionsstunden. Der Gebrauch der Sprache wird als natürliche Funktion vorausgesetzt. Ein Blick auf die Geschichte unsrer Litteratur muß zeigen, daß unsre in energischer Fortbildung begriffene Sprache ihre Gesetze in sich trage jträgtlj, wie unsre Gesetzgebung das sittliche Bewußtsein des Volkes." Es läßt sich nicht leugne», daß solche Ausführungen gerade für den Freund unsrer Muttersprache etwas Bestechendes haben, und gewiß siud es nicht die Schlechtesten, die sich durch ähnliche Überlegungen gefangen nehmen lassen. Ist aber diese Auffassung richtig? Sehen wir uns den „lebendigen Baum der Sprache" einmal etwas genauer an! Das Bild des Pflanzenlebens auf die Sprache angewandt ist uns sehr geläufig, wir vergessen dabei aber gar zu leicht, daß es einen Zustand der Sprache voraussetzt, von dem wir uns hente schon weit entfernt haben: es stellt uns — so weit dies ein Bild überhaupt vermag — das Leben einer unberührten Volkssprache dar. Mit einer solchen aber haben wir es nicht zu thun, sondern mit der alle deutschen Stämme umfassenden Gemeinsprache, mit unserm heutigen Schriftdeutsch. Die Entwicklung dieser Schriftsprache ist eine Bewegung, die sich von vornherein zu den natürlichen Sprachverhültnissen in Gegensatz stellt. Die natürliche Spracherlcrnnng erfolgt von Mund zu Mund. Der Lehrende will dem Lernenden eigentlich nicht seine Sprache,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/364>, abgerufen am 26.05.2024.