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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Die natürliche Sprachentwicklung und unsre heutige Geineinsprache

sondern seine Anschauungen, Empfindungen, Gedanken, Urteile übermitteln;
die Sprache ist nur die Form, die ohne den Inhalt nichts bedeutet. So wird
die Sprachthätigkeit selbst unio, d. h. ohne Denken über die Sprache ausgeübt.
Gleiche Sprache setzt den gleichen Gedankenkreis, den gleichen Lebensinhalt
voraus. In diesem Sinne kann nur ein enger Kreis eine Sprache besitzen,
und nur unter der Voraussetzung einer solchen Lebensgemeinschaft gelten streng
genommen alle jenen schönen Sätze von der naturgemäßen Fortbildung der
Sprache. Selbstverständlich müßte auch der Einfluß fremder Bildungs- und
Sprachkreise ausgeschlossen sein.

In diesem Uuschuldszustande befindet sich keine der Sprachen mehr, auf
deren Betrachtung sich unsre ganze Sprachwissenschaft aufgebaut hat. Unsre
Forschung mußte der Natur der Sache uach von schriftlich überlieferten Sprach¬
denkmälern ausgehen, und so mußte man die ungeheure Störung mit in den
Kauf nehmen, die das Sprachleben überall durch die schriftliche Aufzeichnung
der gesprochenen Rede erfahren hat. Mit dem Augenblicke, wo man das ge¬
sprochene Wort durch bleibende Zeichen festzuhalten sucht, beginnt das Denken
über die Sprache, beginnt -- wenn man will -- auch die Schulmeisteret.

Wir sind glücklicherweise in der Lage, uns ein ursprünglicheres Bild vom
Sprachleben zu verschaffen, als es uns unsre ältesten Litteratursprachen zu
geben imstande sind. Ein solches bieten uns unsre Volksmundarten, und zwar
umso treuer, je ferner sie unsrer Schriftsprache stehen. Ich denke hier be¬
sonders an die niederdeutschen Gebiete, in denen drei Jahrhunderte hindurch
das eigentliche Volksleben von der hochdeutschen Bildung fast unberührt ge¬
blieben und die Fortbildung der Sprache unbeachtet von Schule und Kirche,
den Vertreterinnen der hochdeutschen Gedankenwelt, ihren eignen Weg gegangen
ist. Bei dem Bildungsgrade derer, denen die Inhaber höherer Kultur die
Pflege der Sprache in vornehmer Geringschätzung überließen, war jede bewußte
Einwirkung auf das überlieferte Gut ausgeschlossen. Eine solche Sprache
können wir wirklich dem wild und frei gewachsenen Baume vergleichen, an dem
es nichts Fehlerhaftes giebt, weil alles Natur ist. Der sprachkundige Beobachter
staunt über die strenge Folgerichtigkeit, und der Grammatiker steht mit seinen
Lieblingsbegriffen "falsch" und "richtig" ratlos da; hier finden sie keine An¬
wendung.

Da hätten wir so ein Stück "natürlicher Sprachentwicklung." Doch über¬
sehen wir auch nicht, wohin diese führt. Es giebt im Leben nirgends einen
völligen Stillstand, auch im Sprachlebeu uicht, aber die einzelnen Schößlinge
und Zweige laufen nicht zusammen, sie gehen immer weiter aus einander. So
hat sich denn auch die altsächsische Sprache (um bei diesem Beispiele zu bleiben)
in unzählige Einzclmundarten zerspalten, genau so, wie sich in der Bevölkerung
einzelne Lebensgemeinschaften von einander absondern. Die Bildung, die Kultur
arbeitet dieser Zersplitterung entgegen. Auf allen Lebeusgebieteu weist sie auf


Die natürliche Sprachentwicklung und unsre heutige Geineinsprache

sondern seine Anschauungen, Empfindungen, Gedanken, Urteile übermitteln;
die Sprache ist nur die Form, die ohne den Inhalt nichts bedeutet. So wird
die Sprachthätigkeit selbst unio, d. h. ohne Denken über die Sprache ausgeübt.
Gleiche Sprache setzt den gleichen Gedankenkreis, den gleichen Lebensinhalt
voraus. In diesem Sinne kann nur ein enger Kreis eine Sprache besitzen,
und nur unter der Voraussetzung einer solchen Lebensgemeinschaft gelten streng
genommen alle jenen schönen Sätze von der naturgemäßen Fortbildung der
Sprache. Selbstverständlich müßte auch der Einfluß fremder Bildungs- und
Sprachkreise ausgeschlossen sein.

In diesem Uuschuldszustande befindet sich keine der Sprachen mehr, auf
deren Betrachtung sich unsre ganze Sprachwissenschaft aufgebaut hat. Unsre
Forschung mußte der Natur der Sache uach von schriftlich überlieferten Sprach¬
denkmälern ausgehen, und so mußte man die ungeheure Störung mit in den
Kauf nehmen, die das Sprachleben überall durch die schriftliche Aufzeichnung
der gesprochenen Rede erfahren hat. Mit dem Augenblicke, wo man das ge¬
sprochene Wort durch bleibende Zeichen festzuhalten sucht, beginnt das Denken
über die Sprache, beginnt — wenn man will — auch die Schulmeisteret.

Wir sind glücklicherweise in der Lage, uns ein ursprünglicheres Bild vom
Sprachleben zu verschaffen, als es uns unsre ältesten Litteratursprachen zu
geben imstande sind. Ein solches bieten uns unsre Volksmundarten, und zwar
umso treuer, je ferner sie unsrer Schriftsprache stehen. Ich denke hier be¬
sonders an die niederdeutschen Gebiete, in denen drei Jahrhunderte hindurch
das eigentliche Volksleben von der hochdeutschen Bildung fast unberührt ge¬
blieben und die Fortbildung der Sprache unbeachtet von Schule und Kirche,
den Vertreterinnen der hochdeutschen Gedankenwelt, ihren eignen Weg gegangen
ist. Bei dem Bildungsgrade derer, denen die Inhaber höherer Kultur die
Pflege der Sprache in vornehmer Geringschätzung überließen, war jede bewußte
Einwirkung auf das überlieferte Gut ausgeschlossen. Eine solche Sprache
können wir wirklich dem wild und frei gewachsenen Baume vergleichen, an dem
es nichts Fehlerhaftes giebt, weil alles Natur ist. Der sprachkundige Beobachter
staunt über die strenge Folgerichtigkeit, und der Grammatiker steht mit seinen
Lieblingsbegriffen „falsch" und „richtig" ratlos da; hier finden sie keine An¬
wendung.

Da hätten wir so ein Stück „natürlicher Sprachentwicklung." Doch über¬
sehen wir auch nicht, wohin diese führt. Es giebt im Leben nirgends einen
völligen Stillstand, auch im Sprachlebeu uicht, aber die einzelnen Schößlinge
und Zweige laufen nicht zusammen, sie gehen immer weiter aus einander. So
hat sich denn auch die altsächsische Sprache (um bei diesem Beispiele zu bleiben)
in unzählige Einzclmundarten zerspalten, genau so, wie sich in der Bevölkerung
einzelne Lebensgemeinschaften von einander absondern. Die Bildung, die Kultur
arbeitet dieser Zersplitterung entgegen. Auf allen Lebeusgebieteu weist sie auf


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[0365] Die natürliche Sprachentwicklung und unsre heutige Geineinsprache sondern seine Anschauungen, Empfindungen, Gedanken, Urteile übermitteln; die Sprache ist nur die Form, die ohne den Inhalt nichts bedeutet. So wird die Sprachthätigkeit selbst unio, d. h. ohne Denken über die Sprache ausgeübt. Gleiche Sprache setzt den gleichen Gedankenkreis, den gleichen Lebensinhalt voraus. In diesem Sinne kann nur ein enger Kreis eine Sprache besitzen, und nur unter der Voraussetzung einer solchen Lebensgemeinschaft gelten streng genommen alle jenen schönen Sätze von der naturgemäßen Fortbildung der Sprache. Selbstverständlich müßte auch der Einfluß fremder Bildungs- und Sprachkreise ausgeschlossen sein. In diesem Uuschuldszustande befindet sich keine der Sprachen mehr, auf deren Betrachtung sich unsre ganze Sprachwissenschaft aufgebaut hat. Unsre Forschung mußte der Natur der Sache uach von schriftlich überlieferten Sprach¬ denkmälern ausgehen, und so mußte man die ungeheure Störung mit in den Kauf nehmen, die das Sprachleben überall durch die schriftliche Aufzeichnung der gesprochenen Rede erfahren hat. Mit dem Augenblicke, wo man das ge¬ sprochene Wort durch bleibende Zeichen festzuhalten sucht, beginnt das Denken über die Sprache, beginnt — wenn man will — auch die Schulmeisteret. Wir sind glücklicherweise in der Lage, uns ein ursprünglicheres Bild vom Sprachleben zu verschaffen, als es uns unsre ältesten Litteratursprachen zu geben imstande sind. Ein solches bieten uns unsre Volksmundarten, und zwar umso treuer, je ferner sie unsrer Schriftsprache stehen. Ich denke hier be¬ sonders an die niederdeutschen Gebiete, in denen drei Jahrhunderte hindurch das eigentliche Volksleben von der hochdeutschen Bildung fast unberührt ge¬ blieben und die Fortbildung der Sprache unbeachtet von Schule und Kirche, den Vertreterinnen der hochdeutschen Gedankenwelt, ihren eignen Weg gegangen ist. Bei dem Bildungsgrade derer, denen die Inhaber höherer Kultur die Pflege der Sprache in vornehmer Geringschätzung überließen, war jede bewußte Einwirkung auf das überlieferte Gut ausgeschlossen. Eine solche Sprache können wir wirklich dem wild und frei gewachsenen Baume vergleichen, an dem es nichts Fehlerhaftes giebt, weil alles Natur ist. Der sprachkundige Beobachter staunt über die strenge Folgerichtigkeit, und der Grammatiker steht mit seinen Lieblingsbegriffen „falsch" und „richtig" ratlos da; hier finden sie keine An¬ wendung. Da hätten wir so ein Stück „natürlicher Sprachentwicklung." Doch über¬ sehen wir auch nicht, wohin diese führt. Es giebt im Leben nirgends einen völligen Stillstand, auch im Sprachlebeu uicht, aber die einzelnen Schößlinge und Zweige laufen nicht zusammen, sie gehen immer weiter aus einander. So hat sich denn auch die altsächsische Sprache (um bei diesem Beispiele zu bleiben) in unzählige Einzclmundarten zerspalten, genau so, wie sich in der Bevölkerung einzelne Lebensgemeinschaften von einander absondern. Die Bildung, die Kultur arbeitet dieser Zersplitterung entgegen. Auf allen Lebeusgebieteu weist sie auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/365>, abgerufen am 17.06.2024.