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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Sodoms Lüde

guten Gesellschaft'Berlins noch immer finden kann. Das schlimmste aber ist,
daß die Sudermannsche Gesellschaft sich bis in die Presse und Litteratur hinein
erstreckt und hier ihre Macht in verderblicher Weise zur Geltung bringt. Daß
die Juden eine hervorragende Rolle in diesen Kreisen spielen, ist wohl nicht
zufällig. Wir aber sagen: Wehe der Gesellschaft, die sich auf solche Grund¬
lagen stützen muß! Es ist bezeichnend, daß selbst die "Kreuzzeitung," die
sonst die dritte im Bunde zu sein pflegt, wo es gilt, solche Anklagen zu
erheben, bestreitet, daß die Sudermannschen Zeichnungen Bilder nach dem
Leben seien, es müßte denn sein, daß "die Kreise, in denen der Verfasser
die lebenden Originale vorfand, geheime Verbindungen tiefster Unsittlich-
keit" sind.

Man sieht deutlich aus diesen einander widersprechenden Stimmen, wohin
sich der Schwerpunkt des ästhetischen Urteils verschoben hat. Man fragt nicht
mehr, inwiefern ein Kunstwerk den ewigen Gesetzen der Kunst entspricht, sondern
wie es sich zur gemeinen Wirklichkeit stellt. Allerdings hat diese Sorte von
naturalistischen Litteraturerzeugnissen kein besseres Schicksal verdient, und man
würde ihnen eine zu große Ehre anthun, wenn man sie nach höhern Gesichts¬
punkten beurteilen wollte.

Es ist schwer, einem Dichter, der sich in dem Schauspiel "Die Ehre"
in der liebevollsten, zärtlichsten Schilderung des Berliner Kokottentums und
seines schützenden und bemutternden Anhangs gefallen hat, während für die
Zeichnung anständiger, ehrenhafter Menschen nur die verbrauchtesten Schablonen
zur Hand gewesen sind, zu glauben, daß er in "Sodoms Ende" keine andre Ab¬
sicht als die eines moralischen Strafgerichts gehabt habe. Wir wollen es ihm
glauben, aber wir müssen ihm zugleich sagen, daß er diese Absicht mit den
verkehrtesten Mitteln zu erreichen gesucht hat, und daß ihm aus diesem Grunde
sein Versuch völlig mißglückt ist. Die Figuren, an die er den größten Teil
seiner dichterischen Liebe gewendet hat, die schamlose Messaline, die Vankiers-
frau, und der von ihren Netzen umgarnte, gänzlich entnervte, von diabolischer
Sinnenlust hin und her gehetzte Maler Willi Janikow, treten so stark in den
Vordergrund des dramatischen und künstlerischen Interesses, daß für die Cha¬
rakteristik der übrigen Figuren keine Gestaltungskraft mehr übrig geblieben ist.
Wie Schatten schleichen sie an uns vorüber, aber nicht schnell wie Gespenster,
sondern beschwert von den Bleigewichten der schleppenden Charakteristik, die
der Naturalismus braucht, um uns mit Personen bekannt zu machen, deren
Seelenleben sich in der Tretmühle einer jedermann geläufigen Alltäglichkeit
bewegt oder die bereits so abgewirtschaftet haben, daß sie hoffnungslosen
Kretinismus verfallen sind.

Der maßlosen Übertreibung, die ein von der Reklame über alles Maß
verwöhnter, jetzt plötzlich von der launenhaften Macht im Stich gelassener
Schriftsteller in seiner völligen Unkenntnis der Kraft, die ihn groß gemacht,


Grenzbvtw IV 1890 53
Sodoms Lüde

guten Gesellschaft'Berlins noch immer finden kann. Das schlimmste aber ist,
daß die Sudermannsche Gesellschaft sich bis in die Presse und Litteratur hinein
erstreckt und hier ihre Macht in verderblicher Weise zur Geltung bringt. Daß
die Juden eine hervorragende Rolle in diesen Kreisen spielen, ist wohl nicht
zufällig. Wir aber sagen: Wehe der Gesellschaft, die sich auf solche Grund¬
lagen stützen muß! Es ist bezeichnend, daß selbst die „Kreuzzeitung," die
sonst die dritte im Bunde zu sein pflegt, wo es gilt, solche Anklagen zu
erheben, bestreitet, daß die Sudermannschen Zeichnungen Bilder nach dem
Leben seien, es müßte denn sein, daß „die Kreise, in denen der Verfasser
die lebenden Originale vorfand, geheime Verbindungen tiefster Unsittlich-
keit" sind.

Man sieht deutlich aus diesen einander widersprechenden Stimmen, wohin
sich der Schwerpunkt des ästhetischen Urteils verschoben hat. Man fragt nicht
mehr, inwiefern ein Kunstwerk den ewigen Gesetzen der Kunst entspricht, sondern
wie es sich zur gemeinen Wirklichkeit stellt. Allerdings hat diese Sorte von
naturalistischen Litteraturerzeugnissen kein besseres Schicksal verdient, und man
würde ihnen eine zu große Ehre anthun, wenn man sie nach höhern Gesichts¬
punkten beurteilen wollte.

Es ist schwer, einem Dichter, der sich in dem Schauspiel „Die Ehre"
in der liebevollsten, zärtlichsten Schilderung des Berliner Kokottentums und
seines schützenden und bemutternden Anhangs gefallen hat, während für die
Zeichnung anständiger, ehrenhafter Menschen nur die verbrauchtesten Schablonen
zur Hand gewesen sind, zu glauben, daß er in „Sodoms Ende" keine andre Ab¬
sicht als die eines moralischen Strafgerichts gehabt habe. Wir wollen es ihm
glauben, aber wir müssen ihm zugleich sagen, daß er diese Absicht mit den
verkehrtesten Mitteln zu erreichen gesucht hat, und daß ihm aus diesem Grunde
sein Versuch völlig mißglückt ist. Die Figuren, an die er den größten Teil
seiner dichterischen Liebe gewendet hat, die schamlose Messaline, die Vankiers-
frau, und der von ihren Netzen umgarnte, gänzlich entnervte, von diabolischer
Sinnenlust hin und her gehetzte Maler Willi Janikow, treten so stark in den
Vordergrund des dramatischen und künstlerischen Interesses, daß für die Cha¬
rakteristik der übrigen Figuren keine Gestaltungskraft mehr übrig geblieben ist.
Wie Schatten schleichen sie an uns vorüber, aber nicht schnell wie Gespenster,
sondern beschwert von den Bleigewichten der schleppenden Charakteristik, die
der Naturalismus braucht, um uns mit Personen bekannt zu machen, deren
Seelenleben sich in der Tretmühle einer jedermann geläufigen Alltäglichkeit
bewegt oder die bereits so abgewirtschaftet haben, daß sie hoffnungslosen
Kretinismus verfallen sind.

Der maßlosen Übertreibung, die ein von der Reklame über alles Maß
verwöhnter, jetzt plötzlich von der launenhaften Macht im Stich gelassener
Schriftsteller in seiner völligen Unkenntnis der Kraft, die ihn groß gemacht,


Grenzbvtw IV 1890 53
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[0425] Sodoms Lüde guten Gesellschaft'Berlins noch immer finden kann. Das schlimmste aber ist, daß die Sudermannsche Gesellschaft sich bis in die Presse und Litteratur hinein erstreckt und hier ihre Macht in verderblicher Weise zur Geltung bringt. Daß die Juden eine hervorragende Rolle in diesen Kreisen spielen, ist wohl nicht zufällig. Wir aber sagen: Wehe der Gesellschaft, die sich auf solche Grund¬ lagen stützen muß! Es ist bezeichnend, daß selbst die „Kreuzzeitung," die sonst die dritte im Bunde zu sein pflegt, wo es gilt, solche Anklagen zu erheben, bestreitet, daß die Sudermannschen Zeichnungen Bilder nach dem Leben seien, es müßte denn sein, daß „die Kreise, in denen der Verfasser die lebenden Originale vorfand, geheime Verbindungen tiefster Unsittlich- keit" sind. Man sieht deutlich aus diesen einander widersprechenden Stimmen, wohin sich der Schwerpunkt des ästhetischen Urteils verschoben hat. Man fragt nicht mehr, inwiefern ein Kunstwerk den ewigen Gesetzen der Kunst entspricht, sondern wie es sich zur gemeinen Wirklichkeit stellt. Allerdings hat diese Sorte von naturalistischen Litteraturerzeugnissen kein besseres Schicksal verdient, und man würde ihnen eine zu große Ehre anthun, wenn man sie nach höhern Gesichts¬ punkten beurteilen wollte. Es ist schwer, einem Dichter, der sich in dem Schauspiel „Die Ehre" in der liebevollsten, zärtlichsten Schilderung des Berliner Kokottentums und seines schützenden und bemutternden Anhangs gefallen hat, während für die Zeichnung anständiger, ehrenhafter Menschen nur die verbrauchtesten Schablonen zur Hand gewesen sind, zu glauben, daß er in „Sodoms Ende" keine andre Ab¬ sicht als die eines moralischen Strafgerichts gehabt habe. Wir wollen es ihm glauben, aber wir müssen ihm zugleich sagen, daß er diese Absicht mit den verkehrtesten Mitteln zu erreichen gesucht hat, und daß ihm aus diesem Grunde sein Versuch völlig mißglückt ist. Die Figuren, an die er den größten Teil seiner dichterischen Liebe gewendet hat, die schamlose Messaline, die Vankiers- frau, und der von ihren Netzen umgarnte, gänzlich entnervte, von diabolischer Sinnenlust hin und her gehetzte Maler Willi Janikow, treten so stark in den Vordergrund des dramatischen und künstlerischen Interesses, daß für die Cha¬ rakteristik der übrigen Figuren keine Gestaltungskraft mehr übrig geblieben ist. Wie Schatten schleichen sie an uns vorüber, aber nicht schnell wie Gespenster, sondern beschwert von den Bleigewichten der schleppenden Charakteristik, die der Naturalismus braucht, um uns mit Personen bekannt zu machen, deren Seelenleben sich in der Tretmühle einer jedermann geläufigen Alltäglichkeit bewegt oder die bereits so abgewirtschaftet haben, daß sie hoffnungslosen Kretinismus verfallen sind. Der maßlosen Übertreibung, die ein von der Reklame über alles Maß verwöhnter, jetzt plötzlich von der launenhaften Macht im Stich gelassener Schriftsteller in seiner völligen Unkenntnis der Kraft, die ihn groß gemacht, Grenzbvtw IV 1890 53

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/425>, abgerufen am 20.05.2024.