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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Die Seele des Kindes

schiednen Keimen hervorgegangenen Arten alle" verändernden Einwirkungen
zum Trotz ihren Artcharakter behaupten, oder daß sich gewisse Veränderungen
von Zeit zu Zeit uach einer bestimmten Richtung hin planmäßig häufen, bis
ihre Summe so groß ist, daß die damit behafteten Individuen als eine neue
Art erscheinen, die dann wiederum ein paar tausend Jahre lang ihre Eigen¬
heiten bewahrt.

Das fünfte Wunder besteht in deu geistigen Erscheinungen. In den
Organismen höherer Art tritt plötzlich auf einer gewissen Stufe ihrer Ent¬
wicklung die wunderbare Erscheinung der bewußten Empfindung hervor, die
sich zuerst in die grundverschiednen Wahrnehmungsarten der fünf oder eigentlich
sechs Sinne verzweigt, dann mit Lust- und Unlustgefühlen, hierauf mit logischen,
moralischen und ästhetischen Urteilen verbindet und den ganzen Reichtum des
geistigen Lebens erzeugt. Ohne daß zwischen deu mechanischen, chemischen und
organischen Vorgängen im Leibe und jenen geistigen Lebensäußerungen die
geringste Ähnlichkeit oder Verwandtschaft bestünde, bleiben doch beide, soweit
menschliche Erfahrung reicht, im Menschen aneinandergekettet, sodaß der geistige
Fortschritt nicht ohne vorhergehende Ausbildung gewisser Gehirnteile möglich
ist, während anderseits, wie es scheint, die geistige Thätigkeit auf das Gehirn
zurückwirkt und dessen Vergrößerung und vollkommnere Durchbildung zur Folge
hat, sodaß die innere Beschaffenheit eines vor Jahrtausenden ins Dasein ge¬
rufenen Keimbläschens unser heutiges Denken bestimmt, und dieses Denken
wiederum dnrch eine Reihe von Kennen hindurch die Gehirne der Menschen
wird bilden helfen, die Jahrtausende nach uns leben werden.

Denken wir nun weiter, in wie viel Millionen Einzelwesen diese Wunder
sich fortwährend ereignen, so müssen wir sagen: wer über dem Gedanken, daß
diese unendliche Fülle ihren Zweck mit unfehlbarer Sicherheit erreichender Ord¬
nungen dem blinden Zufall ihren Ursprung verdanken könnte, nicht den Ver¬
stand verliert, der hat keinen zu verlieren. Das Walten des blinden Zufalles
aber ist jeder gezwungen anzunehmen, der den persönlichen Gott leugnet, denn
"unbewußte Intelligenz" ist ein so widersinniger Begriff, daß man es fast nur
aus einem wunderlichen Eigensinn erklären kann, wenn sehr gescheite Leute
andern und sich selber einzureden suchen, sie hielten diesen Ungedanlen für
denkbar. Die Phantasien eines Häckel lesen sich wie eine absichtliche Selbst-
verspottung. Er meint, die Thatsache, daß die kleinsten Teile der organischen
Wesen, die Zellmoleküle, sich immer in einer Weise gruppiren, die den Ein¬
druck zweckmäßiger Anpassung macht, lasse sich nur dann erklären, wenn man
diesen Körperchen "unbewußtes Gedächtnis" zuschreibt. Nun wäre aber ein
Plastidul, so nennt er die Zellmvlekttle, mit seiner einzigen Geistesgabe des
unbewußten Gedächtnisses offenbar ein weit dümmeres Tierchen, als der
dümmste Mensch. Demnach sollen Billionen dumme Tierchen im Zusammen¬
wirken -- beim sinnlosen Walten blinder Kräfte pflegt doch die größere Menge


Die Seele des Kindes

schiednen Keimen hervorgegangenen Arten alle» verändernden Einwirkungen
zum Trotz ihren Artcharakter behaupten, oder daß sich gewisse Veränderungen
von Zeit zu Zeit uach einer bestimmten Richtung hin planmäßig häufen, bis
ihre Summe so groß ist, daß die damit behafteten Individuen als eine neue
Art erscheinen, die dann wiederum ein paar tausend Jahre lang ihre Eigen¬
heiten bewahrt.

Das fünfte Wunder besteht in deu geistigen Erscheinungen. In den
Organismen höherer Art tritt plötzlich auf einer gewissen Stufe ihrer Ent¬
wicklung die wunderbare Erscheinung der bewußten Empfindung hervor, die
sich zuerst in die grundverschiednen Wahrnehmungsarten der fünf oder eigentlich
sechs Sinne verzweigt, dann mit Lust- und Unlustgefühlen, hierauf mit logischen,
moralischen und ästhetischen Urteilen verbindet und den ganzen Reichtum des
geistigen Lebens erzeugt. Ohne daß zwischen deu mechanischen, chemischen und
organischen Vorgängen im Leibe und jenen geistigen Lebensäußerungen die
geringste Ähnlichkeit oder Verwandtschaft bestünde, bleiben doch beide, soweit
menschliche Erfahrung reicht, im Menschen aneinandergekettet, sodaß der geistige
Fortschritt nicht ohne vorhergehende Ausbildung gewisser Gehirnteile möglich
ist, während anderseits, wie es scheint, die geistige Thätigkeit auf das Gehirn
zurückwirkt und dessen Vergrößerung und vollkommnere Durchbildung zur Folge
hat, sodaß die innere Beschaffenheit eines vor Jahrtausenden ins Dasein ge¬
rufenen Keimbläschens unser heutiges Denken bestimmt, und dieses Denken
wiederum dnrch eine Reihe von Kennen hindurch die Gehirne der Menschen
wird bilden helfen, die Jahrtausende nach uns leben werden.

Denken wir nun weiter, in wie viel Millionen Einzelwesen diese Wunder
sich fortwährend ereignen, so müssen wir sagen: wer über dem Gedanken, daß
diese unendliche Fülle ihren Zweck mit unfehlbarer Sicherheit erreichender Ord¬
nungen dem blinden Zufall ihren Ursprung verdanken könnte, nicht den Ver¬
stand verliert, der hat keinen zu verlieren. Das Walten des blinden Zufalles
aber ist jeder gezwungen anzunehmen, der den persönlichen Gott leugnet, denn
„unbewußte Intelligenz" ist ein so widersinniger Begriff, daß man es fast nur
aus einem wunderlichen Eigensinn erklären kann, wenn sehr gescheite Leute
andern und sich selber einzureden suchen, sie hielten diesen Ungedanlen für
denkbar. Die Phantasien eines Häckel lesen sich wie eine absichtliche Selbst-
verspottung. Er meint, die Thatsache, daß die kleinsten Teile der organischen
Wesen, die Zellmoleküle, sich immer in einer Weise gruppiren, die den Ein¬
druck zweckmäßiger Anpassung macht, lasse sich nur dann erklären, wenn man
diesen Körperchen „unbewußtes Gedächtnis" zuschreibt. Nun wäre aber ein
Plastidul, so nennt er die Zellmvlekttle, mit seiner einzigen Geistesgabe des
unbewußten Gedächtnisses offenbar ein weit dümmeres Tierchen, als der
dümmste Mensch. Demnach sollen Billionen dumme Tierchen im Zusammen¬
wirken — beim sinnlosen Walten blinder Kräfte pflegt doch die größere Menge


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[0471] Die Seele des Kindes schiednen Keimen hervorgegangenen Arten alle» verändernden Einwirkungen zum Trotz ihren Artcharakter behaupten, oder daß sich gewisse Veränderungen von Zeit zu Zeit uach einer bestimmten Richtung hin planmäßig häufen, bis ihre Summe so groß ist, daß die damit behafteten Individuen als eine neue Art erscheinen, die dann wiederum ein paar tausend Jahre lang ihre Eigen¬ heiten bewahrt. Das fünfte Wunder besteht in deu geistigen Erscheinungen. In den Organismen höherer Art tritt plötzlich auf einer gewissen Stufe ihrer Ent¬ wicklung die wunderbare Erscheinung der bewußten Empfindung hervor, die sich zuerst in die grundverschiednen Wahrnehmungsarten der fünf oder eigentlich sechs Sinne verzweigt, dann mit Lust- und Unlustgefühlen, hierauf mit logischen, moralischen und ästhetischen Urteilen verbindet und den ganzen Reichtum des geistigen Lebens erzeugt. Ohne daß zwischen deu mechanischen, chemischen und organischen Vorgängen im Leibe und jenen geistigen Lebensäußerungen die geringste Ähnlichkeit oder Verwandtschaft bestünde, bleiben doch beide, soweit menschliche Erfahrung reicht, im Menschen aneinandergekettet, sodaß der geistige Fortschritt nicht ohne vorhergehende Ausbildung gewisser Gehirnteile möglich ist, während anderseits, wie es scheint, die geistige Thätigkeit auf das Gehirn zurückwirkt und dessen Vergrößerung und vollkommnere Durchbildung zur Folge hat, sodaß die innere Beschaffenheit eines vor Jahrtausenden ins Dasein ge¬ rufenen Keimbläschens unser heutiges Denken bestimmt, und dieses Denken wiederum dnrch eine Reihe von Kennen hindurch die Gehirne der Menschen wird bilden helfen, die Jahrtausende nach uns leben werden. Denken wir nun weiter, in wie viel Millionen Einzelwesen diese Wunder sich fortwährend ereignen, so müssen wir sagen: wer über dem Gedanken, daß diese unendliche Fülle ihren Zweck mit unfehlbarer Sicherheit erreichender Ord¬ nungen dem blinden Zufall ihren Ursprung verdanken könnte, nicht den Ver¬ stand verliert, der hat keinen zu verlieren. Das Walten des blinden Zufalles aber ist jeder gezwungen anzunehmen, der den persönlichen Gott leugnet, denn „unbewußte Intelligenz" ist ein so widersinniger Begriff, daß man es fast nur aus einem wunderlichen Eigensinn erklären kann, wenn sehr gescheite Leute andern und sich selber einzureden suchen, sie hielten diesen Ungedanlen für denkbar. Die Phantasien eines Häckel lesen sich wie eine absichtliche Selbst- verspottung. Er meint, die Thatsache, daß die kleinsten Teile der organischen Wesen, die Zellmoleküle, sich immer in einer Weise gruppiren, die den Ein¬ druck zweckmäßiger Anpassung macht, lasse sich nur dann erklären, wenn man diesen Körperchen „unbewußtes Gedächtnis" zuschreibt. Nun wäre aber ein Plastidul, so nennt er die Zellmvlekttle, mit seiner einzigen Geistesgabe des unbewußten Gedächtnisses offenbar ein weit dümmeres Tierchen, als der dümmste Mensch. Demnach sollen Billionen dumme Tierchen im Zusammen¬ wirken — beim sinnlosen Walten blinder Kräfte pflegt doch die größere Menge

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/471>, abgerufen am 16.06.2024.