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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Preyer anzunehmen, daß das Menschengehirn in den neun Monaten seines
Embryolebens nicht fertig werden könne, was dnrch nichts bewiesen ist;
sondern wir glauben einfach , daß Gott das Menschenkind darum unfertig ge¬
boren werden läßt, damit durch Pflege und Erziehung zwischen ihm und den
Eltern sittliche Verhältnisse begründet werden.

Wenden wir unsre Blicke von diesem letzten und höchsten Gegenstande
menschlicher Erkenntnis noch einmal ans den eigentlichen Gegenstand unsers
Buches zurück. Am Schluß einer Untersuchung, die sich mit der Entwicklung
des Jchgefühls beschäftigt, sagt Preyer l Alle Fortschritte des kindlichen Seelen¬
lebens "bilden gleichsam kvnvergirende Linien, die im vollkommenen Gefühle des
Geschlossenseins der Persönlichkeit und ihres Abgegrenztseins von der Außen¬
welt gipfeln. So viel kann die rein physiologische Betrachtung unbedenklich
zugeben. Sie vermag aber nicht außerdem noch eine Einheitlichkeit oder Un¬
gelenkheit oder ununterbrochene Permanenz des kindlichen Ich mit den hier
zusammengestellten Thatsachen zu vereinigen." Solche Thatsachen seien, daß
das Kind mit seinen eignen Gliedern als mit fremden Gegenständen spielt,
das; hirnlos geborene Kinder zweckmäßige Bewegungen ausführen, Hunger
empfinden und den Hunger zu stillen vermögen, daß demnach der Rumpf im
Rückenmark sein besondres "Ich" haben muß, daß die Gesichts-, Gehör- u, s. w.
Wahrnehmungen anfänglich, ehe die Verbindungsbahnen im Gehirn fertig sind,
jede für sich gesondert auftreten, daß auch beim erwachsenen Menschen im
Traume z. B. noch einzelne in gewissen Gehirngegenden wohnende "Ichs" ohne
das höchste die Oberaufsicht führende Ich thätig sind. "Das Ich ist nur da,
wenn die einzelnen Sinnesgebiete mit ihren Ichs wach sind, ans denen es
abstrahirt wird, es verschwindet im traumlosen Schlase. Im Wachsein ist es
stets nnr da, wo die zentrvsensvrischen Erregungen gerade am stärksten her¬
vortreten, d. h. wo die Aufmerksamkeit angespannt ist." Was wir gewöhnlich
Ich nennen, sei demnach die Bereinigung aller jener einzelnen Ichs.

In dieser Darstellung bestreiten wir zunächst die Richtigkeit des Ausdruckes,
das Ich werde "abstrahirt." Der abstrahirte Jchgedanke des Philosophen und
das Jchgefühl, das jedermann einschließlich aller Philosophen hat, sind zwei ganz
verschiedne Dinge, und es ist als verdienstlich anzuerkennen, das; Preber nach
dem Vorgänge Lotzes das Jchgefühl in den Vordergrund stellte. Svdan"
möchten wir den einzelnen empfindenden Wesen im Rückenmark und in den
verschiednen Gehirngegenden, was immer sie sein mögen, nicht die Bezeichnung
von Ichs zugestehe", weil wir nicht glauben, daß sich ihr Bewußtsein zum
Selbstbewußtsein steigern könne. Die Bezeichnung "Ich," so scheint es uns,
kommt nnr einem einzigen Wesen zu, jenein irgendwo in der Grvßhiruriude
wohnenden Wesen, das da denkt und will, und das allerdings nicht eher zum
klaren Bewußtsein seiner selbst gelangt, als bis ihm die übrigen erregbaren
Wesen desselben Nervenshstems ihre Erfahrungen mitgeteilt haben. Wir fassen


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Preyer anzunehmen, daß das Menschengehirn in den neun Monaten seines
Embryolebens nicht fertig werden könne, was dnrch nichts bewiesen ist;
sondern wir glauben einfach , daß Gott das Menschenkind darum unfertig ge¬
boren werden läßt, damit durch Pflege und Erziehung zwischen ihm und den
Eltern sittliche Verhältnisse begründet werden.

Wenden wir unsre Blicke von diesem letzten und höchsten Gegenstande
menschlicher Erkenntnis noch einmal ans den eigentlichen Gegenstand unsers
Buches zurück. Am Schluß einer Untersuchung, die sich mit der Entwicklung
des Jchgefühls beschäftigt, sagt Preyer l Alle Fortschritte des kindlichen Seelen¬
lebens „bilden gleichsam kvnvergirende Linien, die im vollkommenen Gefühle des
Geschlossenseins der Persönlichkeit und ihres Abgegrenztseins von der Außen¬
welt gipfeln. So viel kann die rein physiologische Betrachtung unbedenklich
zugeben. Sie vermag aber nicht außerdem noch eine Einheitlichkeit oder Un¬
gelenkheit oder ununterbrochene Permanenz des kindlichen Ich mit den hier
zusammengestellten Thatsachen zu vereinigen." Solche Thatsachen seien, daß
das Kind mit seinen eignen Gliedern als mit fremden Gegenständen spielt,
das; hirnlos geborene Kinder zweckmäßige Bewegungen ausführen, Hunger
empfinden und den Hunger zu stillen vermögen, daß demnach der Rumpf im
Rückenmark sein besondres „Ich" haben muß, daß die Gesichts-, Gehör- u, s. w.
Wahrnehmungen anfänglich, ehe die Verbindungsbahnen im Gehirn fertig sind,
jede für sich gesondert auftreten, daß auch beim erwachsenen Menschen im
Traume z. B. noch einzelne in gewissen Gehirngegenden wohnende „Ichs" ohne
das höchste die Oberaufsicht führende Ich thätig sind. „Das Ich ist nur da,
wenn die einzelnen Sinnesgebiete mit ihren Ichs wach sind, ans denen es
abstrahirt wird, es verschwindet im traumlosen Schlase. Im Wachsein ist es
stets nnr da, wo die zentrvsensvrischen Erregungen gerade am stärksten her¬
vortreten, d. h. wo die Aufmerksamkeit angespannt ist." Was wir gewöhnlich
Ich nennen, sei demnach die Bereinigung aller jener einzelnen Ichs.

In dieser Darstellung bestreiten wir zunächst die Richtigkeit des Ausdruckes,
das Ich werde „abstrahirt." Der abstrahirte Jchgedanke des Philosophen und
das Jchgefühl, das jedermann einschließlich aller Philosophen hat, sind zwei ganz
verschiedne Dinge, und es ist als verdienstlich anzuerkennen, das; Preber nach
dem Vorgänge Lotzes das Jchgefühl in den Vordergrund stellte. Svdan»
möchten wir den einzelnen empfindenden Wesen im Rückenmark und in den
verschiednen Gehirngegenden, was immer sie sein mögen, nicht die Bezeichnung
von Ichs zugestehe», weil wir nicht glauben, daß sich ihr Bewußtsein zum
Selbstbewußtsein steigern könne. Die Bezeichnung „Ich," so scheint es uns,
kommt nnr einem einzigen Wesen zu, jenein irgendwo in der Grvßhiruriude
wohnenden Wesen, das da denkt und will, und das allerdings nicht eher zum
klaren Bewußtsein seiner selbst gelangt, als bis ihm die übrigen erregbaren
Wesen desselben Nervenshstems ihre Erfahrungen mitgeteilt haben. Wir fassen


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[0473] Preyer anzunehmen, daß das Menschengehirn in den neun Monaten seines Embryolebens nicht fertig werden könne, was dnrch nichts bewiesen ist; sondern wir glauben einfach , daß Gott das Menschenkind darum unfertig ge¬ boren werden läßt, damit durch Pflege und Erziehung zwischen ihm und den Eltern sittliche Verhältnisse begründet werden. Wenden wir unsre Blicke von diesem letzten und höchsten Gegenstande menschlicher Erkenntnis noch einmal ans den eigentlichen Gegenstand unsers Buches zurück. Am Schluß einer Untersuchung, die sich mit der Entwicklung des Jchgefühls beschäftigt, sagt Preyer l Alle Fortschritte des kindlichen Seelen¬ lebens „bilden gleichsam kvnvergirende Linien, die im vollkommenen Gefühle des Geschlossenseins der Persönlichkeit und ihres Abgegrenztseins von der Außen¬ welt gipfeln. So viel kann die rein physiologische Betrachtung unbedenklich zugeben. Sie vermag aber nicht außerdem noch eine Einheitlichkeit oder Un¬ gelenkheit oder ununterbrochene Permanenz des kindlichen Ich mit den hier zusammengestellten Thatsachen zu vereinigen." Solche Thatsachen seien, daß das Kind mit seinen eignen Gliedern als mit fremden Gegenständen spielt, das; hirnlos geborene Kinder zweckmäßige Bewegungen ausführen, Hunger empfinden und den Hunger zu stillen vermögen, daß demnach der Rumpf im Rückenmark sein besondres „Ich" haben muß, daß die Gesichts-, Gehör- u, s. w. Wahrnehmungen anfänglich, ehe die Verbindungsbahnen im Gehirn fertig sind, jede für sich gesondert auftreten, daß auch beim erwachsenen Menschen im Traume z. B. noch einzelne in gewissen Gehirngegenden wohnende „Ichs" ohne das höchste die Oberaufsicht führende Ich thätig sind. „Das Ich ist nur da, wenn die einzelnen Sinnesgebiete mit ihren Ichs wach sind, ans denen es abstrahirt wird, es verschwindet im traumlosen Schlase. Im Wachsein ist es stets nnr da, wo die zentrvsensvrischen Erregungen gerade am stärksten her¬ vortreten, d. h. wo die Aufmerksamkeit angespannt ist." Was wir gewöhnlich Ich nennen, sei demnach die Bereinigung aller jener einzelnen Ichs. In dieser Darstellung bestreiten wir zunächst die Richtigkeit des Ausdruckes, das Ich werde „abstrahirt." Der abstrahirte Jchgedanke des Philosophen und das Jchgefühl, das jedermann einschließlich aller Philosophen hat, sind zwei ganz verschiedne Dinge, und es ist als verdienstlich anzuerkennen, das; Preber nach dem Vorgänge Lotzes das Jchgefühl in den Vordergrund stellte. Svdan» möchten wir den einzelnen empfindenden Wesen im Rückenmark und in den verschiednen Gehirngegenden, was immer sie sein mögen, nicht die Bezeichnung von Ichs zugestehe», weil wir nicht glauben, daß sich ihr Bewußtsein zum Selbstbewußtsein steigern könne. Die Bezeichnung „Ich," so scheint es uns, kommt nnr einem einzigen Wesen zu, jenein irgendwo in der Grvßhiruriude wohnenden Wesen, das da denkt und will, und das allerdings nicht eher zum klaren Bewußtsein seiner selbst gelangt, als bis ihm die übrigen erregbaren Wesen desselben Nervenshstems ihre Erfahrungen mitgeteilt haben. Wir fassen Gmizl'iUen IV t«S0 ni

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/473>, abgerufen am 13.05.2024.