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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Zeitungen und Schriften und verschließen überhaupt ihre Augen und ihre
Schädel, wenn sie in die Nähe eines Sozialdemokraten kommen" (ebenda Ur, 258),
oder: "Die Unwissenheit der Massen ist unser Feind, die Unwissenheit der
Gegner dagegen unser Bundesgenosse" (Dr. Lütgenau). Ein Beweis dafür,
daß diese Aussprüche zum Teil richtig sind, ist die Unkenntnis verschiedner
Tageszeitungen von dem am 1. Oktober im "Volksblatt" wieder abgedruckten
Gothaer Programm, insofern es von ihnen für eine Neuigkeit gehalten wurde;
die verflossenen zwölf Jahre hatten eben die Beschäftigung mit der Geschichte
und dem Wesen der Sozialdemokratie zurückgedrängt. Nun, diese wird ihrer¬
seits dafür sorgen, daß das Versäumte nachgeholt wird; die sozialistische
Broschüren- und Buchlitteratur, auch wenn sie bisher verboten war, erscheint
in neuen, stürkern Auflagen, von Bebels "Frau" bis Engels' "Umwälzung der
Wissenschaft"; der Verlag von Dietz in Stuttgart wird gute Geschäfte machen;
die möglichste Verbreitung ihrer Druckerzeugnisse liegt im Interesse der Sozial¬
demokratie, denn das Lesen macht zahllose halbe und ganze Proselyten.

Auf Unkenntnis beruht der noch immer nicht ausgestorbene Wahn, daß
die ganze sozialdemokratische "Genossenschaft" samt ihrer Lehre eines guten
Tages ebenso plötzlich vom Erdboden wieder verschwinden werde, wie sie ge¬
kommen sei. Mancher gebildete Zeitungsleser mag, wenn er sein gemütliches
Leibblatt öffnet, die Anzeige von dem sanften Ableben des roten Gespenstes
täglich von neuem zu sehen erwarten. Leider ist dieses Gespenst von ungemein
zäher Lebenskraft; alles Hoffen und Lauern auf Spaltung und Uneinigkeit in
jenem Lager, auf die Opposition der "Jungen" gegen die "Alten," auf die
Aussicht, daß sich die "Genossen" einander selbst ums Dasein brächten, hat
nur den einen Erfolg gehabt: das festere Aneinanderstießen und die größere
Einigkeit der Partei, das Zurückdrängen der wider den Strom schwimmenden,
wider die Führerschaft Bebel-Liebknecht vorgehenden Elemente. Man muß
sogar annehmen, daß es auf Seiten der bürgerlichen Presse aller Schcittirungen
keineswegs angebracht war, den Wunsch nach einem Zerwürfnis innerhalb der
Genossenschaft allzu deutlich zu offenbaren, da er auf diese Weise zu einer
Warnung wurde, die auf dem Parteitage und anderswo nicht unbenutzt blieb.
Die Sozialdemokratie vermeidet auch verborgene Schleichwege nicht, um neue
Anhänger zu gewinnen; die Schuld daran, daß ihre Gegner so leicht mit auf¬
gedeckten Karten spielen, liegt an der Zersplitterung, die eine gemeinsame
Paroleausgabe verhindert. "Die Partei war nicht gesinnt, sich selber aufzu¬
reiben." Damit ist eine Hoffnung vieler sang- und klanglos zu Grabe ge¬
tragen worden. Bis jetzt ist dre Sozialdemokratie der tsrtins g-g-nasus gewesen,
und der Apfel der Zwietracht, der, in ihre Mitte geworfen, sie auseinander¬
sprengen könnte, hat sich noch nicht gefunden; im Gegenteil, das offizielle
Organ, das "Berliner Volksblatt," hat gut lachen, wenn es sich über die
Zersetzung der "Bourgevisgesellschaft" belustigt; es wäre zu wünschen, daß es


Zeitungen und Schriften und verschließen überhaupt ihre Augen und ihre
Schädel, wenn sie in die Nähe eines Sozialdemokraten kommen" (ebenda Ur, 258),
oder: „Die Unwissenheit der Massen ist unser Feind, die Unwissenheit der
Gegner dagegen unser Bundesgenosse" (Dr. Lütgenau). Ein Beweis dafür,
daß diese Aussprüche zum Teil richtig sind, ist die Unkenntnis verschiedner
Tageszeitungen von dem am 1. Oktober im „Volksblatt" wieder abgedruckten
Gothaer Programm, insofern es von ihnen für eine Neuigkeit gehalten wurde;
die verflossenen zwölf Jahre hatten eben die Beschäftigung mit der Geschichte
und dem Wesen der Sozialdemokratie zurückgedrängt. Nun, diese wird ihrer¬
seits dafür sorgen, daß das Versäumte nachgeholt wird; die sozialistische
Broschüren- und Buchlitteratur, auch wenn sie bisher verboten war, erscheint
in neuen, stürkern Auflagen, von Bebels „Frau" bis Engels' „Umwälzung der
Wissenschaft"; der Verlag von Dietz in Stuttgart wird gute Geschäfte machen;
die möglichste Verbreitung ihrer Druckerzeugnisse liegt im Interesse der Sozial¬
demokratie, denn das Lesen macht zahllose halbe und ganze Proselyten.

Auf Unkenntnis beruht der noch immer nicht ausgestorbene Wahn, daß
die ganze sozialdemokratische „Genossenschaft" samt ihrer Lehre eines guten
Tages ebenso plötzlich vom Erdboden wieder verschwinden werde, wie sie ge¬
kommen sei. Mancher gebildete Zeitungsleser mag, wenn er sein gemütliches
Leibblatt öffnet, die Anzeige von dem sanften Ableben des roten Gespenstes
täglich von neuem zu sehen erwarten. Leider ist dieses Gespenst von ungemein
zäher Lebenskraft; alles Hoffen und Lauern auf Spaltung und Uneinigkeit in
jenem Lager, auf die Opposition der „Jungen" gegen die „Alten," auf die
Aussicht, daß sich die „Genossen" einander selbst ums Dasein brächten, hat
nur den einen Erfolg gehabt: das festere Aneinanderstießen und die größere
Einigkeit der Partei, das Zurückdrängen der wider den Strom schwimmenden,
wider die Führerschaft Bebel-Liebknecht vorgehenden Elemente. Man muß
sogar annehmen, daß es auf Seiten der bürgerlichen Presse aller Schcittirungen
keineswegs angebracht war, den Wunsch nach einem Zerwürfnis innerhalb der
Genossenschaft allzu deutlich zu offenbaren, da er auf diese Weise zu einer
Warnung wurde, die auf dem Parteitage und anderswo nicht unbenutzt blieb.
Die Sozialdemokratie vermeidet auch verborgene Schleichwege nicht, um neue
Anhänger zu gewinnen; die Schuld daran, daß ihre Gegner so leicht mit auf¬
gedeckten Karten spielen, liegt an der Zersplitterung, die eine gemeinsame
Paroleausgabe verhindert. „Die Partei war nicht gesinnt, sich selber aufzu¬
reiben." Damit ist eine Hoffnung vieler sang- und klanglos zu Grabe ge¬
tragen worden. Bis jetzt ist dre Sozialdemokratie der tsrtins g-g-nasus gewesen,
und der Apfel der Zwietracht, der, in ihre Mitte geworfen, sie auseinander¬
sprengen könnte, hat sich noch nicht gefunden; im Gegenteil, das offizielle
Organ, das „Berliner Volksblatt," hat gut lachen, wenn es sich über die
Zersetzung der „Bourgevisgesellschaft" belustigt; es wäre zu wünschen, daß es


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/499>, abgerufen am 26.05.2024.