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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Ale wahrhaftige Geschichte von den drei Wünschen

Mond, einen Tag, eine Stunde nur, um mich deiner noch zu freuen und dich
zu trösten. Ich habe dir die Größe meiner Liebe nicht gezeigt, da du noch
mein warst; das kränkt mich ewig, da es nun zu spät ist. O zeige jeder den"
Freunde seine ganze Liebe, jeden Augenblick kann das Schicksal euch trennen,
und dann bereut ihrs zu spät!

So klagte sie, indem sie mich, der ich vor Schmerz keines Wortes mächtig
war, hundertmal an sich drückte, immer heftiger und mich endlich in die rechte
Wange biß. Der Schmerz drang durch alle meine Glieder; ich verlor das
Bewußtsein. O wäre mirs nie wiedergekehrt! Als ich erwachte, war mir
nichts geblieben, als die Last peinigender Selbstvorwürfe. Die Bißwunde in
meiner Wange hier unter dem Pflaster hat so wenig heilen wollen, als die
Wunden in meinem Herzen. Ich wurde später Hauslehrer bei einem reichen
Kaufmann in Leipzig; da ich seine Kinder das Vaterunser lehrte, sagte er:
Meine Kinder sollen keine Katholiken werden! und dankte mich ab. Die alte
Desperation und der neue Ärger wirkten zusammen, und so ging auch ich unter
die Litteraten.

So endete der zweite Litterat, wie der erste gethan hatte, mit einem
tiefen Seufzer. Und mit einem tiefen Seufzer begann seine Geschichte
der dritte.

Geschichte des dritten Litteraten

Ich bin, wie ihr wißt, an zehn Jahre jünger als ihr, meine Jugend-
und Leidensgenossen, mit denen mich an jenem verhängnisvollen Tage derselbe
Schlag traf. Ich beginne aber meine Geschichte von einer frühern Zeit, von
jener Zeit, wo ich von dem Totenbette meiner armen Pflegemutter in die
Welt hinaus mußte. Ich wußte nur meinen Schmerz, bis der Hunger mich
lehrte, aus dieser Welt gelte es nicht, Vergangnes zu beklagen; hier gelte es,
in die Gegenwart sich zu schicken und dem Zukünftige" zu begegnen. Ach, für
mich gabs kein ander Mittel, nicht Hungers zu sterben, als das Betteln. So
lange meine Pflegemutter lebte, hatte ich, so arm sie war, nie betteln müssen.
Kein Wunder, daß ich den Mut dazu nicht finden konnte. In der kleinen
Fleifchergaffe in der weltberühmten Stadt Leipzig geschahs, daß auf einmal ein
Stimmchen neben mir sich vernehmen ließ: Madame Müller! Madame Müller!
Meine Mutter läßt Sie fragen, ob Sie morgen, Wenns schön wäre, mit betteln
gingen? Komm herauf, sagte eine ältliche Dame, die zu einem Dachfenster
heraussah, komm herauf und bringe den Kleinen mit, der da neben dir steht.
Das Kind, ein kleines Mädchen, nahm mich bei der Hand, und ich, der ich
nichts zu versäumen hatte, folgte ihr willig und gern.

Sehn Sie nur, sagte die Dame, indem wir in ein ärmliches Stübchen
traten, das in seiner Art elegant genannt werden konnte, sehn Sie mir einmal,
wertester Herr Magister Kaudcrer, diesen kleinen blonden Krauskopf. Aus
seinen großen blauen Augen spricht viel Talent; freilich müßten ti? roten


Ale wahrhaftige Geschichte von den drei Wünschen

Mond, einen Tag, eine Stunde nur, um mich deiner noch zu freuen und dich
zu trösten. Ich habe dir die Größe meiner Liebe nicht gezeigt, da du noch
mein warst; das kränkt mich ewig, da es nun zu spät ist. O zeige jeder den»
Freunde seine ganze Liebe, jeden Augenblick kann das Schicksal euch trennen,
und dann bereut ihrs zu spät!

So klagte sie, indem sie mich, der ich vor Schmerz keines Wortes mächtig
war, hundertmal an sich drückte, immer heftiger und mich endlich in die rechte
Wange biß. Der Schmerz drang durch alle meine Glieder; ich verlor das
Bewußtsein. O wäre mirs nie wiedergekehrt! Als ich erwachte, war mir
nichts geblieben, als die Last peinigender Selbstvorwürfe. Die Bißwunde in
meiner Wange hier unter dem Pflaster hat so wenig heilen wollen, als die
Wunden in meinem Herzen. Ich wurde später Hauslehrer bei einem reichen
Kaufmann in Leipzig; da ich seine Kinder das Vaterunser lehrte, sagte er:
Meine Kinder sollen keine Katholiken werden! und dankte mich ab. Die alte
Desperation und der neue Ärger wirkten zusammen, und so ging auch ich unter
die Litteraten.

So endete der zweite Litterat, wie der erste gethan hatte, mit einem
tiefen Seufzer. Und mit einem tiefen Seufzer begann seine Geschichte
der dritte.

Geschichte des dritten Litteraten

Ich bin, wie ihr wißt, an zehn Jahre jünger als ihr, meine Jugend-
und Leidensgenossen, mit denen mich an jenem verhängnisvollen Tage derselbe
Schlag traf. Ich beginne aber meine Geschichte von einer frühern Zeit, von
jener Zeit, wo ich von dem Totenbette meiner armen Pflegemutter in die
Welt hinaus mußte. Ich wußte nur meinen Schmerz, bis der Hunger mich
lehrte, aus dieser Welt gelte es nicht, Vergangnes zu beklagen; hier gelte es,
in die Gegenwart sich zu schicken und dem Zukünftige« zu begegnen. Ach, für
mich gabs kein ander Mittel, nicht Hungers zu sterben, als das Betteln. So
lange meine Pflegemutter lebte, hatte ich, so arm sie war, nie betteln müssen.
Kein Wunder, daß ich den Mut dazu nicht finden konnte. In der kleinen
Fleifchergaffe in der weltberühmten Stadt Leipzig geschahs, daß auf einmal ein
Stimmchen neben mir sich vernehmen ließ: Madame Müller! Madame Müller!
Meine Mutter läßt Sie fragen, ob Sie morgen, Wenns schön wäre, mit betteln
gingen? Komm herauf, sagte eine ältliche Dame, die zu einem Dachfenster
heraussah, komm herauf und bringe den Kleinen mit, der da neben dir steht.
Das Kind, ein kleines Mädchen, nahm mich bei der Hand, und ich, der ich
nichts zu versäumen hatte, folgte ihr willig und gern.

Sehn Sie nur, sagte die Dame, indem wir in ein ärmliches Stübchen
traten, das in seiner Art elegant genannt werden konnte, sehn Sie mir einmal,
wertester Herr Magister Kaudcrer, diesen kleinen blonden Krauskopf. Aus
seinen großen blauen Augen spricht viel Talent; freilich müßten ti? roten


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[0530] Ale wahrhaftige Geschichte von den drei Wünschen Mond, einen Tag, eine Stunde nur, um mich deiner noch zu freuen und dich zu trösten. Ich habe dir die Größe meiner Liebe nicht gezeigt, da du noch mein warst; das kränkt mich ewig, da es nun zu spät ist. O zeige jeder den» Freunde seine ganze Liebe, jeden Augenblick kann das Schicksal euch trennen, und dann bereut ihrs zu spät! So klagte sie, indem sie mich, der ich vor Schmerz keines Wortes mächtig war, hundertmal an sich drückte, immer heftiger und mich endlich in die rechte Wange biß. Der Schmerz drang durch alle meine Glieder; ich verlor das Bewußtsein. O wäre mirs nie wiedergekehrt! Als ich erwachte, war mir nichts geblieben, als die Last peinigender Selbstvorwürfe. Die Bißwunde in meiner Wange hier unter dem Pflaster hat so wenig heilen wollen, als die Wunden in meinem Herzen. Ich wurde später Hauslehrer bei einem reichen Kaufmann in Leipzig; da ich seine Kinder das Vaterunser lehrte, sagte er: Meine Kinder sollen keine Katholiken werden! und dankte mich ab. Die alte Desperation und der neue Ärger wirkten zusammen, und so ging auch ich unter die Litteraten. So endete der zweite Litterat, wie der erste gethan hatte, mit einem tiefen Seufzer. Und mit einem tiefen Seufzer begann seine Geschichte der dritte. Geschichte des dritten Litteraten Ich bin, wie ihr wißt, an zehn Jahre jünger als ihr, meine Jugend- und Leidensgenossen, mit denen mich an jenem verhängnisvollen Tage derselbe Schlag traf. Ich beginne aber meine Geschichte von einer frühern Zeit, von jener Zeit, wo ich von dem Totenbette meiner armen Pflegemutter in die Welt hinaus mußte. Ich wußte nur meinen Schmerz, bis der Hunger mich lehrte, aus dieser Welt gelte es nicht, Vergangnes zu beklagen; hier gelte es, in die Gegenwart sich zu schicken und dem Zukünftige« zu begegnen. Ach, für mich gabs kein ander Mittel, nicht Hungers zu sterben, als das Betteln. So lange meine Pflegemutter lebte, hatte ich, so arm sie war, nie betteln müssen. Kein Wunder, daß ich den Mut dazu nicht finden konnte. In der kleinen Fleifchergaffe in der weltberühmten Stadt Leipzig geschahs, daß auf einmal ein Stimmchen neben mir sich vernehmen ließ: Madame Müller! Madame Müller! Meine Mutter läßt Sie fragen, ob Sie morgen, Wenns schön wäre, mit betteln gingen? Komm herauf, sagte eine ältliche Dame, die zu einem Dachfenster heraussah, komm herauf und bringe den Kleinen mit, der da neben dir steht. Das Kind, ein kleines Mädchen, nahm mich bei der Hand, und ich, der ich nichts zu versäumen hatte, folgte ihr willig und gern. Sehn Sie nur, sagte die Dame, indem wir in ein ärmliches Stübchen traten, das in seiner Art elegant genannt werden konnte, sehn Sie mir einmal, wertester Herr Magister Kaudcrer, diesen kleinen blonden Krauskopf. Aus seinen großen blauen Augen spricht viel Talent; freilich müßten ti? roten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/530>, abgerufen am 12.05.2024.