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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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9>e wahrhaftige Geschichte von den drei Wünschen

eine Waise, die Madame Müller angenommen habe, weil ihr der Himmel die
Erfüllung des heißesten Wunsches, ein eignes zu haben, versagt habe. Bei
Damen, die mit ihren Gatten im Zwist lebten, war ich das Kind eines rohen
Menschen, der sie, meine Mutter, lind mich im Trunke zu töten gedroht, weil
er uus nicht mehr ernähren könnte und dergleichen. Sehr stolze Damen bat
sie zu Gevatter und versicherte so lange, nicht Eigennutz, sondern außerordentliche
Verehrung vor ihnen sei die Ursache, bis die erbvtene Ablösungssumme ihr
genügte. Ich würde nicht fertig werden, wollte ich erzählen, wie sie aus der
Geschichte derjenigen selbst, die sie um Hilfe ansprach, das Hauptmotiv der
Geschichte nahm, die sie als die ihre erzählte. Dies fiel ihr leicht, da sie die
Dienstmädchen, denen sie die Karte schlug, oder die Kunden der Leihbibliothek
von Ritter-, Räuber- und Geistergeschichten waren, die Madame Müller nebenbei
hielt, auf die pfissigste Weise auszuhorchen und für sich zu stimmen wußte.
Ich würde nicht fertig werden, wollte ich erzählen, wie sie hier die Farben
ihrer Schilderung nur hinhauchte, dort wieder mit markigem Pinsel auftrug,
hier einen einzigen halbverhaltenen Seufzer spielen ließ, dort eine ganze
Sündflut von Thränen bereit hatte, je nachdem sie wußte, was die Nerven
der bestürmten Damen aushielten. Das einzige, was öfter unverändert wieder¬
kehrte, war der Refrain: Unsereins ist schlimmer dran wie ein Bettler; man
leidet im Stillen.

Der Wohlthütigkeitssinn der Leipziger ist bekannt; einer solchen Künstlerin
konnte es nicht fehlen.

So lange ich mich als Appendix der Madame Müller passiv Verhalten
konnte, that es gut; wie ich mich auf eignen Füßen bewegen sollte, zeigte sich
bald meine gänzliche Unfähigkeit. Dazu kam, daß, nachdem ich einigermaßen
an das Fasten gewöhnt war, meine Gesichtsfarbe wiederkehrte und mein ganzes
Ansehen immer weniger zu meinem Berufe paßte. Sie pflegte mich hungern
zu lassen oder körperlich zu züchtigen, wenn die Gaben, die ihr jene Geschichten
einbrachten, ihr zu gering schienen. Das hatte im Anfang die von ihr wohl¬
berechnete Folge, daß, während sie ihre Dichtungen vortrug, das Vorgefühl
meines nahenden Ungemachs mir bittere Thränen erpreßte, wodurch ihre Be¬
mühungen sehr gefördert wurden. Mit der Zeit aber wurde ich fühllos, und
nieder das Vorgefühl noch das Ungemach selbst vermochten mehr, mich aus
meiner apathischen Gleichgiltigkeit zu scheuchen. Dame Müller hatte also
Gründe genug, mit mir unzufrieden zu sein.

So stand ich um die Zeit, als ich euch kennen lernte, deren Unglücks¬
genosse ich später noch einmal zu werden bestimmt war, unter derselben oder
noch schlimmern Thrannei wie ihr. Und unser Träumen und gänzliches Ver¬
gessen der Außenwelt an jenein Frühlingsnachmittag verursachte auch in meiner
Geschichte eine Katastrophe. Madame Müller empfing mich nicht mit thät¬
lichen Bezeigungen ihrer Unzufriedenheit, wie ich gefürchtet hatte, sondern


9>e wahrhaftige Geschichte von den drei Wünschen

eine Waise, die Madame Müller angenommen habe, weil ihr der Himmel die
Erfüllung des heißesten Wunsches, ein eignes zu haben, versagt habe. Bei
Damen, die mit ihren Gatten im Zwist lebten, war ich das Kind eines rohen
Menschen, der sie, meine Mutter, lind mich im Trunke zu töten gedroht, weil
er uus nicht mehr ernähren könnte und dergleichen. Sehr stolze Damen bat
sie zu Gevatter und versicherte so lange, nicht Eigennutz, sondern außerordentliche
Verehrung vor ihnen sei die Ursache, bis die erbvtene Ablösungssumme ihr
genügte. Ich würde nicht fertig werden, wollte ich erzählen, wie sie aus der
Geschichte derjenigen selbst, die sie um Hilfe ansprach, das Hauptmotiv der
Geschichte nahm, die sie als die ihre erzählte. Dies fiel ihr leicht, da sie die
Dienstmädchen, denen sie die Karte schlug, oder die Kunden der Leihbibliothek
von Ritter-, Räuber- und Geistergeschichten waren, die Madame Müller nebenbei
hielt, auf die pfissigste Weise auszuhorchen und für sich zu stimmen wußte.
Ich würde nicht fertig werden, wollte ich erzählen, wie sie hier die Farben
ihrer Schilderung nur hinhauchte, dort wieder mit markigem Pinsel auftrug,
hier einen einzigen halbverhaltenen Seufzer spielen ließ, dort eine ganze
Sündflut von Thränen bereit hatte, je nachdem sie wußte, was die Nerven
der bestürmten Damen aushielten. Das einzige, was öfter unverändert wieder¬
kehrte, war der Refrain: Unsereins ist schlimmer dran wie ein Bettler; man
leidet im Stillen.

Der Wohlthütigkeitssinn der Leipziger ist bekannt; einer solchen Künstlerin
konnte es nicht fehlen.

So lange ich mich als Appendix der Madame Müller passiv Verhalten
konnte, that es gut; wie ich mich auf eignen Füßen bewegen sollte, zeigte sich
bald meine gänzliche Unfähigkeit. Dazu kam, daß, nachdem ich einigermaßen
an das Fasten gewöhnt war, meine Gesichtsfarbe wiederkehrte und mein ganzes
Ansehen immer weniger zu meinem Berufe paßte. Sie pflegte mich hungern
zu lassen oder körperlich zu züchtigen, wenn die Gaben, die ihr jene Geschichten
einbrachten, ihr zu gering schienen. Das hatte im Anfang die von ihr wohl¬
berechnete Folge, daß, während sie ihre Dichtungen vortrug, das Vorgefühl
meines nahenden Ungemachs mir bittere Thränen erpreßte, wodurch ihre Be¬
mühungen sehr gefördert wurden. Mit der Zeit aber wurde ich fühllos, und
nieder das Vorgefühl noch das Ungemach selbst vermochten mehr, mich aus
meiner apathischen Gleichgiltigkeit zu scheuchen. Dame Müller hatte also
Gründe genug, mit mir unzufrieden zu sein.

So stand ich um die Zeit, als ich euch kennen lernte, deren Unglücks¬
genosse ich später noch einmal zu werden bestimmt war, unter derselben oder
noch schlimmern Thrannei wie ihr. Und unser Träumen und gänzliches Ver¬
gessen der Außenwelt an jenein Frühlingsnachmittag verursachte auch in meiner
Geschichte eine Katastrophe. Madame Müller empfing mich nicht mit thät¬
lichen Bezeigungen ihrer Unzufriedenheit, wie ich gefürchtet hatte, sondern


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[0532] 9>e wahrhaftige Geschichte von den drei Wünschen eine Waise, die Madame Müller angenommen habe, weil ihr der Himmel die Erfüllung des heißesten Wunsches, ein eignes zu haben, versagt habe. Bei Damen, die mit ihren Gatten im Zwist lebten, war ich das Kind eines rohen Menschen, der sie, meine Mutter, lind mich im Trunke zu töten gedroht, weil er uus nicht mehr ernähren könnte und dergleichen. Sehr stolze Damen bat sie zu Gevatter und versicherte so lange, nicht Eigennutz, sondern außerordentliche Verehrung vor ihnen sei die Ursache, bis die erbvtene Ablösungssumme ihr genügte. Ich würde nicht fertig werden, wollte ich erzählen, wie sie aus der Geschichte derjenigen selbst, die sie um Hilfe ansprach, das Hauptmotiv der Geschichte nahm, die sie als die ihre erzählte. Dies fiel ihr leicht, da sie die Dienstmädchen, denen sie die Karte schlug, oder die Kunden der Leihbibliothek von Ritter-, Räuber- und Geistergeschichten waren, die Madame Müller nebenbei hielt, auf die pfissigste Weise auszuhorchen und für sich zu stimmen wußte. Ich würde nicht fertig werden, wollte ich erzählen, wie sie hier die Farben ihrer Schilderung nur hinhauchte, dort wieder mit markigem Pinsel auftrug, hier einen einzigen halbverhaltenen Seufzer spielen ließ, dort eine ganze Sündflut von Thränen bereit hatte, je nachdem sie wußte, was die Nerven der bestürmten Damen aushielten. Das einzige, was öfter unverändert wieder¬ kehrte, war der Refrain: Unsereins ist schlimmer dran wie ein Bettler; man leidet im Stillen. Der Wohlthütigkeitssinn der Leipziger ist bekannt; einer solchen Künstlerin konnte es nicht fehlen. So lange ich mich als Appendix der Madame Müller passiv Verhalten konnte, that es gut; wie ich mich auf eignen Füßen bewegen sollte, zeigte sich bald meine gänzliche Unfähigkeit. Dazu kam, daß, nachdem ich einigermaßen an das Fasten gewöhnt war, meine Gesichtsfarbe wiederkehrte und mein ganzes Ansehen immer weniger zu meinem Berufe paßte. Sie pflegte mich hungern zu lassen oder körperlich zu züchtigen, wenn die Gaben, die ihr jene Geschichten einbrachten, ihr zu gering schienen. Das hatte im Anfang die von ihr wohl¬ berechnete Folge, daß, während sie ihre Dichtungen vortrug, das Vorgefühl meines nahenden Ungemachs mir bittere Thränen erpreßte, wodurch ihre Be¬ mühungen sehr gefördert wurden. Mit der Zeit aber wurde ich fühllos, und nieder das Vorgefühl noch das Ungemach selbst vermochten mehr, mich aus meiner apathischen Gleichgiltigkeit zu scheuchen. Dame Müller hatte also Gründe genug, mit mir unzufrieden zu sein. So stand ich um die Zeit, als ich euch kennen lernte, deren Unglücks¬ genosse ich später noch einmal zu werden bestimmt war, unter derselben oder noch schlimmern Thrannei wie ihr. Und unser Träumen und gänzliches Ver¬ gessen der Außenwelt an jenein Frühlingsnachmittag verursachte auch in meiner Geschichte eine Katastrophe. Madame Müller empfing mich nicht mit thät¬ lichen Bezeigungen ihrer Unzufriedenheit, wie ich gefürchtet hatte, sondern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/532>, abgerufen am 16.06.2024.