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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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die geistige Führung muß die Kunst übernehmen, und zwar die Kunst Nord-
deutschlands, weil der deutsche Süden abgewirtschaftet hat.

Ja, die Welt ist rund! Zu Anfang unsers Jahrhunderts hatten Max
von Klinger (in seinen "Betrachtungen und Gedanken über verschiedne Gegen¬
stände der Welt und Litteratur," beiläufig bemerkt: ein Titel, wie geschaffen
für unsern "Rembrandt") und E. M. Arndt (im "Geist der Zeit") die An¬
sicht ausgesprochen, der Deutsche, nämlich der Bewohner desjenigen Teiles
von Deutschland, der weder unmittelbar noch mittelbar französisch geworden
war, könne kein Kunstvolk mehr sein, sondern bloß ein Denkervolk; das Leben
der Dichterwald blühe um Rhein nur, "nicht an der nackten Elbe und kahlen
Oder." Dagegen lehnte sich F. L. Jahr (im "Volkstum," Ausgabe von 1810,
Seite 240) auf, indem er anführte, daß "Friedrich II., Lessing, Kant, die
beiden Forster, Garve, Engel, Herder, Voß, Humboldt und Fichte auf dem
rechten Elbufer geboren seien, und Winckelmann und Klopstock dicht an der linken
Seite." Nun wird der Spieß umgekehrt. Wenn aber zur Zeit der ärgsten
Zerrissenheit Deutschlands solche Grillen verständlich sind, nach der Gründung
des deutscheu Reiches, als deren Hauptsegen neben der Sicherheit nach außen
wir die Zusammenfassung der Kräfte und Gaben der deutschen Stämme an¬
sehen müssen, ist der Versuch einer derartigen Scheidung, Unterscheidung und
Abschätzung nichts als thörichte Spielerei.

Und worin offenbart sich die "Wahrscheinlichkeit" der künftigen Kunstblüte
in Norddeutschland? Antwort: Der preußische Staat hat die politische und
militärische Führung in Deutschland, Bismarck und Moltke sind niederdeutsche,
Rembrandt gehörte dem niederdeutschen Stamme an. Es ist zu vermuten,
daß deu Verfasser zu dieser erstaunlichen Logik seine Heunatsliebe verführt hat.
Er wendet einmal den 'unmöglichen Superlativ "einzelnst" an; der ist mir
neu, aber ein naher Verwandter, ,,einzigst," ist in Niedersachsen zu Hause und
von deu deutschredendeu Skandinaviern aufgenommen worden. Macht doch
der Verfasser sogar deu spanischen Juden Spinoza zu einem Niedersachsen,
weil er in Amsterdam gegrübelt und Gläser geschliffen hat; weiß er doch sogar
zarte Beziehungen zwischen den Kopfbedeckungen der preußischen Soldaten und
der holländischen Waffelbäckerinnen zu schaffen. Wie wärs denn mit den
Gvldhaubeu der Linzerinnen? Allein ich vergesse, daß der deutsche Süden im
Rittertum, im Minnegesang und im modernen Kunstgewerbe seine Kraft er¬
schöpft hat! Es verlohnt sich nicht der Mühe, solches Geistreicheln ernsthaft
zu nehmen, wozu auch das Gerede von der Vornehmheit des Künstlers und
dem Parvcnütum des Gelehrten gehört.

Wohl aber ist weiter zu frage", wie sich das Kunstzeitalter ankündigt,
das nach Seite 2 dem deutschen Volke ,.zunächst bevorsteht"? Damit, daß
sich "das Interesse an der Wissenschaft und insbesondre an der früher so
populären Naturwissenschaft vermindert," ist wahrlich nichts bewiesen, und


die geistige Führung muß die Kunst übernehmen, und zwar die Kunst Nord-
deutschlands, weil der deutsche Süden abgewirtschaftet hat.

Ja, die Welt ist rund! Zu Anfang unsers Jahrhunderts hatten Max
von Klinger (in seinen „Betrachtungen und Gedanken über verschiedne Gegen¬
stände der Welt und Litteratur," beiläufig bemerkt: ein Titel, wie geschaffen
für unsern „Rembrandt") und E. M. Arndt (im „Geist der Zeit") die An¬
sicht ausgesprochen, der Deutsche, nämlich der Bewohner desjenigen Teiles
von Deutschland, der weder unmittelbar noch mittelbar französisch geworden
war, könne kein Kunstvolk mehr sein, sondern bloß ein Denkervolk; das Leben
der Dichterwald blühe um Rhein nur, „nicht an der nackten Elbe und kahlen
Oder." Dagegen lehnte sich F. L. Jahr (im „Volkstum," Ausgabe von 1810,
Seite 240) auf, indem er anführte, daß „Friedrich II., Lessing, Kant, die
beiden Forster, Garve, Engel, Herder, Voß, Humboldt und Fichte auf dem
rechten Elbufer geboren seien, und Winckelmann und Klopstock dicht an der linken
Seite." Nun wird der Spieß umgekehrt. Wenn aber zur Zeit der ärgsten
Zerrissenheit Deutschlands solche Grillen verständlich sind, nach der Gründung
des deutscheu Reiches, als deren Hauptsegen neben der Sicherheit nach außen
wir die Zusammenfassung der Kräfte und Gaben der deutschen Stämme an¬
sehen müssen, ist der Versuch einer derartigen Scheidung, Unterscheidung und
Abschätzung nichts als thörichte Spielerei.

Und worin offenbart sich die „Wahrscheinlichkeit" der künftigen Kunstblüte
in Norddeutschland? Antwort: Der preußische Staat hat die politische und
militärische Führung in Deutschland, Bismarck und Moltke sind niederdeutsche,
Rembrandt gehörte dem niederdeutschen Stamme an. Es ist zu vermuten,
daß deu Verfasser zu dieser erstaunlichen Logik seine Heunatsliebe verführt hat.
Er wendet einmal den 'unmöglichen Superlativ „einzelnst" an; der ist mir
neu, aber ein naher Verwandter, ,,einzigst," ist in Niedersachsen zu Hause und
von deu deutschredendeu Skandinaviern aufgenommen worden. Macht doch
der Verfasser sogar deu spanischen Juden Spinoza zu einem Niedersachsen,
weil er in Amsterdam gegrübelt und Gläser geschliffen hat; weiß er doch sogar
zarte Beziehungen zwischen den Kopfbedeckungen der preußischen Soldaten und
der holländischen Waffelbäckerinnen zu schaffen. Wie wärs denn mit den
Gvldhaubeu der Linzerinnen? Allein ich vergesse, daß der deutsche Süden im
Rittertum, im Minnegesang und im modernen Kunstgewerbe seine Kraft er¬
schöpft hat! Es verlohnt sich nicht der Mühe, solches Geistreicheln ernsthaft
zu nehmen, wozu auch das Gerede von der Vornehmheit des Künstlers und
dem Parvcnütum des Gelehrten gehört.

Wohl aber ist weiter zu frage», wie sich das Kunstzeitalter ankündigt,
das nach Seite 2 dem deutschen Volke ,.zunächst bevorsteht"? Damit, daß
sich „das Interesse an der Wissenschaft und insbesondre an der früher so
populären Naturwissenschaft vermindert," ist wahrlich nichts bewiesen, und


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[0611] die geistige Führung muß die Kunst übernehmen, und zwar die Kunst Nord- deutschlands, weil der deutsche Süden abgewirtschaftet hat. Ja, die Welt ist rund! Zu Anfang unsers Jahrhunderts hatten Max von Klinger (in seinen „Betrachtungen und Gedanken über verschiedne Gegen¬ stände der Welt und Litteratur," beiläufig bemerkt: ein Titel, wie geschaffen für unsern „Rembrandt") und E. M. Arndt (im „Geist der Zeit") die An¬ sicht ausgesprochen, der Deutsche, nämlich der Bewohner desjenigen Teiles von Deutschland, der weder unmittelbar noch mittelbar französisch geworden war, könne kein Kunstvolk mehr sein, sondern bloß ein Denkervolk; das Leben der Dichterwald blühe um Rhein nur, „nicht an der nackten Elbe und kahlen Oder." Dagegen lehnte sich F. L. Jahr (im „Volkstum," Ausgabe von 1810, Seite 240) auf, indem er anführte, daß „Friedrich II., Lessing, Kant, die beiden Forster, Garve, Engel, Herder, Voß, Humboldt und Fichte auf dem rechten Elbufer geboren seien, und Winckelmann und Klopstock dicht an der linken Seite." Nun wird der Spieß umgekehrt. Wenn aber zur Zeit der ärgsten Zerrissenheit Deutschlands solche Grillen verständlich sind, nach der Gründung des deutscheu Reiches, als deren Hauptsegen neben der Sicherheit nach außen wir die Zusammenfassung der Kräfte und Gaben der deutschen Stämme an¬ sehen müssen, ist der Versuch einer derartigen Scheidung, Unterscheidung und Abschätzung nichts als thörichte Spielerei. Und worin offenbart sich die „Wahrscheinlichkeit" der künftigen Kunstblüte in Norddeutschland? Antwort: Der preußische Staat hat die politische und militärische Führung in Deutschland, Bismarck und Moltke sind niederdeutsche, Rembrandt gehörte dem niederdeutschen Stamme an. Es ist zu vermuten, daß deu Verfasser zu dieser erstaunlichen Logik seine Heunatsliebe verführt hat. Er wendet einmal den 'unmöglichen Superlativ „einzelnst" an; der ist mir neu, aber ein naher Verwandter, ,,einzigst," ist in Niedersachsen zu Hause und von deu deutschredendeu Skandinaviern aufgenommen worden. Macht doch der Verfasser sogar deu spanischen Juden Spinoza zu einem Niedersachsen, weil er in Amsterdam gegrübelt und Gläser geschliffen hat; weiß er doch sogar zarte Beziehungen zwischen den Kopfbedeckungen der preußischen Soldaten und der holländischen Waffelbäckerinnen zu schaffen. Wie wärs denn mit den Gvldhaubeu der Linzerinnen? Allein ich vergesse, daß der deutsche Süden im Rittertum, im Minnegesang und im modernen Kunstgewerbe seine Kraft er¬ schöpft hat! Es verlohnt sich nicht der Mühe, solches Geistreicheln ernsthaft zu nehmen, wozu auch das Gerede von der Vornehmheit des Künstlers und dem Parvcnütum des Gelehrten gehört. Wohl aber ist weiter zu frage», wie sich das Kunstzeitalter ankündigt, das nach Seite 2 dem deutschen Volke ,.zunächst bevorsteht"? Damit, daß sich „das Interesse an der Wissenschaft und insbesondre an der früher so populären Naturwissenschaft vermindert," ist wahrlich nichts bewiesen, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/611>, abgerufen am 16.06.2024.