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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Aber nichts von alledem half. Sie fuhren fort, sich um ihn zu reißen,
diese beiden, und er hätte gern alles hingegeben, was er besaß, nur um Ruhe
zu bekommen. Er trug sich immer mit dem heimlichen Gefühl, daß er das,
was er dem einen gab, dem andern wegnehme, und daran war der Narr
schuld. Deshalb beschloß er mit diesem zu brechen; er wollte ihm ganz ein¬
fach davonreiscn lind Rettung bei dem Skeptiker suchen.

Dieser sehr weise Beschluß wurde mit einer Überstürzung ins Werk gesetzt,
als gälte es sich vor einem Erdbeben zu retten. Er verkaufte sein Haus,
versteigerte seine Wirtschaft und kaufte sich eine Leibrente. Ju Lund konnte
er nicht bleiben, denn jeder mittellose Student war eine "Schlinge" -- ja
überhaupt jeder Student, der sich "zufällig" in Verlegenheit befand. Und die
Straßen wimmelten von solchen.

Nach Stockholm kam er an einem rauhen Dczembermorgen, während die
Stadt dalag und schlief. Es war ihm ein Genuß, daß alles so fremd, so
kalt aussah. Hier hoffte er Ruhe zu haben. Seine Bücher und seine Musik
sollten seine Welt werden; dem Studenteugesang gab er den Laufpaß, hier
hatte er die große Oper.

Und nun war es Herrn Tobiassen auf der Jagd nach Wohnung geglückt,
ein paar möblirte Zimmer zu finden, die allen andern, die er besehen hatte,
ganz unähnlich waren. Er hatte nur den Wunsch ausgesprochen, im Wohn¬
zimmer eine Chaiselongue zu haben, und eine Chaiselongue Wurde angeschafft.

Die Wirtin war eine freundliche Frau, schrecklich besorgt, daß Herr
Tobiassen unzufrieden sein und ausziehen könnte. In seiner jetzigen Gemüts¬
stimmung that ihm diese Unterwürfigkeit gut, denn sie bewirkte, daß er sich
als ein hartherziger alter Mann fühlte, der sich um nichts andres, als um
seine eigne Bequemlichkeit kümmerte. Er versäumte nun keine Gelegenheit,
sich als solcher zu zeigen. Dem alten Leben mußte ein Ende gemacht werden --
schlechterdings!

Er fürchtete sich förmlich davor, Interesse für seine Wirtsleute zu be¬
kommen. Aber jetzt, während er dastand und sein frisch rasirtes Gesicht be¬
trachtete, jetzt lag die Geschichte dieser Menschen so klar vor seinem Geiste, wie
ein aufgeschlagenes Buch. Sie war ihm kund geworden, Brocken um Brocken,
ohne daß sie selbst es ahnten. Er hatte alles aus aufgeschnappten Worten
der Fran, des Mädchens, der Kinder herausbekommen, ja selbst aus den
Möbeln, die er betrachtete. Denn gegen seinen Willen war Herr Tobiassen
ein sehr geweckter und sehr neugieriger alter Herr.

Er wußte, daß die zwei ein gemütliches kleines Heim gehabt, das sie sich
selbst geschaffen hatten, sie als Näherin, er als Handlungsdiener. Nachdem
sie sich verheiratet und ein Geschäft begonnen hatten, war ihnen alles geglückt,
bis eine Krisis kam und der Mann auf Bürgschaftsverbindlichkeiten alles
verlor, was sie zusammengespart hatten. Nun galt es, von neuem anzufangen,


Aber nichts von alledem half. Sie fuhren fort, sich um ihn zu reißen,
diese beiden, und er hätte gern alles hingegeben, was er besaß, nur um Ruhe
zu bekommen. Er trug sich immer mit dem heimlichen Gefühl, daß er das,
was er dem einen gab, dem andern wegnehme, und daran war der Narr
schuld. Deshalb beschloß er mit diesem zu brechen; er wollte ihm ganz ein¬
fach davonreiscn lind Rettung bei dem Skeptiker suchen.

Dieser sehr weise Beschluß wurde mit einer Überstürzung ins Werk gesetzt,
als gälte es sich vor einem Erdbeben zu retten. Er verkaufte sein Haus,
versteigerte seine Wirtschaft und kaufte sich eine Leibrente. Ju Lund konnte
er nicht bleiben, denn jeder mittellose Student war eine „Schlinge" — ja
überhaupt jeder Student, der sich „zufällig" in Verlegenheit befand. Und die
Straßen wimmelten von solchen.

Nach Stockholm kam er an einem rauhen Dczembermorgen, während die
Stadt dalag und schlief. Es war ihm ein Genuß, daß alles so fremd, so
kalt aussah. Hier hoffte er Ruhe zu haben. Seine Bücher und seine Musik
sollten seine Welt werden; dem Studenteugesang gab er den Laufpaß, hier
hatte er die große Oper.

Und nun war es Herrn Tobiassen auf der Jagd nach Wohnung geglückt,
ein paar möblirte Zimmer zu finden, die allen andern, die er besehen hatte,
ganz unähnlich waren. Er hatte nur den Wunsch ausgesprochen, im Wohn¬
zimmer eine Chaiselongue zu haben, und eine Chaiselongue Wurde angeschafft.

Die Wirtin war eine freundliche Frau, schrecklich besorgt, daß Herr
Tobiassen unzufrieden sein und ausziehen könnte. In seiner jetzigen Gemüts¬
stimmung that ihm diese Unterwürfigkeit gut, denn sie bewirkte, daß er sich
als ein hartherziger alter Mann fühlte, der sich um nichts andres, als um
seine eigne Bequemlichkeit kümmerte. Er versäumte nun keine Gelegenheit,
sich als solcher zu zeigen. Dem alten Leben mußte ein Ende gemacht werden —
schlechterdings!

Er fürchtete sich förmlich davor, Interesse für seine Wirtsleute zu be¬
kommen. Aber jetzt, während er dastand und sein frisch rasirtes Gesicht be¬
trachtete, jetzt lag die Geschichte dieser Menschen so klar vor seinem Geiste, wie
ein aufgeschlagenes Buch. Sie war ihm kund geworden, Brocken um Brocken,
ohne daß sie selbst es ahnten. Er hatte alles aus aufgeschnappten Worten
der Fran, des Mädchens, der Kinder herausbekommen, ja selbst aus den
Möbeln, die er betrachtete. Denn gegen seinen Willen war Herr Tobiassen
ein sehr geweckter und sehr neugieriger alter Herr.

Er wußte, daß die zwei ein gemütliches kleines Heim gehabt, das sie sich
selbst geschaffen hatten, sie als Näherin, er als Handlungsdiener. Nachdem
sie sich verheiratet und ein Geschäft begonnen hatten, war ihnen alles geglückt,
bis eine Krisis kam und der Mann auf Bürgschaftsverbindlichkeiten alles
verlor, was sie zusammengespart hatten. Nun galt es, von neuem anzufangen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/620>, abgerufen am 30.05.2024.