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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Tempel und Theater

wurde dieser Eindruck durch die laugen Gewänder; die alten Götterbilder er¬
scheinen im langen Feierkleide. Zugleich aber erfüllte dieses lange Gewand das
praktische Erfordernis, den hohen Schuh zu verhüllen und die durch ihn er¬
reichte Hohe der Gestalt als eine natürliche Beschaffenheit des Körpers voraus¬
setzen zu lassen.

So erscheinen alle die Eigentümlichkeiten des griechischen Theaters, dem
der Charakter eines einheitlichen Bauwerks abgeht und seiner Entstehung nach
abgehen muß, sowie die Eigentümlichkeiten in der Erscheinung des Schau¬
spielers, die, wie die Verwendung der leblosen Masken uns seltsam, ja geradezu
geschmacklos vorkommen, als natürliche und begreifliche Folgen aus der Ent¬
stehung des Theaters aus der Tempclvorhalle neben der Entstehung des
Dramas aus dem Kultus. Beides erklärt aber auch die vielfach außerordent¬
liche Größe des Zuschauerraumes; von der Feier der Gottheit durfte niemand
ausgeschlossen werden. Dieser Grundsatz wird so weit geführt, daß zeitweilig
zu Athen der Arme seinen Tagesunterhalt vom Staate gereicht bekam, um an
der Feier, ohne von der Nahrungssorge abgehalten zu sein, teilnehmen zu können.
Auch die kostspielige Ausstattung der Chöre durch die Bürger läßt sich nur
der Knltushcmdlung gegenüber begreifen.

Aber auch das Drama selbst und sein eigentümlicher Gang wird völlig
verständlich aus der Thatsache, daß es in der Tempelvorhalle seinen Anfang
genommen hat. Dort erscheint als Sänger nur der eine Mann, der nun als
Gottheit auftritt. Sobald diese nicht mehr ausschließlich die Hauptperson ist,
sobald andre an ihre Stelle treten können, ergiebt es sich als eine Erleichterung
und eine Bereicherung der Handlung, wenn nicht immer dieselbe Person er¬
scheint, sondern mehrere auftreten. Da wäre es um das Natürliche gewesen,
daß für mehrere dichterische Gestalten auch mehrere Darsteller eingetreten
wären, allein in der Tempelvorhalle ist nur ein Sänger da; die Aufgabe
kommt ihm allein zu, und so bleibt zunächst nichts andres übrig, als diesen
einen Mann in verschiedenen Rollen auftreten zu lassen, eine Beschränkung,
die außerhalb dieses heiligen Raumes und seiner Gebräuche durchaus unver¬
ständlich bliebe. Erleichtert wurde dieses Verfahren durch die Anwendung
der Maske und der verhüllenden Gewandung, sodaß der dennoch vorhandene
Mißstand hinter der durch diesen Ausweg erlangten Bereicherung des epischen
und infolge davon auch des lyrischen Teiles des Dramas zurücktrat. Und in der
That haben Dichter, die uns als bedeutend geschildert werden, sich nur dieses
einen Schauspielers für ihre Dramen bedient und damit doch eine mächtige
Wirkung erreicht, wie Thespis und besonders Phrynichos. Hat hier das
Hauptgewicht auch uoch auf dem Chor und seinen Liedern gelegen, so war
deren Wirkung in ihrem Reichtum der Stimmung und ihrem ergreifenden
Pathos eben doch nur durch das Auftreten neuer Wendungen möglich, die
im epischen Teil erfolgen mußten und dort nur bei dem reicheren Wechsel


Tempel und Theater

wurde dieser Eindruck durch die laugen Gewänder; die alten Götterbilder er¬
scheinen im langen Feierkleide. Zugleich aber erfüllte dieses lange Gewand das
praktische Erfordernis, den hohen Schuh zu verhüllen und die durch ihn er¬
reichte Hohe der Gestalt als eine natürliche Beschaffenheit des Körpers voraus¬
setzen zu lassen.

So erscheinen alle die Eigentümlichkeiten des griechischen Theaters, dem
der Charakter eines einheitlichen Bauwerks abgeht und seiner Entstehung nach
abgehen muß, sowie die Eigentümlichkeiten in der Erscheinung des Schau¬
spielers, die, wie die Verwendung der leblosen Masken uns seltsam, ja geradezu
geschmacklos vorkommen, als natürliche und begreifliche Folgen aus der Ent¬
stehung des Theaters aus der Tempclvorhalle neben der Entstehung des
Dramas aus dem Kultus. Beides erklärt aber auch die vielfach außerordent¬
liche Größe des Zuschauerraumes; von der Feier der Gottheit durfte niemand
ausgeschlossen werden. Dieser Grundsatz wird so weit geführt, daß zeitweilig
zu Athen der Arme seinen Tagesunterhalt vom Staate gereicht bekam, um an
der Feier, ohne von der Nahrungssorge abgehalten zu sein, teilnehmen zu können.
Auch die kostspielige Ausstattung der Chöre durch die Bürger läßt sich nur
der Knltushcmdlung gegenüber begreifen.

Aber auch das Drama selbst und sein eigentümlicher Gang wird völlig
verständlich aus der Thatsache, daß es in der Tempelvorhalle seinen Anfang
genommen hat. Dort erscheint als Sänger nur der eine Mann, der nun als
Gottheit auftritt. Sobald diese nicht mehr ausschließlich die Hauptperson ist,
sobald andre an ihre Stelle treten können, ergiebt es sich als eine Erleichterung
und eine Bereicherung der Handlung, wenn nicht immer dieselbe Person er¬
scheint, sondern mehrere auftreten. Da wäre es um das Natürliche gewesen,
daß für mehrere dichterische Gestalten auch mehrere Darsteller eingetreten
wären, allein in der Tempelvorhalle ist nur ein Sänger da; die Aufgabe
kommt ihm allein zu, und so bleibt zunächst nichts andres übrig, als diesen
einen Mann in verschiedenen Rollen auftreten zu lassen, eine Beschränkung,
die außerhalb dieses heiligen Raumes und seiner Gebräuche durchaus unver¬
ständlich bliebe. Erleichtert wurde dieses Verfahren durch die Anwendung
der Maske und der verhüllenden Gewandung, sodaß der dennoch vorhandene
Mißstand hinter der durch diesen Ausweg erlangten Bereicherung des epischen
und infolge davon auch des lyrischen Teiles des Dramas zurücktrat. Und in der
That haben Dichter, die uns als bedeutend geschildert werden, sich nur dieses
einen Schauspielers für ihre Dramen bedient und damit doch eine mächtige
Wirkung erreicht, wie Thespis und besonders Phrynichos. Hat hier das
Hauptgewicht auch uoch auf dem Chor und seinen Liedern gelegen, so war
deren Wirkung in ihrem Reichtum der Stimmung und ihrem ergreifenden
Pathos eben doch nur durch das Auftreten neuer Wendungen möglich, die
im epischen Teil erfolgen mußten und dort nur bei dem reicheren Wechsel


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[0084] Tempel und Theater wurde dieser Eindruck durch die laugen Gewänder; die alten Götterbilder er¬ scheinen im langen Feierkleide. Zugleich aber erfüllte dieses lange Gewand das praktische Erfordernis, den hohen Schuh zu verhüllen und die durch ihn er¬ reichte Hohe der Gestalt als eine natürliche Beschaffenheit des Körpers voraus¬ setzen zu lassen. So erscheinen alle die Eigentümlichkeiten des griechischen Theaters, dem der Charakter eines einheitlichen Bauwerks abgeht und seiner Entstehung nach abgehen muß, sowie die Eigentümlichkeiten in der Erscheinung des Schau¬ spielers, die, wie die Verwendung der leblosen Masken uns seltsam, ja geradezu geschmacklos vorkommen, als natürliche und begreifliche Folgen aus der Ent¬ stehung des Theaters aus der Tempclvorhalle neben der Entstehung des Dramas aus dem Kultus. Beides erklärt aber auch die vielfach außerordent¬ liche Größe des Zuschauerraumes; von der Feier der Gottheit durfte niemand ausgeschlossen werden. Dieser Grundsatz wird so weit geführt, daß zeitweilig zu Athen der Arme seinen Tagesunterhalt vom Staate gereicht bekam, um an der Feier, ohne von der Nahrungssorge abgehalten zu sein, teilnehmen zu können. Auch die kostspielige Ausstattung der Chöre durch die Bürger läßt sich nur der Knltushcmdlung gegenüber begreifen. Aber auch das Drama selbst und sein eigentümlicher Gang wird völlig verständlich aus der Thatsache, daß es in der Tempelvorhalle seinen Anfang genommen hat. Dort erscheint als Sänger nur der eine Mann, der nun als Gottheit auftritt. Sobald diese nicht mehr ausschließlich die Hauptperson ist, sobald andre an ihre Stelle treten können, ergiebt es sich als eine Erleichterung und eine Bereicherung der Handlung, wenn nicht immer dieselbe Person er¬ scheint, sondern mehrere auftreten. Da wäre es um das Natürliche gewesen, daß für mehrere dichterische Gestalten auch mehrere Darsteller eingetreten wären, allein in der Tempelvorhalle ist nur ein Sänger da; die Aufgabe kommt ihm allein zu, und so bleibt zunächst nichts andres übrig, als diesen einen Mann in verschiedenen Rollen auftreten zu lassen, eine Beschränkung, die außerhalb dieses heiligen Raumes und seiner Gebräuche durchaus unver¬ ständlich bliebe. Erleichtert wurde dieses Verfahren durch die Anwendung der Maske und der verhüllenden Gewandung, sodaß der dennoch vorhandene Mißstand hinter der durch diesen Ausweg erlangten Bereicherung des epischen und infolge davon auch des lyrischen Teiles des Dramas zurücktrat. Und in der That haben Dichter, die uns als bedeutend geschildert werden, sich nur dieses einen Schauspielers für ihre Dramen bedient und damit doch eine mächtige Wirkung erreicht, wie Thespis und besonders Phrynichos. Hat hier das Hauptgewicht auch uoch auf dem Chor und seinen Liedern gelegen, so war deren Wirkung in ihrem Reichtum der Stimmung und ihrem ergreifenden Pathos eben doch nur durch das Auftreten neuer Wendungen möglich, die im epischen Teil erfolgen mußten und dort nur bei dem reicheren Wechsel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/84>, abgerufen am 06.06.2024.