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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Tempel und Theater

der Personen, der dadurch herbeigeführten Mannichfaltigkeit und Vielseitigkeit
der Handlung und ihrer Wirkung nach verschiedenen Seiten hin auch thatsächlich
erfolgen konnte.

War die räumliche Trennung der Vorhalle vom Tempel und dadurch
ihr allnmhlicher Übergang zur "Bühne" der erste bedeutungsvolle Schritt zur
Ermöglichung der Ausbildung des Dramas zu einer selbständigen Kunstgattung,
so äußert sich in der Dichtung selbst dieser Übergang und die Vollziehung der
Verselbständigung am klarsten durch die Hinzunahme einer zweiten entsprechen¬
den Person und damit eines zweiten Schauspielers. Da man aber von dem
ersten Schauspieler gewohnt war, daß er mehrere Personen darstellen
konnte, so hat die Hinzunahme des zweiten Schauspielers die viel weitergehende
Bedeutuug, daß die zweite ansprechende Person, indem sie gleichfalls in ver¬
schiedenen Rollen auftreten konnte, eine starke Bereicherung der Zahl der
sprechenden Personen ermöglicht. Allerdings wird dieser Reichtum wieder
durch einen andern Umstand eingeschränkt. Prüft man, durch welche ästhe¬
tische Forderung die Hinzunahme des zweiten Schauspielers veranlaßt worden
sein mag, so ergiebt sich leicht, daß es das Bestreben war, den epischen Fort¬
gang der Handlung nicht dadurch zu zeigen, daß nach dem Weggehen der
Hauptperson von ihren Erlebnissen berichtet wurde, wie es geschehen mußte,
so lange nur ein sprechender Schauspieler zur Verfügung stand, sondern daß
die Entwickelung des epischen Geschehens an der gegenwärtig bleibenden Haupt¬
person dadurch erfolgte, daß von anderer Seite her eine Einwirkung auf sie
geschähe. Da diese Einwirkung mit Notwendigkeit nicht nur den äußern
epischen Fortgang der Handlung umändernd bestimmte, sondern ihre ganz be¬
sondre Wirkung dahin ausüben mußte, daß eine veränderte Stimmung bei
der Hauptperson eintrat und sich in ihren Äußerungen wiederspiegelte, so ist
die Einführung der zweiten sprechenden Person zugleich der entscheidende
Wendepunkt, bei dem das Hineintragen des lyrischen Elements, wie es sich in
dem angeregten Seelenleben und seinen Kundgebungen äußert, in das bis dahin
vorwiegend epische Auftreten der Hauptperson stattfindet; das lyrische Element,
das bisher seine ausschließliche oder doch hauptsächliche Vertretung im Chor¬
liede fand, tritt nun mit Entschiedenheit in die Handlung selbst ein, und es
beginnt sich das Zusammenwachsen der beiden inhaltlich verschiedenen Dichtungs-
arten zu vollziehen. Damit dies aber geschehen könne, muß die Hauptperson
häufiger auf der Bühne erscheinen, womöglich stets gegenwärtig sein, um die
Einwirkungen Vonseiten der zweiten sprechenden Person zu erfahren. So
wurde die wechselnde Darstellung verschiedener Personen auf den zweiten Schau¬
spieler übertragen, während dem ersten, dem "Protagonisten," meist nur eine
Rolle zufiel. Dadurch erfährt die Zahl der darzustellenden Persönlichkeiten
wieder eine Beschränkung, die sich aber nicht als solche störend bemerkbar
macht; die Hanptbereicherung, äußerlich das häufigere Zwiegespräch, innerlich


Tempel und Theater

der Personen, der dadurch herbeigeführten Mannichfaltigkeit und Vielseitigkeit
der Handlung und ihrer Wirkung nach verschiedenen Seiten hin auch thatsächlich
erfolgen konnte.

War die räumliche Trennung der Vorhalle vom Tempel und dadurch
ihr allnmhlicher Übergang zur „Bühne" der erste bedeutungsvolle Schritt zur
Ermöglichung der Ausbildung des Dramas zu einer selbständigen Kunstgattung,
so äußert sich in der Dichtung selbst dieser Übergang und die Vollziehung der
Verselbständigung am klarsten durch die Hinzunahme einer zweiten entsprechen¬
den Person und damit eines zweiten Schauspielers. Da man aber von dem
ersten Schauspieler gewohnt war, daß er mehrere Personen darstellen
konnte, so hat die Hinzunahme des zweiten Schauspielers die viel weitergehende
Bedeutuug, daß die zweite ansprechende Person, indem sie gleichfalls in ver¬
schiedenen Rollen auftreten konnte, eine starke Bereicherung der Zahl der
sprechenden Personen ermöglicht. Allerdings wird dieser Reichtum wieder
durch einen andern Umstand eingeschränkt. Prüft man, durch welche ästhe¬
tische Forderung die Hinzunahme des zweiten Schauspielers veranlaßt worden
sein mag, so ergiebt sich leicht, daß es das Bestreben war, den epischen Fort¬
gang der Handlung nicht dadurch zu zeigen, daß nach dem Weggehen der
Hauptperson von ihren Erlebnissen berichtet wurde, wie es geschehen mußte,
so lange nur ein sprechender Schauspieler zur Verfügung stand, sondern daß
die Entwickelung des epischen Geschehens an der gegenwärtig bleibenden Haupt¬
person dadurch erfolgte, daß von anderer Seite her eine Einwirkung auf sie
geschähe. Da diese Einwirkung mit Notwendigkeit nicht nur den äußern
epischen Fortgang der Handlung umändernd bestimmte, sondern ihre ganz be¬
sondre Wirkung dahin ausüben mußte, daß eine veränderte Stimmung bei
der Hauptperson eintrat und sich in ihren Äußerungen wiederspiegelte, so ist
die Einführung der zweiten sprechenden Person zugleich der entscheidende
Wendepunkt, bei dem das Hineintragen des lyrischen Elements, wie es sich in
dem angeregten Seelenleben und seinen Kundgebungen äußert, in das bis dahin
vorwiegend epische Auftreten der Hauptperson stattfindet; das lyrische Element,
das bisher seine ausschließliche oder doch hauptsächliche Vertretung im Chor¬
liede fand, tritt nun mit Entschiedenheit in die Handlung selbst ein, und es
beginnt sich das Zusammenwachsen der beiden inhaltlich verschiedenen Dichtungs-
arten zu vollziehen. Damit dies aber geschehen könne, muß die Hauptperson
häufiger auf der Bühne erscheinen, womöglich stets gegenwärtig sein, um die
Einwirkungen Vonseiten der zweiten sprechenden Person zu erfahren. So
wurde die wechselnde Darstellung verschiedener Personen auf den zweiten Schau¬
spieler übertragen, während dem ersten, dem „Protagonisten," meist nur eine
Rolle zufiel. Dadurch erfährt die Zahl der darzustellenden Persönlichkeiten
wieder eine Beschränkung, die sich aber nicht als solche störend bemerkbar
macht; die Hanptbereicherung, äußerlich das häufigere Zwiegespräch, innerlich


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[0085] Tempel und Theater der Personen, der dadurch herbeigeführten Mannichfaltigkeit und Vielseitigkeit der Handlung und ihrer Wirkung nach verschiedenen Seiten hin auch thatsächlich erfolgen konnte. War die räumliche Trennung der Vorhalle vom Tempel und dadurch ihr allnmhlicher Übergang zur „Bühne" der erste bedeutungsvolle Schritt zur Ermöglichung der Ausbildung des Dramas zu einer selbständigen Kunstgattung, so äußert sich in der Dichtung selbst dieser Übergang und die Vollziehung der Verselbständigung am klarsten durch die Hinzunahme einer zweiten entsprechen¬ den Person und damit eines zweiten Schauspielers. Da man aber von dem ersten Schauspieler gewohnt war, daß er mehrere Personen darstellen konnte, so hat die Hinzunahme des zweiten Schauspielers die viel weitergehende Bedeutuug, daß die zweite ansprechende Person, indem sie gleichfalls in ver¬ schiedenen Rollen auftreten konnte, eine starke Bereicherung der Zahl der sprechenden Personen ermöglicht. Allerdings wird dieser Reichtum wieder durch einen andern Umstand eingeschränkt. Prüft man, durch welche ästhe¬ tische Forderung die Hinzunahme des zweiten Schauspielers veranlaßt worden sein mag, so ergiebt sich leicht, daß es das Bestreben war, den epischen Fort¬ gang der Handlung nicht dadurch zu zeigen, daß nach dem Weggehen der Hauptperson von ihren Erlebnissen berichtet wurde, wie es geschehen mußte, so lange nur ein sprechender Schauspieler zur Verfügung stand, sondern daß die Entwickelung des epischen Geschehens an der gegenwärtig bleibenden Haupt¬ person dadurch erfolgte, daß von anderer Seite her eine Einwirkung auf sie geschähe. Da diese Einwirkung mit Notwendigkeit nicht nur den äußern epischen Fortgang der Handlung umändernd bestimmte, sondern ihre ganz be¬ sondre Wirkung dahin ausüben mußte, daß eine veränderte Stimmung bei der Hauptperson eintrat und sich in ihren Äußerungen wiederspiegelte, so ist die Einführung der zweiten sprechenden Person zugleich der entscheidende Wendepunkt, bei dem das Hineintragen des lyrischen Elements, wie es sich in dem angeregten Seelenleben und seinen Kundgebungen äußert, in das bis dahin vorwiegend epische Auftreten der Hauptperson stattfindet; das lyrische Element, das bisher seine ausschließliche oder doch hauptsächliche Vertretung im Chor¬ liede fand, tritt nun mit Entschiedenheit in die Handlung selbst ein, und es beginnt sich das Zusammenwachsen der beiden inhaltlich verschiedenen Dichtungs- arten zu vollziehen. Damit dies aber geschehen könne, muß die Hauptperson häufiger auf der Bühne erscheinen, womöglich stets gegenwärtig sein, um die Einwirkungen Vonseiten der zweiten sprechenden Person zu erfahren. So wurde die wechselnde Darstellung verschiedener Personen auf den zweiten Schau¬ spieler übertragen, während dem ersten, dem „Protagonisten," meist nur eine Rolle zufiel. Dadurch erfährt die Zahl der darzustellenden Persönlichkeiten wieder eine Beschränkung, die sich aber nicht als solche störend bemerkbar macht; die Hanptbereicherung, äußerlich das häufigere Zwiegespräch, innerlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/85>, abgerufen am 13.05.2024.