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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Napoleon der Lrste und die positivistische Geschichtsck^reibnng

tierische Wärme. ^"Z vivo "t 1a ohren sont et"s proänits <zvwms 1v Vitriole
^l 1s suvro. Nach Taine sind die ganze Litteratur- mit Kunstgeschichte, das
Leben des Einzelnen wie das ganzer Nationen lediglich Probleme der Psycho¬
logischen und physiologischen Mechanik. Alle geistigen und seelischen Kräfte,
alle Charaktereigenschaften und sinnlichen Triebe sind im Grnnde nur das End¬
ergebnis einer unabsehbaren Reihe von zufällig zusammenwirkenden mechanischen
Kräften: Wirkungen der Rasse, des Klimas, des Bodens, der Umgebung, der
Vererbung, der Anpassung u. s. w. Unter diesen allgemeinen Triebfedern der
Seele und des Geistes giebt es besondre herrschende Kräfte, til-oultös mlMroWö!-,
die bewußt oder unbewußt bei jeder Handlung hervortreten, das eigentliche
Wesen des Menschen bestimmen und seinem geistigen und sinnlichen Leben eine
gleichbleibende Richtung geben. Diesen Triebfedern spürt Taine überall nach,
und sobald er sie gefunden und von einander getrennt hat, bringt er sie wieder
zusammen, belebt sie und setzt sie in Schwung. Es ist kein Wunder, daß der
Historiker mit dieser Methode oft zu ganz verzerrten Charakterzeichnungen
kommt; seine Auffassung Miltons oder Shakespeares z. B. ist geradezu ab¬
schreckend.

Taine geht bei seiner Studie über Napoleon mit aller Gewissenhaftigkeit
vor; als Hauptquelle benutzt er die in zweiunddreißig Bänden erschienene Lorre-
8xo"6imvö as 1'owxöreur RAxoI6on I, aber er zieht auch die übrigen Dokumente
herbei, sobald ihn die von den Herausgebern vielfach kastrirte Korrespondenz
im Stiche läßt oder sein Urteil eine kräftigere Stütze verlangt. Selbst die
von den Bonapartisten verdächtigten Zeugnisse eines Metternich, Vvnrrienne,
Pratt, Miot de Melito und der Madame de Nvmusat läßt er zur Bekräfti¬
gung seiner zuweilen vorgefaßten Urteile mitsprechen. Wenn man sich ein
Bauwerk erklären will -- so beginnt er seine Charakteristik --, muß man sich
die allgemeinen Verhältnisse vergegenwärtigen, d. h. die Schwierigkeiten und
die Mittel, die Art und die Eigenschaften der vorhandenen Materialien, den
Zeitpunkt, die Gelegenheit, die Dringlichkeit. Aber noch wichtiger ist es, den
Geschmack und das Genie des Baumeisters dabei zu erwägen, besonders wenn
er der Eigentümer ist, wenn er baut, um selbst darin zu wohnen, wenn er
vom ersten Augenblick seines Einzuges an sorgfältig die Einrichtung des
Hauses seiner Lebensweise, seinen Bedürfnissen und seinem Dienste anpaßt.
So verhält sichs mit dem Gesellschaftsban Napoleon Bonapartes; er hat als
Baumeister, Eigentümer und hauptsächlichster Bewohner von 1799 bis 1814 das
moderne Frankreich geschaffen. Niemals hat ein einzelner Charakter sein Ge¬
präge so tief einem Gesamtwert aufgedrückt; so muß man, um das Werk richtig
zu verstehen, vor allem jenen Charakter studiren.

Napoleon steht, nach Taine, ganz außerhalb des Rahmens, in den man
Charaktere von weltgeschichtlicher Bedeutung gewöhnlich zu setzen Pflegt. Sein
Temperament, seine natürlichen Triebe, seine Fähigkeiten, seine Einbildnngs-


Napoleon der Lrste und die positivistische Geschichtsck^reibnng

tierische Wärme. ^«Z vivo «t 1a ohren sont et«s proänits <zvwms 1v Vitriole
^l 1s suvro. Nach Taine sind die ganze Litteratur- mit Kunstgeschichte, das
Leben des Einzelnen wie das ganzer Nationen lediglich Probleme der Psycho¬
logischen und physiologischen Mechanik. Alle geistigen und seelischen Kräfte,
alle Charaktereigenschaften und sinnlichen Triebe sind im Grnnde nur das End¬
ergebnis einer unabsehbaren Reihe von zufällig zusammenwirkenden mechanischen
Kräften: Wirkungen der Rasse, des Klimas, des Bodens, der Umgebung, der
Vererbung, der Anpassung u. s. w. Unter diesen allgemeinen Triebfedern der
Seele und des Geistes giebt es besondre herrschende Kräfte, til-oultös mlMroWö!-,
die bewußt oder unbewußt bei jeder Handlung hervortreten, das eigentliche
Wesen des Menschen bestimmen und seinem geistigen und sinnlichen Leben eine
gleichbleibende Richtung geben. Diesen Triebfedern spürt Taine überall nach,
und sobald er sie gefunden und von einander getrennt hat, bringt er sie wieder
zusammen, belebt sie und setzt sie in Schwung. Es ist kein Wunder, daß der
Historiker mit dieser Methode oft zu ganz verzerrten Charakterzeichnungen
kommt; seine Auffassung Miltons oder Shakespeares z. B. ist geradezu ab¬
schreckend.

Taine geht bei seiner Studie über Napoleon mit aller Gewissenhaftigkeit
vor; als Hauptquelle benutzt er die in zweiunddreißig Bänden erschienene Lorre-
8xo»6imvö as 1'owxöreur RAxoI6on I, aber er zieht auch die übrigen Dokumente
herbei, sobald ihn die von den Herausgebern vielfach kastrirte Korrespondenz
im Stiche läßt oder sein Urteil eine kräftigere Stütze verlangt. Selbst die
von den Bonapartisten verdächtigten Zeugnisse eines Metternich, Vvnrrienne,
Pratt, Miot de Melito und der Madame de Nvmusat läßt er zur Bekräfti¬
gung seiner zuweilen vorgefaßten Urteile mitsprechen. Wenn man sich ein
Bauwerk erklären will — so beginnt er seine Charakteristik —, muß man sich
die allgemeinen Verhältnisse vergegenwärtigen, d. h. die Schwierigkeiten und
die Mittel, die Art und die Eigenschaften der vorhandenen Materialien, den
Zeitpunkt, die Gelegenheit, die Dringlichkeit. Aber noch wichtiger ist es, den
Geschmack und das Genie des Baumeisters dabei zu erwägen, besonders wenn
er der Eigentümer ist, wenn er baut, um selbst darin zu wohnen, wenn er
vom ersten Augenblick seines Einzuges an sorgfältig die Einrichtung des
Hauses seiner Lebensweise, seinen Bedürfnissen und seinem Dienste anpaßt.
So verhält sichs mit dem Gesellschaftsban Napoleon Bonapartes; er hat als
Baumeister, Eigentümer und hauptsächlichster Bewohner von 1799 bis 1814 das
moderne Frankreich geschaffen. Niemals hat ein einzelner Charakter sein Ge¬
präge so tief einem Gesamtwert aufgedrückt; so muß man, um das Werk richtig
zu verstehen, vor allem jenen Charakter studiren.

Napoleon steht, nach Taine, ganz außerhalb des Rahmens, in den man
Charaktere von weltgeschichtlicher Bedeutung gewöhnlich zu setzen Pflegt. Sein
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/316>, abgerufen am 17.06.2024.