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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Artikel 3^ der Reichsverfassung

remdwörter in einem Gedichte beleidigen das Ohr, schaden aber
sonst nichts; Fremdwörter in einem Gesetze beleidigen das deutsche
Ohr leider nicht, können aber sehr schädlich wirken, indem sie
pas Verständnis des Gesetzes erschweren und damit die Rechts¬
sicherheit gefährden. Zu dieser Bemerkung giebt uns die jüngste
Verhandlung im Reichstag über das gegen den Abgeordneten Grillenberger
während einer Vertagung des Reichstags eingeleitete Strafverfahren Anlaß.
Die bekannte Streitfrage über die Auslegung des Artikels 31 der Reichsver-
fassung wäre wohl nie entstanden, wenn die betreffenden Bestimmungen der
Verfassung in gutem Deutsch, d. h. unter Vermeidung unnötiger Fremdwörter,
abgefaßt wären. Wir wollen versuchen, zur Lösung der Frage einen Beitrag
zu geben, indem wir -- unserseits Fremdwörter nach Möglichkeit vermeidend --
die einschlägigen Bestimmungen einerseits aus dein Gesichtspunkt der Sprache,
anderseits aus dem des Zweckes -- namentlich des aus andern Bestimmungen
der Verfassung selbst sich ergebenden Zweckes -- betrachten.

Ein Abgeordneter darf während einer gewissen Zeit nicht zur Untersuchung
gezogen oder verhaftet werden. Welches ist diese Zeit? Die Reichsverfassung
macht im fünften Abschnitt ("Reichstag") drei nwglicherweise in Betracht
kommende Zeiträume namhaft: die "Legislaturperiode" (Artikel 24), die
"Session" (Artikel 26) und die "Sitzungsperiode" (Artikel 31). Daß sich der
Schutz der Abgeordneten nicht auf die ganze "Legislaturperiode," uicht auf
den ganzen "Gesetzgebungsumlauf" oder, um sowohl deutsch als verständlich
zu reden, nicht ans die ganze Zeit erstreckt, für die der Reichstag gewählt ist,
das ist außer Streit. streitig ist nur der Begriff der "Sitzungsperiode" und
sein Verhältnis zu dem Begriff der "Session." Da Session (als bloße Über-


Gmizwlcn 1 1891 U!


Artikel 3^ der Reichsverfassung

remdwörter in einem Gedichte beleidigen das Ohr, schaden aber
sonst nichts; Fremdwörter in einem Gesetze beleidigen das deutsche
Ohr leider nicht, können aber sehr schädlich wirken, indem sie
pas Verständnis des Gesetzes erschweren und damit die Rechts¬
sicherheit gefährden. Zu dieser Bemerkung giebt uns die jüngste
Verhandlung im Reichstag über das gegen den Abgeordneten Grillenberger
während einer Vertagung des Reichstags eingeleitete Strafverfahren Anlaß.
Die bekannte Streitfrage über die Auslegung des Artikels 31 der Reichsver-
fassung wäre wohl nie entstanden, wenn die betreffenden Bestimmungen der
Verfassung in gutem Deutsch, d. h. unter Vermeidung unnötiger Fremdwörter,
abgefaßt wären. Wir wollen versuchen, zur Lösung der Frage einen Beitrag
zu geben, indem wir — unserseits Fremdwörter nach Möglichkeit vermeidend —
die einschlägigen Bestimmungen einerseits aus dein Gesichtspunkt der Sprache,
anderseits aus dem des Zweckes — namentlich des aus andern Bestimmungen
der Verfassung selbst sich ergebenden Zweckes — betrachten.

Ein Abgeordneter darf während einer gewissen Zeit nicht zur Untersuchung
gezogen oder verhaftet werden. Welches ist diese Zeit? Die Reichsverfassung
macht im fünften Abschnitt („Reichstag") drei nwglicherweise in Betracht
kommende Zeiträume namhaft: die „Legislaturperiode" (Artikel 24), die
„Session" (Artikel 26) und die „Sitzungsperiode" (Artikel 31). Daß sich der
Schutz der Abgeordneten nicht auf die ganze „Legislaturperiode," uicht auf
den ganzen „Gesetzgebungsumlauf" oder, um sowohl deutsch als verständlich
zu reden, nicht ans die ganze Zeit erstreckt, für die der Reichstag gewählt ist,
das ist außer Streit. streitig ist nur der Begriff der „Sitzungsperiode" und
sein Verhältnis zu dem Begriff der „Session." Da Session (als bloße Über-


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[0345] [Abbildung] Artikel 3^ der Reichsverfassung remdwörter in einem Gedichte beleidigen das Ohr, schaden aber sonst nichts; Fremdwörter in einem Gesetze beleidigen das deutsche Ohr leider nicht, können aber sehr schädlich wirken, indem sie pas Verständnis des Gesetzes erschweren und damit die Rechts¬ sicherheit gefährden. Zu dieser Bemerkung giebt uns die jüngste Verhandlung im Reichstag über das gegen den Abgeordneten Grillenberger während einer Vertagung des Reichstags eingeleitete Strafverfahren Anlaß. Die bekannte Streitfrage über die Auslegung des Artikels 31 der Reichsver- fassung wäre wohl nie entstanden, wenn die betreffenden Bestimmungen der Verfassung in gutem Deutsch, d. h. unter Vermeidung unnötiger Fremdwörter, abgefaßt wären. Wir wollen versuchen, zur Lösung der Frage einen Beitrag zu geben, indem wir — unserseits Fremdwörter nach Möglichkeit vermeidend — die einschlägigen Bestimmungen einerseits aus dein Gesichtspunkt der Sprache, anderseits aus dem des Zweckes — namentlich des aus andern Bestimmungen der Verfassung selbst sich ergebenden Zweckes — betrachten. Ein Abgeordneter darf während einer gewissen Zeit nicht zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden. Welches ist diese Zeit? Die Reichsverfassung macht im fünften Abschnitt („Reichstag") drei nwglicherweise in Betracht kommende Zeiträume namhaft: die „Legislaturperiode" (Artikel 24), die „Session" (Artikel 26) und die „Sitzungsperiode" (Artikel 31). Daß sich der Schutz der Abgeordneten nicht auf die ganze „Legislaturperiode," uicht auf den ganzen „Gesetzgebungsumlauf" oder, um sowohl deutsch als verständlich zu reden, nicht ans die ganze Zeit erstreckt, für die der Reichstag gewählt ist, das ist außer Streit. streitig ist nur der Begriff der „Sitzungsperiode" und sein Verhältnis zu dem Begriff der „Session." Da Session (als bloße Über- Gmizwlcn 1 1891 U!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/345>, abgerufen am 17.06.2024.