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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Fußangel". Um das Maß widriger Geschicke überfließen zu machen, versagte
schon nach dem ersten Halbjahr seines Leipziger Aufenthaltes seine Gesundheit,
die wahrend der letzten Jahre in Eisfeld zu keinen Besorgnissen mehr Anlaß
gegeben hatte. Die körperlichen Zustände trugen zur rascheru Lösung der
wunderlichen Verhältnisse bei, in die sich der Kunstjünger verstrickt sah, aber
die Entscheidung selbst lag tiefer und hing mit einer geistigen Krisis zusammen,
die schon vor dein Ausdruck) der Krankheit begonnen hatte.

Die musikalischen Manuskripte Ludwigs Ware" noch im November in
Leipzig eingetroffen und wurden Mendelssohn-Narthvldh vorgelegt. Ehe sie
der Meister durchsehen und ein Urteil darüber abgeben konnte, riet er Lud¬
wig zu Klavier- lind Orgelstudien, zum fleißigen Anhören der Gewaudhaus-
kvuzerte, der Quartettabeude, der Kirchenmusiken, gelegentlich auch der Oper.
Die Grundsätze, die Mendelssohn ein paar Jahre später bei der Errichtung
des Leipziger Konservatoriums aussprach, daß "tüchtig Spielen und Takthalten,
tüchtige Kenntnis aller tüchtigen Werke" die Hauptsache sei, wird er auch
seinen Privatschüleru gegenüber nicht verleugnet haben. Ju Ludwigs Tage¬
büchern findet sich im Dezember IttM" der Entwurf zu einem Briefe an den
Herzog von Meiningen, worin der Stipendiat über seine von Mendelssohn
geleiteten Studien Rechenschaft geben wollte. Darnach hatte der erfahrene
Lehrer ihm geraten, zunächst nichts weiter zu komponiren, sondern nur zu
hören, Partituren zu studiren und namentlich täglich vier Stunden Klavier
zu spielen; es gelte, gerade dn er geistig entwickelter und reifer sei, als andre
Musiker in seiner Lage, vorzugsweise deu musikalischen Geschmack zu bilden
und zu erfahren, was in allen Fächern schon geleistet sei, Ludwig scheine
wenig zu kennen und keine Übersicht über deu Reichtum der musikalischen Lit¬
teratur zu haben. Wie weit der Jünger deu Willen und die Mittel hatte,
die Ratschläge des Meisters zu befolgen, ist nicht völlig klar; an Freund
Schalter schrieb er, daß das Stipendium des Herzogs zum einfachen Leben,
nicht aber zum Besuch der teueren Konzerte (ein Kvnzertbillet kostete sechzehn
Groschen!) und Theatervorstellungen hinreiche, daß er außerdem seine Gesund¬
heit zu' bedenken habe und wirklich in jedem Konzert, das er höre, unwohl
werde. In sein Tagebuch zeichnete er am Januar ein, daß ihm.
"Konzerte und Theater verschlossen seien," nahm sich aber zugleich vor, das
Theater "doch möglichst zu frequentireu -- der Kenntnis der dramatischen
Mittel wegen." Mendelssohn hatte ihm offenbar anch empfohlen, seinen Her¬
zog um eine Erhöhung des Stipendiums zu fleißigem Kouzertbesuche zu bitten,
wogegen sich Ludwigs Stolz sträubte.

Auch im Fortgang der Wochen und Monate wollte kein wärmeres und
innigeres Verhältnis zu Mendelssohn gedeihen, die ganze Beziehung gewann
nichts von dem vertraulichen Verkehr des Schülers mit dein Meister. Lud¬
wig glich in seiner persönlichen Erscheinung, seiner Haltung, seinen Gewöhn-


Fußangel». Um das Maß widriger Geschicke überfließen zu machen, versagte
schon nach dem ersten Halbjahr seines Leipziger Aufenthaltes seine Gesundheit,
die wahrend der letzten Jahre in Eisfeld zu keinen Besorgnissen mehr Anlaß
gegeben hatte. Die körperlichen Zustände trugen zur rascheru Lösung der
wunderlichen Verhältnisse bei, in die sich der Kunstjünger verstrickt sah, aber
die Entscheidung selbst lag tiefer und hing mit einer geistigen Krisis zusammen,
die schon vor dein Ausdruck) der Krankheit begonnen hatte.

Die musikalischen Manuskripte Ludwigs Ware» noch im November in
Leipzig eingetroffen und wurden Mendelssohn-Narthvldh vorgelegt. Ehe sie
der Meister durchsehen und ein Urteil darüber abgeben konnte, riet er Lud¬
wig zu Klavier- lind Orgelstudien, zum fleißigen Anhören der Gewaudhaus-
kvuzerte, der Quartettabeude, der Kirchenmusiken, gelegentlich auch der Oper.
Die Grundsätze, die Mendelssohn ein paar Jahre später bei der Errichtung
des Leipziger Konservatoriums aussprach, daß „tüchtig Spielen und Takthalten,
tüchtige Kenntnis aller tüchtigen Werke" die Hauptsache sei, wird er auch
seinen Privatschüleru gegenüber nicht verleugnet haben. Ju Ludwigs Tage¬
büchern findet sich im Dezember IttM» der Entwurf zu einem Briefe an den
Herzog von Meiningen, worin der Stipendiat über seine von Mendelssohn
geleiteten Studien Rechenschaft geben wollte. Darnach hatte der erfahrene
Lehrer ihm geraten, zunächst nichts weiter zu komponiren, sondern nur zu
hören, Partituren zu studiren und namentlich täglich vier Stunden Klavier
zu spielen; es gelte, gerade dn er geistig entwickelter und reifer sei, als andre
Musiker in seiner Lage, vorzugsweise deu musikalischen Geschmack zu bilden
und zu erfahren, was in allen Fächern schon geleistet sei, Ludwig scheine
wenig zu kennen und keine Übersicht über deu Reichtum der musikalischen Lit¬
teratur zu haben. Wie weit der Jünger deu Willen und die Mittel hatte,
die Ratschläge des Meisters zu befolgen, ist nicht völlig klar; an Freund
Schalter schrieb er, daß das Stipendium des Herzogs zum einfachen Leben,
nicht aber zum Besuch der teueren Konzerte (ein Kvnzertbillet kostete sechzehn
Groschen!) und Theatervorstellungen hinreiche, daß er außerdem seine Gesund¬
heit zu' bedenken habe und wirklich in jedem Konzert, das er höre, unwohl
werde. In sein Tagebuch zeichnete er am Januar ein, daß ihm.
„Konzerte und Theater verschlossen seien," nahm sich aber zugleich vor, das
Theater „doch möglichst zu frequentireu — der Kenntnis der dramatischen
Mittel wegen." Mendelssohn hatte ihm offenbar anch empfohlen, seinen Her¬
zog um eine Erhöhung des Stipendiums zu fleißigem Kouzertbesuche zu bitten,
wogegen sich Ludwigs Stolz sträubte.

Auch im Fortgang der Wochen und Monate wollte kein wärmeres und
innigeres Verhältnis zu Mendelssohn gedeihen, die ganze Beziehung gewann
nichts von dem vertraulichen Verkehr des Schülers mit dein Meister. Lud¬
wig glich in seiner persönlichen Erscheinung, seiner Haltung, seinen Gewöhn-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/90>, abgerufen am 26.05.2024.