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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Die internationale Kunstausstellung in Berlin

nicht anbeißen. Auch die ausübenden Künstler benutzen jede sich ihnen bietende
Gelegenheit, die Pariser Kunstzustände kennen zu lernen und einen Einblick in
das Treiben der dortigen Werkstätten zu gewinnen.

Anders stellt sich die Sache, wenn man sie von der Pariser Seite aus
betrachtet. Französische Journalisten und schreibfertige Touristen, die seit
etwa 1878, seit dem Berliner Kongreß, häufiger nach Berlin kommen, sich
auch wohl als Korrespondenten von Pariser Blättern monatelang in Berlin
aufhalten, halten mit rührender Treue an der von ihrem Ahnherrn Tissot
aufgestellten Schablone fest: sie reißen alles herunter, was in Berlin lebt,
webt, schafft, schreibt, malt und in Thon bildet, ohne sich um eine Einzelheit
zu kümmern, ohne sich eine wirkliche Anschauung der Dinge -- ehrlich als
ehrliche Feinde -- zu erwerben, und wenn einmal ein unbefangener, wahrbeits¬
liebender Franzose nach Berlin kommt, steht er ratlos und bestürzt vor einer
neuen Welt, deren Anblick ihm durch die Gewissenlosigkeit seiner Presse, die
nur in militärischen Dingen Argusaugen hat und mit deu stärksten Farben
an die Wand malt, zwei Jahrzehnte hindurch verborgen geblieben ist.

In Wahrheit ist also nicht der Deutsche, nicht der bewegliche, allezeit
reisefertige und reisemutige Berliner der, der durch die Zurückhaltung der
Franzosen von der Berliner internationalen Kunstausstellung etwa an dein
Zuwachs seines Wissens oder seines künstlerischen Vermögens verloren hat,
sondern der Pariser, der unbchilflichste Großstädter der Welt, der verlassen ist
wie ein Kind, sobald er über deu Gesichtskreis der Boulevards hinausgekommen
ist, und dein durch eine nähere Verkehrung mit Berlin vielleicht ein Licht über
die Berechtigung seiner Anmaßung aufgegangen wäre.

Unsre Kenntnis der französischen Malerei, die wir alljährlich mit leichter
Mühe und geringem Geldaufwands im Pariser Salon erneuern können, giebt
uns sogar hinlänglichen Grund, das Ausbleiben der Franzosen nicht nur uicht
zu bedauern, sondern als einen glücklichen Zufall zu preisen. Denn die fran¬
zösische Malerei befindet sich, seitdem der Naturalismus zu einer stetig
wachsenden Herrschaft gelangt ist, in bestündigem Rückgänge, den jeder neue
Salon drastischer als sein Vorgänger vor Augen führt. Die Franzosen teilen
hier das Schicksal aller Entdecker und Erfinder: sie haben den Naturalismus
entdeckt oder doch wenigstens neu erfunden; aber sie ernten nicht die Früchte
ihrer Entdeckung, sondern sie haben nnr die Last und den Schaden davon.
Wohin ihre naturalistischen Bilder gedrungen sind, haben sie bei schwachen
Naturen, in revolutionären Köpfe", deren Träger aus Widerspenstigkeit und
Faulheit keinen Schulzwnng dulden wollten, Schaden gestiftet. Lehrreiche
Beispiele dafür sind die jungen Münchner Naturalisten und die Helden der
Glnsgower Schule, die mau die "Snnsenlvtten der Malerei" nennen kaun,
weil sie sich mit einer in der Kunstgeschichte beispiellos dastehenden Ungeniertheit
über die Grundbedingungen jeglicher .Kunstübung - einschließlich der chinesische" --


Grenzboten II 1891 <!7
Die internationale Kunstausstellung in Berlin

nicht anbeißen. Auch die ausübenden Künstler benutzen jede sich ihnen bietende
Gelegenheit, die Pariser Kunstzustände kennen zu lernen und einen Einblick in
das Treiben der dortigen Werkstätten zu gewinnen.

Anders stellt sich die Sache, wenn man sie von der Pariser Seite aus
betrachtet. Französische Journalisten und schreibfertige Touristen, die seit
etwa 1878, seit dem Berliner Kongreß, häufiger nach Berlin kommen, sich
auch wohl als Korrespondenten von Pariser Blättern monatelang in Berlin
aufhalten, halten mit rührender Treue an der von ihrem Ahnherrn Tissot
aufgestellten Schablone fest: sie reißen alles herunter, was in Berlin lebt,
webt, schafft, schreibt, malt und in Thon bildet, ohne sich um eine Einzelheit
zu kümmern, ohne sich eine wirkliche Anschauung der Dinge — ehrlich als
ehrliche Feinde — zu erwerben, und wenn einmal ein unbefangener, wahrbeits¬
liebender Franzose nach Berlin kommt, steht er ratlos und bestürzt vor einer
neuen Welt, deren Anblick ihm durch die Gewissenlosigkeit seiner Presse, die
nur in militärischen Dingen Argusaugen hat und mit deu stärksten Farben
an die Wand malt, zwei Jahrzehnte hindurch verborgen geblieben ist.

In Wahrheit ist also nicht der Deutsche, nicht der bewegliche, allezeit
reisefertige und reisemutige Berliner der, der durch die Zurückhaltung der
Franzosen von der Berliner internationalen Kunstausstellung etwa an dein
Zuwachs seines Wissens oder seines künstlerischen Vermögens verloren hat,
sondern der Pariser, der unbchilflichste Großstädter der Welt, der verlassen ist
wie ein Kind, sobald er über deu Gesichtskreis der Boulevards hinausgekommen
ist, und dein durch eine nähere Verkehrung mit Berlin vielleicht ein Licht über
die Berechtigung seiner Anmaßung aufgegangen wäre.

Unsre Kenntnis der französischen Malerei, die wir alljährlich mit leichter
Mühe und geringem Geldaufwands im Pariser Salon erneuern können, giebt
uns sogar hinlänglichen Grund, das Ausbleiben der Franzosen nicht nur uicht
zu bedauern, sondern als einen glücklichen Zufall zu preisen. Denn die fran¬
zösische Malerei befindet sich, seitdem der Naturalismus zu einer stetig
wachsenden Herrschaft gelangt ist, in bestündigem Rückgänge, den jeder neue
Salon drastischer als sein Vorgänger vor Augen führt. Die Franzosen teilen
hier das Schicksal aller Entdecker und Erfinder: sie haben den Naturalismus
entdeckt oder doch wenigstens neu erfunden; aber sie ernten nicht die Früchte
ihrer Entdeckung, sondern sie haben nnr die Last und den Schaden davon.
Wohin ihre naturalistischen Bilder gedrungen sind, haben sie bei schwachen
Naturen, in revolutionären Köpfe», deren Träger aus Widerspenstigkeit und
Faulheit keinen Schulzwnng dulden wollten, Schaden gestiftet. Lehrreiche
Beispiele dafür sind die jungen Münchner Naturalisten und die Helden der
Glnsgower Schule, die mau die „Snnsenlvtten der Malerei" nennen kaun,
weil sie sich mit einer in der Kunstgeschichte beispiellos dastehenden Ungeniertheit
über die Grundbedingungen jeglicher .Kunstübung - einschließlich der chinesische» —


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[0533] Die internationale Kunstausstellung in Berlin nicht anbeißen. Auch die ausübenden Künstler benutzen jede sich ihnen bietende Gelegenheit, die Pariser Kunstzustände kennen zu lernen und einen Einblick in das Treiben der dortigen Werkstätten zu gewinnen. Anders stellt sich die Sache, wenn man sie von der Pariser Seite aus betrachtet. Französische Journalisten und schreibfertige Touristen, die seit etwa 1878, seit dem Berliner Kongreß, häufiger nach Berlin kommen, sich auch wohl als Korrespondenten von Pariser Blättern monatelang in Berlin aufhalten, halten mit rührender Treue an der von ihrem Ahnherrn Tissot aufgestellten Schablone fest: sie reißen alles herunter, was in Berlin lebt, webt, schafft, schreibt, malt und in Thon bildet, ohne sich um eine Einzelheit zu kümmern, ohne sich eine wirkliche Anschauung der Dinge — ehrlich als ehrliche Feinde — zu erwerben, und wenn einmal ein unbefangener, wahrbeits¬ liebender Franzose nach Berlin kommt, steht er ratlos und bestürzt vor einer neuen Welt, deren Anblick ihm durch die Gewissenlosigkeit seiner Presse, die nur in militärischen Dingen Argusaugen hat und mit deu stärksten Farben an die Wand malt, zwei Jahrzehnte hindurch verborgen geblieben ist. In Wahrheit ist also nicht der Deutsche, nicht der bewegliche, allezeit reisefertige und reisemutige Berliner der, der durch die Zurückhaltung der Franzosen von der Berliner internationalen Kunstausstellung etwa an dein Zuwachs seines Wissens oder seines künstlerischen Vermögens verloren hat, sondern der Pariser, der unbchilflichste Großstädter der Welt, der verlassen ist wie ein Kind, sobald er über deu Gesichtskreis der Boulevards hinausgekommen ist, und dein durch eine nähere Verkehrung mit Berlin vielleicht ein Licht über die Berechtigung seiner Anmaßung aufgegangen wäre. Unsre Kenntnis der französischen Malerei, die wir alljährlich mit leichter Mühe und geringem Geldaufwands im Pariser Salon erneuern können, giebt uns sogar hinlänglichen Grund, das Ausbleiben der Franzosen nicht nur uicht zu bedauern, sondern als einen glücklichen Zufall zu preisen. Denn die fran¬ zösische Malerei befindet sich, seitdem der Naturalismus zu einer stetig wachsenden Herrschaft gelangt ist, in bestündigem Rückgänge, den jeder neue Salon drastischer als sein Vorgänger vor Augen führt. Die Franzosen teilen hier das Schicksal aller Entdecker und Erfinder: sie haben den Naturalismus entdeckt oder doch wenigstens neu erfunden; aber sie ernten nicht die Früchte ihrer Entdeckung, sondern sie haben nnr die Last und den Schaden davon. Wohin ihre naturalistischen Bilder gedrungen sind, haben sie bei schwachen Naturen, in revolutionären Köpfe», deren Träger aus Widerspenstigkeit und Faulheit keinen Schulzwnng dulden wollten, Schaden gestiftet. Lehrreiche Beispiele dafür sind die jungen Münchner Naturalisten und die Helden der Glnsgower Schule, die mau die „Snnsenlvtten der Malerei" nennen kaun, weil sie sich mit einer in der Kunstgeschichte beispiellos dastehenden Ungeniertheit über die Grundbedingungen jeglicher .Kunstübung - einschließlich der chinesische» — Grenzboten II 1891 <!7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/533>, abgerufen am 17.06.2024.