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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Der russische Soldat

Liedes sich stark verändert hat. Die Unanständigkeit einzelner Lieder ist heute
so unbeschreiblich, daß sie eben dadurch den Charakter der Unanständigkeit
verlieren und zu einem grotesken Unsinn werden.

Einer besondern Betonung bedars die staunenswerte Vielseitigkeit Iwans:
heute ist er ein Schlitze ersten Ranges, morgen ein ausgezeichneter Stall¬
meister -- dann tischlert er in der Werkstatt oder dient dem Offizier als
Koch oder Wäscherin. Unersetzlich ist er für die arme Offiziersfamilie: er
wartet die Kinder, geht auf den Markt und hilft der Hausfrau die Kleider
bügeln. Dazu kommt die Fähigkeit unsers Iwan, sich mit Fremden zu
verständigen: Franzosen, Türken, Engländer, Deutsche, Chinesen, Italiener,
alle verstehen ihn, allen weiß er seine Gedanken durch Geberden, die nur ihm
eigentümlich sind, kundzuthun. Bald schlüge er auf den Nacken oder auf den
Bauch, oder er schneidet eine Grimasse, in jedem Fall aber versteht man ihn.
Der Glaube Iwans an die Fähigkeit und Ehrlichkeit seiner Offiziere ist in
der That erstaunlich, lobenswert und erbaulich. Sie sind für ihn, was der
Papst für den gläubigen Katholiken ist; er glaubt fest an ihre Unfehlbarkeit
und ist völlig überzeugt, daß, was sie thun, nicht besser erdacht und geschickter
ausgeführt werden könne. Deshalb meutert er auch niemals. Und doch ist
seine Lage schwer, sehr schwer, und stünde ein Ausländer an seiner Stelle, er
würde sich ausbäumen und sicher murren. Iwan aber giebt keinen Laut von
sich. Seine Väter und Vorväter haben ganz andre Dinge ertragen, und Iwan
kann nicht so sinken, daß er sich über ein Nichts beschweren sollte. Giebt man
ihm kein Fleisch, so ist gewiß keins da; ist das Fleisch schlecht, so ist die
Hitze daran schuld, der gegenüber sogar die Vorgesetzten ohnmächtig sind; taugen
die Stiefel nichts, und erfrieren Iwans Füße, so trägt der Frost die Schuld;
ist der Zwiebnck voller Würmer, so haben es eben die Würmer gethan. Es
kommt ihm überhaupt nie der Gedanke, jemandem Vorwürfe zu machen.
Liegt er wegen irgend eines Vergehens in Ketten, in dünnem Mäntelchen und
zerrissenen Stiefeln, und erfrieren ihm Füße, Hände, Ohren und Nase, oder
gerät er durch irgend eine Unvorsichtigkeit in ein mörderisches Feuer, das seine
Kameraden zu Hunderten tötet und dem Regimente sichern Untergang bereitet,
so ist es wieder Gottes Wille, den: man sich ohne Murren unterwerfen muß.
Niemals kommt ihm der Gedanke, durch die Flucht sich den Folgen der Mi߬
griffe seiner Vorgesetzten zu entziehen. Mit einem Wort, unser Iwan ist über¬
zeugt, daß ihm alles zum besten diene, und so nimmt er die Dinge, wie sie sich
ihm darbieten. Er ist mit dem Leben zufrieden, wenn er auch nur schwarzes
Brot hat, und denkt nie daran, zu klagen, und nach seiner Logik hat er auch
Recht. Wie schlimm auch im Dienste Nahrung und Kleidung Iwans sein
mag, immer uoch ist es besser, als das Brodwasser mit Lauch, das er in der
Nauchstättc der elterliche,, Wohnstätte findet. Wenn Iwan in der Einfalt
seiner Seele wenig über sich selbst nachdenkt, so wird für ihn und über ihn


Der russische Soldat

Liedes sich stark verändert hat. Die Unanständigkeit einzelner Lieder ist heute
so unbeschreiblich, daß sie eben dadurch den Charakter der Unanständigkeit
verlieren und zu einem grotesken Unsinn werden.

Einer besondern Betonung bedars die staunenswerte Vielseitigkeit Iwans:
heute ist er ein Schlitze ersten Ranges, morgen ein ausgezeichneter Stall¬
meister — dann tischlert er in der Werkstatt oder dient dem Offizier als
Koch oder Wäscherin. Unersetzlich ist er für die arme Offiziersfamilie: er
wartet die Kinder, geht auf den Markt und hilft der Hausfrau die Kleider
bügeln. Dazu kommt die Fähigkeit unsers Iwan, sich mit Fremden zu
verständigen: Franzosen, Türken, Engländer, Deutsche, Chinesen, Italiener,
alle verstehen ihn, allen weiß er seine Gedanken durch Geberden, die nur ihm
eigentümlich sind, kundzuthun. Bald schlüge er auf den Nacken oder auf den
Bauch, oder er schneidet eine Grimasse, in jedem Fall aber versteht man ihn.
Der Glaube Iwans an die Fähigkeit und Ehrlichkeit seiner Offiziere ist in
der That erstaunlich, lobenswert und erbaulich. Sie sind für ihn, was der
Papst für den gläubigen Katholiken ist; er glaubt fest an ihre Unfehlbarkeit
und ist völlig überzeugt, daß, was sie thun, nicht besser erdacht und geschickter
ausgeführt werden könne. Deshalb meutert er auch niemals. Und doch ist
seine Lage schwer, sehr schwer, und stünde ein Ausländer an seiner Stelle, er
würde sich ausbäumen und sicher murren. Iwan aber giebt keinen Laut von
sich. Seine Väter und Vorväter haben ganz andre Dinge ertragen, und Iwan
kann nicht so sinken, daß er sich über ein Nichts beschweren sollte. Giebt man
ihm kein Fleisch, so ist gewiß keins da; ist das Fleisch schlecht, so ist die
Hitze daran schuld, der gegenüber sogar die Vorgesetzten ohnmächtig sind; taugen
die Stiefel nichts, und erfrieren Iwans Füße, so trägt der Frost die Schuld;
ist der Zwiebnck voller Würmer, so haben es eben die Würmer gethan. Es
kommt ihm überhaupt nie der Gedanke, jemandem Vorwürfe zu machen.
Liegt er wegen irgend eines Vergehens in Ketten, in dünnem Mäntelchen und
zerrissenen Stiefeln, und erfrieren ihm Füße, Hände, Ohren und Nase, oder
gerät er durch irgend eine Unvorsichtigkeit in ein mörderisches Feuer, das seine
Kameraden zu Hunderten tötet und dem Regimente sichern Untergang bereitet,
so ist es wieder Gottes Wille, den: man sich ohne Murren unterwerfen muß.
Niemals kommt ihm der Gedanke, durch die Flucht sich den Folgen der Mi߬
griffe seiner Vorgesetzten zu entziehen. Mit einem Wort, unser Iwan ist über¬
zeugt, daß ihm alles zum besten diene, und so nimmt er die Dinge, wie sie sich
ihm darbieten. Er ist mit dem Leben zufrieden, wenn er auch nur schwarzes
Brot hat, und denkt nie daran, zu klagen, und nach seiner Logik hat er auch
Recht. Wie schlimm auch im Dienste Nahrung und Kleidung Iwans sein
mag, immer uoch ist es besser, als das Brodwasser mit Lauch, das er in der
Nauchstättc der elterliche,, Wohnstätte findet. Wenn Iwan in der Einfalt
seiner Seele wenig über sich selbst nachdenkt, so wird für ihn und über ihn


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[0493] Der russische Soldat Liedes sich stark verändert hat. Die Unanständigkeit einzelner Lieder ist heute so unbeschreiblich, daß sie eben dadurch den Charakter der Unanständigkeit verlieren und zu einem grotesken Unsinn werden. Einer besondern Betonung bedars die staunenswerte Vielseitigkeit Iwans: heute ist er ein Schlitze ersten Ranges, morgen ein ausgezeichneter Stall¬ meister — dann tischlert er in der Werkstatt oder dient dem Offizier als Koch oder Wäscherin. Unersetzlich ist er für die arme Offiziersfamilie: er wartet die Kinder, geht auf den Markt und hilft der Hausfrau die Kleider bügeln. Dazu kommt die Fähigkeit unsers Iwan, sich mit Fremden zu verständigen: Franzosen, Türken, Engländer, Deutsche, Chinesen, Italiener, alle verstehen ihn, allen weiß er seine Gedanken durch Geberden, die nur ihm eigentümlich sind, kundzuthun. Bald schlüge er auf den Nacken oder auf den Bauch, oder er schneidet eine Grimasse, in jedem Fall aber versteht man ihn. Der Glaube Iwans an die Fähigkeit und Ehrlichkeit seiner Offiziere ist in der That erstaunlich, lobenswert und erbaulich. Sie sind für ihn, was der Papst für den gläubigen Katholiken ist; er glaubt fest an ihre Unfehlbarkeit und ist völlig überzeugt, daß, was sie thun, nicht besser erdacht und geschickter ausgeführt werden könne. Deshalb meutert er auch niemals. Und doch ist seine Lage schwer, sehr schwer, und stünde ein Ausländer an seiner Stelle, er würde sich ausbäumen und sicher murren. Iwan aber giebt keinen Laut von sich. Seine Väter und Vorväter haben ganz andre Dinge ertragen, und Iwan kann nicht so sinken, daß er sich über ein Nichts beschweren sollte. Giebt man ihm kein Fleisch, so ist gewiß keins da; ist das Fleisch schlecht, so ist die Hitze daran schuld, der gegenüber sogar die Vorgesetzten ohnmächtig sind; taugen die Stiefel nichts, und erfrieren Iwans Füße, so trägt der Frost die Schuld; ist der Zwiebnck voller Würmer, so haben es eben die Würmer gethan. Es kommt ihm überhaupt nie der Gedanke, jemandem Vorwürfe zu machen. Liegt er wegen irgend eines Vergehens in Ketten, in dünnem Mäntelchen und zerrissenen Stiefeln, und erfrieren ihm Füße, Hände, Ohren und Nase, oder gerät er durch irgend eine Unvorsichtigkeit in ein mörderisches Feuer, das seine Kameraden zu Hunderten tötet und dem Regimente sichern Untergang bereitet, so ist es wieder Gottes Wille, den: man sich ohne Murren unterwerfen muß. Niemals kommt ihm der Gedanke, durch die Flucht sich den Folgen der Mi߬ griffe seiner Vorgesetzten zu entziehen. Mit einem Wort, unser Iwan ist über¬ zeugt, daß ihm alles zum besten diene, und so nimmt er die Dinge, wie sie sich ihm darbieten. Er ist mit dem Leben zufrieden, wenn er auch nur schwarzes Brot hat, und denkt nie daran, zu klagen, und nach seiner Logik hat er auch Recht. Wie schlimm auch im Dienste Nahrung und Kleidung Iwans sein mag, immer uoch ist es besser, als das Brodwasser mit Lauch, das er in der Nauchstättc der elterliche,, Wohnstätte findet. Wenn Iwan in der Einfalt seiner Seele wenig über sich selbst nachdenkt, so wird für ihn und über ihn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/493>, abgerufen am 15.06.2024.