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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Berlin die Stimme Deutschlands?

nicht bange, daß es Ernst damit werden möchte. Unser deutsches Stammes¬
gefühl ist allzu mächtig, wir werden uns einer ästhetischen Suprematie nie¬
mals unterwerfen, die schließlich dahin führt, daß nicht mehr die deutsche
Nation über Werke des Genius ihren Spruch füllt, sondern eine aus sehr
zweifelhaften Elementen zusammengewehte üppige Gesellschaft." Ähnlich urteilt
Friedrich Lange, einer von den wenigen unabhängigen Berliner Schriftstellern:
"Ich werde mich um des deutschen Volkes und des deutschen Geschmacks
willen niemals zu der Behauptung bereit finden lassen, daß das geistige
Berlin, das Berlin der Kunst und Litteratur, so wie es sich heute darstellt,
der berechtigte Vertreter ganz Deutschlands zu heißen verdiene."

Die Grenzboten haben wiederholt auf die betrübende Thatsache hingewiesen,
daß sich unsre schöngeistige Litteratur infolge des Berliner Einflusses fort¬
während in absteigender Linie bewegt trotz der überall üppig emporwuchernden
Zeitschriften, trotz der stetig wachsenden Flut novellistischer Erzeugnisse,
trotz der sich förmlich drängenden, mit allem Pathos und aller Selbst-
berüucherung abgehaltenen Schriftstellertage. Von einer auf deutschem
Denken und Empfinden ruhenden Selbständigkeit des litterarischen Schaffens
ist schon lange keine Spur mehr zu finden. Eine nationale Überlieferung
giebt es hier überhaupt uicht mehr. Der feste Boden, den frühere
Geister geschaffen haben, und der unter kundigen Händen viele urwüchsige
und eigenartige Stämme hätte hervorbringen können, liegt brach, öde
oder versandet da. Auf neugewählten, verfliegenden Dünensande oder
schwankendem Moorgrunde glaubt man mit seiner Kunst selbständiger zu sein,
ein leichteres Spiel zu haben und fruchtbarer zu schaffen. Und welches Bild
bietet sich nun dem Beobachter dar! Nach Norden und Süden, nach Osten
und Westen sieht man diese Schriftsteller ängstlich greifen: bei allen Nationen
sieht man sie unstet umherschweifen, und überall sammeln und suchen sie im
Ausland Anregungen, Stimmungen, Probleme, geistige und seelische Verir-
rungen, neue "Dokumente des Menschengeschlechts," um ihre ohnmächtige
Phantasie immer von neuem künstlich aufzureizen. Bald hängen sie sich an
die Thranjolle der Norweger, bald schleppen sie sich durch die dumpfe Wutki-
luft der Russen, bald klammern sie sich an die Mistkarre der Franzosen. Je
schwüler und verdächtiger die Atmosphäre ist, desto fieberhafter arbeitet die Ein¬
bildungskraft, desto sicherer und effektvoller werden noch halbwegs gesunde Zu¬
stände zu krankhaften umgewandelt, desto gelassener und behaglicher werden selbst
die widerwärtigsten Dinge in das harmlose Gewand der Familienerzählnngen
gekleidet. Man weiß in der That nicht, worüber man sich mehr wundern
soll, über die Geschmack- und Gedankenlosigkeit der Leser, die derartige litte¬
rarische Kost ohne Widerwillen einnehmen, oder über den Unverstand und die
Urteilslosigkeit der Redaktionen, die solches Zeug abdrucken und ihren Lesern
vorsetzen.


Grenzboten I 1892 19
Berlin die Stimme Deutschlands?

nicht bange, daß es Ernst damit werden möchte. Unser deutsches Stammes¬
gefühl ist allzu mächtig, wir werden uns einer ästhetischen Suprematie nie¬
mals unterwerfen, die schließlich dahin führt, daß nicht mehr die deutsche
Nation über Werke des Genius ihren Spruch füllt, sondern eine aus sehr
zweifelhaften Elementen zusammengewehte üppige Gesellschaft." Ähnlich urteilt
Friedrich Lange, einer von den wenigen unabhängigen Berliner Schriftstellern:
„Ich werde mich um des deutschen Volkes und des deutschen Geschmacks
willen niemals zu der Behauptung bereit finden lassen, daß das geistige
Berlin, das Berlin der Kunst und Litteratur, so wie es sich heute darstellt,
der berechtigte Vertreter ganz Deutschlands zu heißen verdiene."

Die Grenzboten haben wiederholt auf die betrübende Thatsache hingewiesen,
daß sich unsre schöngeistige Litteratur infolge des Berliner Einflusses fort¬
während in absteigender Linie bewegt trotz der überall üppig emporwuchernden
Zeitschriften, trotz der stetig wachsenden Flut novellistischer Erzeugnisse,
trotz der sich förmlich drängenden, mit allem Pathos und aller Selbst-
berüucherung abgehaltenen Schriftstellertage. Von einer auf deutschem
Denken und Empfinden ruhenden Selbständigkeit des litterarischen Schaffens
ist schon lange keine Spur mehr zu finden. Eine nationale Überlieferung
giebt es hier überhaupt uicht mehr. Der feste Boden, den frühere
Geister geschaffen haben, und der unter kundigen Händen viele urwüchsige
und eigenartige Stämme hätte hervorbringen können, liegt brach, öde
oder versandet da. Auf neugewählten, verfliegenden Dünensande oder
schwankendem Moorgrunde glaubt man mit seiner Kunst selbständiger zu sein,
ein leichteres Spiel zu haben und fruchtbarer zu schaffen. Und welches Bild
bietet sich nun dem Beobachter dar! Nach Norden und Süden, nach Osten
und Westen sieht man diese Schriftsteller ängstlich greifen: bei allen Nationen
sieht man sie unstet umherschweifen, und überall sammeln und suchen sie im
Ausland Anregungen, Stimmungen, Probleme, geistige und seelische Verir-
rungen, neue „Dokumente des Menschengeschlechts," um ihre ohnmächtige
Phantasie immer von neuem künstlich aufzureizen. Bald hängen sie sich an
die Thranjolle der Norweger, bald schleppen sie sich durch die dumpfe Wutki-
luft der Russen, bald klammern sie sich an die Mistkarre der Franzosen. Je
schwüler und verdächtiger die Atmosphäre ist, desto fieberhafter arbeitet die Ein¬
bildungskraft, desto sicherer und effektvoller werden noch halbwegs gesunde Zu¬
stände zu krankhaften umgewandelt, desto gelassener und behaglicher werden selbst
die widerwärtigsten Dinge in das harmlose Gewand der Familienerzählnngen
gekleidet. Man weiß in der That nicht, worüber man sich mehr wundern
soll, über die Geschmack- und Gedankenlosigkeit der Leser, die derartige litte¬
rarische Kost ohne Widerwillen einnehmen, oder über den Unverstand und die
Urteilslosigkeit der Redaktionen, die solches Zeug abdrucken und ihren Lesern
vorsetzen.


Grenzboten I 1892 19
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[0153] Berlin die Stimme Deutschlands? nicht bange, daß es Ernst damit werden möchte. Unser deutsches Stammes¬ gefühl ist allzu mächtig, wir werden uns einer ästhetischen Suprematie nie¬ mals unterwerfen, die schließlich dahin führt, daß nicht mehr die deutsche Nation über Werke des Genius ihren Spruch füllt, sondern eine aus sehr zweifelhaften Elementen zusammengewehte üppige Gesellschaft." Ähnlich urteilt Friedrich Lange, einer von den wenigen unabhängigen Berliner Schriftstellern: „Ich werde mich um des deutschen Volkes und des deutschen Geschmacks willen niemals zu der Behauptung bereit finden lassen, daß das geistige Berlin, das Berlin der Kunst und Litteratur, so wie es sich heute darstellt, der berechtigte Vertreter ganz Deutschlands zu heißen verdiene." Die Grenzboten haben wiederholt auf die betrübende Thatsache hingewiesen, daß sich unsre schöngeistige Litteratur infolge des Berliner Einflusses fort¬ während in absteigender Linie bewegt trotz der überall üppig emporwuchernden Zeitschriften, trotz der stetig wachsenden Flut novellistischer Erzeugnisse, trotz der sich förmlich drängenden, mit allem Pathos und aller Selbst- berüucherung abgehaltenen Schriftstellertage. Von einer auf deutschem Denken und Empfinden ruhenden Selbständigkeit des litterarischen Schaffens ist schon lange keine Spur mehr zu finden. Eine nationale Überlieferung giebt es hier überhaupt uicht mehr. Der feste Boden, den frühere Geister geschaffen haben, und der unter kundigen Händen viele urwüchsige und eigenartige Stämme hätte hervorbringen können, liegt brach, öde oder versandet da. Auf neugewählten, verfliegenden Dünensande oder schwankendem Moorgrunde glaubt man mit seiner Kunst selbständiger zu sein, ein leichteres Spiel zu haben und fruchtbarer zu schaffen. Und welches Bild bietet sich nun dem Beobachter dar! Nach Norden und Süden, nach Osten und Westen sieht man diese Schriftsteller ängstlich greifen: bei allen Nationen sieht man sie unstet umherschweifen, und überall sammeln und suchen sie im Ausland Anregungen, Stimmungen, Probleme, geistige und seelische Verir- rungen, neue „Dokumente des Menschengeschlechts," um ihre ohnmächtige Phantasie immer von neuem künstlich aufzureizen. Bald hängen sie sich an die Thranjolle der Norweger, bald schleppen sie sich durch die dumpfe Wutki- luft der Russen, bald klammern sie sich an die Mistkarre der Franzosen. Je schwüler und verdächtiger die Atmosphäre ist, desto fieberhafter arbeitet die Ein¬ bildungskraft, desto sicherer und effektvoller werden noch halbwegs gesunde Zu¬ stände zu krankhaften umgewandelt, desto gelassener und behaglicher werden selbst die widerwärtigsten Dinge in das harmlose Gewand der Familienerzählnngen gekleidet. Man weiß in der That nicht, worüber man sich mehr wundern soll, über die Geschmack- und Gedankenlosigkeit der Leser, die derartige litte¬ rarische Kost ohne Widerwillen einnehmen, oder über den Unverstand und die Urteilslosigkeit der Redaktionen, die solches Zeug abdrucken und ihren Lesern vorsetzen. Grenzboten I 1892 19

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/153>, abgerufen am 17.06.2024.