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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches "ut Unmaßgebliches

Es ist tieftraurig, zu sehen, in wessen Händen sich die Pflege unsrer
Litteratur befindet, aber noch betrübender ist die Wahrnehmung, daß sich unsre
gebildeten Männer immer mehr von ihr zurückziehen und mit den Dichtungen
der Gegenwart nichts mehr zu schaffen haben wollen, weil ihnen die Schrift¬
steller zuwider sind. Man sollte doch bedenken, daß ein Geschlecht, das für
sein geistiges und seelisches Leben keinen dichterischen Ausdruck zu finden ver¬
mag, im Strome der Geschichte verschwindet, und daß keine Staatsaktionen,
keine Schlachten und Eroberungen es vor diesem Schicksal bewahren können.
Es steckt in unsern höhern Beamten, in unsern Offizieren und Landwirten so
viel gesundes Urteil, so viel seiner litterarischer Geschmack, so viel schöpferischer
Geist; warum greifen sie nicht ordnend und fordernd, ermunternd und verur¬
teilend in die Litteratur der Gegenwart ein? Die Nachwelt würde ihnen
Dank zollen, wenn sie das geistige Erbe unsrer Väter als ein heiliges Besitz¬
tum unsers Volkes hochzuhalten verstünden. Wir haben in Deutschland so
viele Fürsten, warum nimmt sich keiner des armen Aschenbrödels an, warum
gehen sie alle naserümvfend an ihm vorüber? Wahrlich, wir sind eine be¬
klagenswerte Nation!




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Zweierlei Maß.

Wenn sich die Partei, die sich in ihrer rühmenswerten
Bescheidenheit als die "freisinnige" bezeichnet, im Gegensähe zur Negierung be¬
findet und gegen deren Vorlagen redet und stimmt, dann beweist sie damit Charakter¬
festigkeit, Gesinnungstüchtigkeit und "Männerstolz vor Königsthronen." Wer in
solchem Falle mit der Regierung geht, giebt die Rechte des Volkes preis, ist ein
"liebedienerischer," "serviler" Streber, macht sich des Byzantinismus schuldig,
oder wie sonst die urdeutschen Worte heißen mögen, mit denen eine gänzlich un¬
deutsche Presse Eigenschaften bezeichnet, die dem deutschen Wesen fremd sind.
Wenn aber, wie in den Handelsverträgen, Männer der konservativen Partei, die
ebenso das Recht wie die Pflicht haben, den ihnen schädlich erscheinenden Vorlagen
der Regierung zu widersprechen, es wagen, dieses Recht und diese Pflicht auszu¬
üben, dann bezeichnet dieselbe Presse, wenn sie die Vorlagen der Regierung gut¬
heißt, jene Männer, die ehrlich nach ihrer besten Überzeugung handeln, mit dem
verächtlichen Namen der "Fronde." Diese Presse, die sich selbst frei von allen
Vorurteilen dünkt, ist außer stände, auch nur das erste Vorurteil zu überwinden,
sie achtet nicht einmal die ehrliche Überzeugung des Gegners. Wären unsre Zu¬
stände gesund, dann wäre eine solche Behandlung politischer Gegner nicht denkbar,
oder sie würde doch wenigstens, wenn sie sich hervorwngen sollte, von der Ent¬
rüstung des ganzen Volkes hinweggefegt werden. Was aber geschieht bei uns?


Maßgebliches »ut Unmaßgebliches

Es ist tieftraurig, zu sehen, in wessen Händen sich die Pflege unsrer
Litteratur befindet, aber noch betrübender ist die Wahrnehmung, daß sich unsre
gebildeten Männer immer mehr von ihr zurückziehen und mit den Dichtungen
der Gegenwart nichts mehr zu schaffen haben wollen, weil ihnen die Schrift¬
steller zuwider sind. Man sollte doch bedenken, daß ein Geschlecht, das für
sein geistiges und seelisches Leben keinen dichterischen Ausdruck zu finden ver¬
mag, im Strome der Geschichte verschwindet, und daß keine Staatsaktionen,
keine Schlachten und Eroberungen es vor diesem Schicksal bewahren können.
Es steckt in unsern höhern Beamten, in unsern Offizieren und Landwirten so
viel gesundes Urteil, so viel seiner litterarischer Geschmack, so viel schöpferischer
Geist; warum greifen sie nicht ordnend und fordernd, ermunternd und verur¬
teilend in die Litteratur der Gegenwart ein? Die Nachwelt würde ihnen
Dank zollen, wenn sie das geistige Erbe unsrer Väter als ein heiliges Besitz¬
tum unsers Volkes hochzuhalten verstünden. Wir haben in Deutschland so
viele Fürsten, warum nimmt sich keiner des armen Aschenbrödels an, warum
gehen sie alle naserümvfend an ihm vorüber? Wahrlich, wir sind eine be¬
klagenswerte Nation!




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Zweierlei Maß.

Wenn sich die Partei, die sich in ihrer rühmenswerten
Bescheidenheit als die „freisinnige" bezeichnet, im Gegensähe zur Negierung be¬
findet und gegen deren Vorlagen redet und stimmt, dann beweist sie damit Charakter¬
festigkeit, Gesinnungstüchtigkeit und „Männerstolz vor Königsthronen." Wer in
solchem Falle mit der Regierung geht, giebt die Rechte des Volkes preis, ist ein
„liebedienerischer," „serviler" Streber, macht sich des Byzantinismus schuldig,
oder wie sonst die urdeutschen Worte heißen mögen, mit denen eine gänzlich un¬
deutsche Presse Eigenschaften bezeichnet, die dem deutschen Wesen fremd sind.
Wenn aber, wie in den Handelsverträgen, Männer der konservativen Partei, die
ebenso das Recht wie die Pflicht haben, den ihnen schädlich erscheinenden Vorlagen
der Regierung zu widersprechen, es wagen, dieses Recht und diese Pflicht auszu¬
üben, dann bezeichnet dieselbe Presse, wenn sie die Vorlagen der Regierung gut¬
heißt, jene Männer, die ehrlich nach ihrer besten Überzeugung handeln, mit dem
verächtlichen Namen der „Fronde." Diese Presse, die sich selbst frei von allen
Vorurteilen dünkt, ist außer stände, auch nur das erste Vorurteil zu überwinden,
sie achtet nicht einmal die ehrliche Überzeugung des Gegners. Wären unsre Zu¬
stände gesund, dann wäre eine solche Behandlung politischer Gegner nicht denkbar,
oder sie würde doch wenigstens, wenn sie sich hervorwngen sollte, von der Ent¬
rüstung des ganzen Volkes hinweggefegt werden. Was aber geschieht bei uns?


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[0154] Maßgebliches »ut Unmaßgebliches Es ist tieftraurig, zu sehen, in wessen Händen sich die Pflege unsrer Litteratur befindet, aber noch betrübender ist die Wahrnehmung, daß sich unsre gebildeten Männer immer mehr von ihr zurückziehen und mit den Dichtungen der Gegenwart nichts mehr zu schaffen haben wollen, weil ihnen die Schrift¬ steller zuwider sind. Man sollte doch bedenken, daß ein Geschlecht, das für sein geistiges und seelisches Leben keinen dichterischen Ausdruck zu finden ver¬ mag, im Strome der Geschichte verschwindet, und daß keine Staatsaktionen, keine Schlachten und Eroberungen es vor diesem Schicksal bewahren können. Es steckt in unsern höhern Beamten, in unsern Offizieren und Landwirten so viel gesundes Urteil, so viel seiner litterarischer Geschmack, so viel schöpferischer Geist; warum greifen sie nicht ordnend und fordernd, ermunternd und verur¬ teilend in die Litteratur der Gegenwart ein? Die Nachwelt würde ihnen Dank zollen, wenn sie das geistige Erbe unsrer Väter als ein heiliges Besitz¬ tum unsers Volkes hochzuhalten verstünden. Wir haben in Deutschland so viele Fürsten, warum nimmt sich keiner des armen Aschenbrödels an, warum gehen sie alle naserümvfend an ihm vorüber? Wahrlich, wir sind eine be¬ klagenswerte Nation! Maßgebliches und Unmaßgebliches Zweierlei Maß. Wenn sich die Partei, die sich in ihrer rühmenswerten Bescheidenheit als die „freisinnige" bezeichnet, im Gegensähe zur Negierung be¬ findet und gegen deren Vorlagen redet und stimmt, dann beweist sie damit Charakter¬ festigkeit, Gesinnungstüchtigkeit und „Männerstolz vor Königsthronen." Wer in solchem Falle mit der Regierung geht, giebt die Rechte des Volkes preis, ist ein „liebedienerischer," „serviler" Streber, macht sich des Byzantinismus schuldig, oder wie sonst die urdeutschen Worte heißen mögen, mit denen eine gänzlich un¬ deutsche Presse Eigenschaften bezeichnet, die dem deutschen Wesen fremd sind. Wenn aber, wie in den Handelsverträgen, Männer der konservativen Partei, die ebenso das Recht wie die Pflicht haben, den ihnen schädlich erscheinenden Vorlagen der Regierung zu widersprechen, es wagen, dieses Recht und diese Pflicht auszu¬ üben, dann bezeichnet dieselbe Presse, wenn sie die Vorlagen der Regierung gut¬ heißt, jene Männer, die ehrlich nach ihrer besten Überzeugung handeln, mit dem verächtlichen Namen der „Fronde." Diese Presse, die sich selbst frei von allen Vorurteilen dünkt, ist außer stände, auch nur das erste Vorurteil zu überwinden, sie achtet nicht einmal die ehrliche Überzeugung des Gegners. Wären unsre Zu¬ stände gesund, dann wäre eine solche Behandlung politischer Gegner nicht denkbar, oder sie würde doch wenigstens, wenn sie sich hervorwngen sollte, von der Ent¬ rüstung des ganzen Volkes hinweggefegt werden. Was aber geschieht bei uns?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/154>, abgerufen am 27.05.2024.