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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Der Unbegriff eines Gesamtwillens, der etwas andres sein soll als eine
Summe von gleichartigen Einzelwillen, entspringt ans der Abneigung Wundes
gegen den "Seelenntomismus." Wie die einzelnen seelischen Thätigkeiten, sagt
er, ,,Borstellen, Fühlen, Wollen, nur dnrch unsre Abstraktion getrennt werden
können, an sich selbst aber unteilbare Elemente des geistigen Lebens sind, so
ist' auch die Unterscheidung einer von dem Bewußtseinsinhalt verschiednett
Seele nur die Umwandlung des leeren Begriffs der Vereinigung und des
stetigen Zusammenhangs der geistigen Thätigkeiten in ein reales Substrat.
Dieses letztere ist in der That genau ebenso wenig ein selbständig in irgend
einer Erfahrung gegebnes oder durch dieselbe gefordertes Ding, wie Vorstel¬
lung, Wille, Gefühl selbständige Dinge sind." Nicht die Erfahrung, wohl
aber unsre Vernunft fordert ein "reales Substrat," d. h. fordert, daß überall,
wo Thätigkeiten wahrgenommen werden, auch jemand oder etwas da sein
müsse, der oder das diese Thätigkeiten verrichtet. Und wenn nun dieser jemand
keine Einzelseele sein soll, so muß es wohl eine in allen einzelnen Leibern zu¬
gleich wirkende Universalseele sein. Wundes eigentliche Meinung von der Sache
ist nicht leicht zu erkennen; vielleicht dürfen wir sie in dem Satze findein
,,Gott ist dem religiösen Bewußtsein der schöpferische Weltwille, als solcher
aber ist er notwendig Jndividualwille und Gesamtwille zugleich." Wir können
hier seinen Bemühungen, bei solcher Anschauung doch die Persönlichkeit des
einzelnen zu retten, nicht weiter nachgehen, sondern heben nur noch einen ein¬
zelnen Fall heraus, aus den er seine Lehre von einem Gesamtwillen, oder was
so ziemlich dasselbe ist, einer Gesamtpersönlichkeit anwendet. ,,Jn der nicht
auf bestimmte Einzelzwecke beschränkten Richtung seiner Thätigkeit und in der
Autonomie seines Wollens findet der Staat sein Gegenbild nur in der Einzel¬
persönlichkeit. Da aber diese beiden Eigenschaften der Unbeschränktheit der
Zwecke und der Willensautvnomie als die wesentlichen Kennzeichen des Be¬
griffs der Person angesehen werden können, so besitzt der Staat den Charakter
einer Gesamtpersönlichkeit. Unter allen Verbänden der einzelnen ist er der ein¬
zige, dein dieser Charakter zugeschrieben werden kann." Wir brauchen wohl
kaum zu bemerken, daß hier nicht etwa dasselbe gemeint ist, was der Fach¬
ausdruck "juristische Person" bezeichnet. In jenem höhern Sinne aber, den
Wunde meint, können wir nicht ohne weiteres zugeben, daß dem Staate, und
ihm allein unter allen Vereinigungen von Menschen, der Charakter der Ge-
samtpersönlichkeit zukomme. Der Staat Ludwigs des Vierzehnten und der
Staat Friedrichs des Großen waren wirklich Persönlichkeiten, aus dem einfachen
Grunde, weil in beiden Fällen eine einzelne Persönlichkeit statt aller andern
dachte und wollte, alle übrigen Persönlichkeiten aber dort nnr als Zieraten,
hier nur als ausführende Werkzeuge des einen Herrscherwillens für den Staat
in Betracht kamen. Als dritten Fall könnte man etwa noch das erste Kaiser¬
reich in Frankreich nennen. In allen andern Fällen, wo es eine starke Per-


Der Unbegriff eines Gesamtwillens, der etwas andres sein soll als eine
Summe von gleichartigen Einzelwillen, entspringt ans der Abneigung Wundes
gegen den „Seelenntomismus." Wie die einzelnen seelischen Thätigkeiten, sagt
er, ,,Borstellen, Fühlen, Wollen, nur dnrch unsre Abstraktion getrennt werden
können, an sich selbst aber unteilbare Elemente des geistigen Lebens sind, so
ist' auch die Unterscheidung einer von dem Bewußtseinsinhalt verschiednett
Seele nur die Umwandlung des leeren Begriffs der Vereinigung und des
stetigen Zusammenhangs der geistigen Thätigkeiten in ein reales Substrat.
Dieses letztere ist in der That genau ebenso wenig ein selbständig in irgend
einer Erfahrung gegebnes oder durch dieselbe gefordertes Ding, wie Vorstel¬
lung, Wille, Gefühl selbständige Dinge sind." Nicht die Erfahrung, wohl
aber unsre Vernunft fordert ein „reales Substrat," d. h. fordert, daß überall,
wo Thätigkeiten wahrgenommen werden, auch jemand oder etwas da sein
müsse, der oder das diese Thätigkeiten verrichtet. Und wenn nun dieser jemand
keine Einzelseele sein soll, so muß es wohl eine in allen einzelnen Leibern zu¬
gleich wirkende Universalseele sein. Wundes eigentliche Meinung von der Sache
ist nicht leicht zu erkennen; vielleicht dürfen wir sie in dem Satze findein
,,Gott ist dem religiösen Bewußtsein der schöpferische Weltwille, als solcher
aber ist er notwendig Jndividualwille und Gesamtwille zugleich." Wir können
hier seinen Bemühungen, bei solcher Anschauung doch die Persönlichkeit des
einzelnen zu retten, nicht weiter nachgehen, sondern heben nur noch einen ein¬
zelnen Fall heraus, aus den er seine Lehre von einem Gesamtwillen, oder was
so ziemlich dasselbe ist, einer Gesamtpersönlichkeit anwendet. ,,Jn der nicht
auf bestimmte Einzelzwecke beschränkten Richtung seiner Thätigkeit und in der
Autonomie seines Wollens findet der Staat sein Gegenbild nur in der Einzel¬
persönlichkeit. Da aber diese beiden Eigenschaften der Unbeschränktheit der
Zwecke und der Willensautvnomie als die wesentlichen Kennzeichen des Be¬
griffs der Person angesehen werden können, so besitzt der Staat den Charakter
einer Gesamtpersönlichkeit. Unter allen Verbänden der einzelnen ist er der ein¬
zige, dein dieser Charakter zugeschrieben werden kann." Wir brauchen wohl
kaum zu bemerken, daß hier nicht etwa dasselbe gemeint ist, was der Fach¬
ausdruck „juristische Person" bezeichnet. In jenem höhern Sinne aber, den
Wunde meint, können wir nicht ohne weiteres zugeben, daß dem Staate, und
ihm allein unter allen Vereinigungen von Menschen, der Charakter der Ge-
samtpersönlichkeit zukomme. Der Staat Ludwigs des Vierzehnten und der
Staat Friedrichs des Großen waren wirklich Persönlichkeiten, aus dem einfachen
Grunde, weil in beiden Fällen eine einzelne Persönlichkeit statt aller andern
dachte und wollte, alle übrigen Persönlichkeiten aber dort nnr als Zieraten,
hier nur als ausführende Werkzeuge des einen Herrscherwillens für den Staat
in Betracht kamen. Als dritten Fall könnte man etwa noch das erste Kaiser¬
reich in Frankreich nennen. In allen andern Fällen, wo es eine starke Per-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/119>, abgerufen am 20.05.2024.