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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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wundes Ethik

fortlebten unternahm, alle andern Persönlichkeiten im Staate zu verschlingen
lind mit sich zu verschmelzen, ist der Versuch gescheitert. Wie weit seh" sich
die meisten Staaten von der "Unbeschränktheit der Zwecke" entfernt! Wie steht
es mit der ,,Willensautvnvmie," wenn der Staat, wie die jetzige französische
Republik, zum Kommis einer Rothschildgrnppe herabsinkt? Und wie steht es
mit der Willenseinheit im heutigen deutschen Reiche, wo augenblicklich über¬
haupt kein Wille mehr zum Vorschein kommt, möglicherweise sich aber nächstens
ein Dutzend verschiedner Willen teils von "verbündeten Regierungen," teils
von Ministern oder Parteiführern geltend macheu wird? Weit häufiger kommt
es vor, daß ein Volk, z. B. in einem Befreiungskampfe, durchaus den Cha¬
rakter einer Persönlichkeit annimmt, wie ein Mann denkt, will und handelt.
Auch manche Verbände im Staate, bei uns am ehesten das Heer und die
Reichspost, könnte man als Gesamtpersönlichkeiten bezeichnen. Der Staat als
Gesamtperson ist ein Ideal. Ob es in andrer Gestalt als in der des friderizia-
nischen Absolutismus verwirklicht werden könne, wissen wir nicht; in Altrom,
in Venedig war es doch immer nur eine kleine Anzahl von Menschen, die
den Staat ausmachte und dein Volke ihren "Gesamtwilleu" aufzwang; wir
wollten nur daran erinnern, wie weit die Wirklichkeit vom Ideal entfernt sei.
Übrigens enthält der Abschnitt über den Willen eine prächtige Widerlegung
des Materialismus (S. 467--477).

Auf manche der Gedanken, die Wundt in diesem Werke niedergelegt hat,
namentlich auf die sozialpolitischen, werden wir vielleicht gelegentlich noch zurück¬
kommen. Heute wollen wir nur noch ein paar Stäubchen abblasen. Trotz
sorgfältiger Korrektur ist S. 273 Z. !1 von oben "natürlich" für "nützlich"
stehen geblieben. Den Eindruck des vornehmen Stils stört hie und da eine
kleine Nachlässigkeit, z. B. S. 370: "Der auf Kant gefvlgte j!j deutsche Idea¬
lismus." Eine spaßhafte Verwechslung liegt vor in dem "Sankt Nepomuk,
der den Reichen das Leder stiehlt, aus dem er für Arme Schuhe macht,"
S. 549. Es ist der gute Krispin, ein unbedeutender Märtyrer des dritten
Jahrhunderts, von dem diese Legende erzählt wird. Endlich erlauben wir uns
noch, eine Unterlassung zu bedauern, die leicht als absichtliche Ungerechtigkeit
gedeutet werden könnte: Ednard von Hartmann, dessen wertvolle ethische Stu¬
dien sich mit denen Wundes vielfach berühre", wird kein einzigesmal erwähnt.




wundes Ethik

fortlebten unternahm, alle andern Persönlichkeiten im Staate zu verschlingen
lind mit sich zu verschmelzen, ist der Versuch gescheitert. Wie weit seh» sich
die meisten Staaten von der „Unbeschränktheit der Zwecke" entfernt! Wie steht
es mit der ,,Willensautvnvmie," wenn der Staat, wie die jetzige französische
Republik, zum Kommis einer Rothschildgrnppe herabsinkt? Und wie steht es
mit der Willenseinheit im heutigen deutschen Reiche, wo augenblicklich über¬
haupt kein Wille mehr zum Vorschein kommt, möglicherweise sich aber nächstens
ein Dutzend verschiedner Willen teils von „verbündeten Regierungen," teils
von Ministern oder Parteiführern geltend macheu wird? Weit häufiger kommt
es vor, daß ein Volk, z. B. in einem Befreiungskampfe, durchaus den Cha¬
rakter einer Persönlichkeit annimmt, wie ein Mann denkt, will und handelt.
Auch manche Verbände im Staate, bei uns am ehesten das Heer und die
Reichspost, könnte man als Gesamtpersönlichkeiten bezeichnen. Der Staat als
Gesamtperson ist ein Ideal. Ob es in andrer Gestalt als in der des friderizia-
nischen Absolutismus verwirklicht werden könne, wissen wir nicht; in Altrom,
in Venedig war es doch immer nur eine kleine Anzahl von Menschen, die
den Staat ausmachte und dein Volke ihren „Gesamtwilleu" aufzwang; wir
wollten nur daran erinnern, wie weit die Wirklichkeit vom Ideal entfernt sei.
Übrigens enthält der Abschnitt über den Willen eine prächtige Widerlegung
des Materialismus (S. 467—477).

Auf manche der Gedanken, die Wundt in diesem Werke niedergelegt hat,
namentlich auf die sozialpolitischen, werden wir vielleicht gelegentlich noch zurück¬
kommen. Heute wollen wir nur noch ein paar Stäubchen abblasen. Trotz
sorgfältiger Korrektur ist S. 273 Z. !1 von oben „natürlich" für „nützlich"
stehen geblieben. Den Eindruck des vornehmen Stils stört hie und da eine
kleine Nachlässigkeit, z. B. S. 370: „Der auf Kant gefvlgte j!j deutsche Idea¬
lismus." Eine spaßhafte Verwechslung liegt vor in dem „Sankt Nepomuk,
der den Reichen das Leder stiehlt, aus dem er für Arme Schuhe macht,"
S. 549. Es ist der gute Krispin, ein unbedeutender Märtyrer des dritten
Jahrhunderts, von dem diese Legende erzählt wird. Endlich erlauben wir uns
noch, eine Unterlassung zu bedauern, die leicht als absichtliche Ungerechtigkeit
gedeutet werden könnte: Ednard von Hartmann, dessen wertvolle ethische Stu¬
dien sich mit denen Wundes vielfach berühre«, wird kein einzigesmal erwähnt.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/120>, abgerufen am 09.05.2024.